Zur trügerischen „Effizienz“ der undemokratischen Regime – eine historische Betrachtung aus aktuellem Anlass
Noch vor kurzem galten solche autoritären Regime wie das chinesische oder das Putinsche in den Augen mancher Beobachter als stabiler und effizienter denn die krisengeschüttelten pluralistischen Gemeinwesen. Protestdemonstrationen im russischen Fernen Osten und in Hongkong, empörte Reaktionen in West und Ost auf den Giftanschlag auf Alexej Nawalny und vieles mehr zeigen indes, dass die angebliche Stabilität der autoritären Regime trügerisch ist. Auf akute Krisen reagieren sie keineswegs effizienter als dies die Demokratien tun. Diese Erfahrung ist bekanntlich nicht neu. Schon mehrmals in der Vergangenheit haben sich die Gegner der „offenen Gesellschaften“ als „Krisenmanager“ angeboten. Die von ihnen vorgeschlagenen und angewandten „Lösungen“, sollten sich aber bald als Scheinlösungen erweisen.
Die Weltfinanzkrise von 2008 und ihre Folgen
Im Herbst 2008, als die Weltfinanzkrise viele westliche Staaten erschütterte, fühlten sich manche Analytiker an die Weltwirtschaftskrise von 1929 erinnert und äußerten ihre Zweifel an der Fähigkeit der pluralistischen Gesellschaften derartige Krisen zu lösen. Sie schwärmten von der angeblichen Krisenfestigkeit der autoritär regierten Staaten. Einer von ihnen, der deutsche Publizist Rudolf Maresch, dem die wirtschaftlichen Erfolge des kommunistischen China außerordentlich imponierten, fragte sogar, ob die liberale bzw. parlamentarische Demokratie vielleicht ein Auslaufmodell sei.
Identitätskrisen der parlamentarischen Demokratien
Diese Worte rufen einen Déjà-vu-Effekt hervor, denn die pluralistischen bzw. partizipatorischen Systeme wurden bereits oft zu Grabe getragen. Immer wieder wurden Versuche unternommen, diese Systeme durch angeblich effizientere Herrschaftsmodelle abzulösen, mit jeweils katastrophalen Folgen für die Betroffenen.
Die gegenwärtige Identitätskrise der „offenen Gesellschaften“ lässt sich sicher besser einordnen und verstehen, wenn man sie mit früheren Erschütterungen vergleichen würde. Besonders aufschlussreich scheint mir in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit der Krise der parlamentarischen Systeme und des liberalen Gedankenguts zu Beginn des letzten Jahrhunderts.
Diese Krise war mit einer zunehmenden Skepsis maßgeblicher intellektueller Kreise des Westens gegenüber dem positivistischen Fortschritts- und Wissenschaftsglauben und gegenüber rationalistischen Denkmodellen verknüpft. Industrialisierung, Urbanisierung und Demokratisierung der westlichen Gesellschaften erreichten damals bereits solche Ausmaße, dass viele Gruppierungen an ihrem Sinn zu zweifeln begannen. Der liberale Staat war ihrer Ansicht nach nicht imstande, auf die Herausforderungen der Moderne adäquat zu reagieren. Es begann eine Suche nach Alternativen zum parlamentarischen System, das Streben nach einer Erneuerung bzw. Revitalisierung der herrschenden Eliten (Vilfredo Pareto). Die für das liberale Zeitalter charakteristische Suche nach Kompromissen mit innenpolitischen Gegnern lehnten die Kritiker des Parlamentarismus und Liberalismus rundweg ab. Sie plädierten für dezisionistische Lösungen, für die Ausschaltung des politischen Gegners, wenn nötig auch mit Hilfe der „direkten Gewalt“. Zu einer der größten Gefahren für die bestehende Ordnung wurde nun von vielen radikalen Kritikern des Liberalismus der sog. „Aufstand der Massen“ stilisiert. Für die gefährlichste Ausformung dieses Aufstandes hielten sie die organisierte Arbeiterbewegung. Um dieser von unten drohenden Gefahr zu begegnen, wollten manche antiliberale Gruppierungen die herkömmlichen Moralbegriffe revidieren. Mitleid mit den Schwachen hielten sie für eine überholte Forderung. Sie idealisierten die Gesetze der biologischen Natur und versuchten das in der Natur herrschende Recht des Stärkeren auf die Gesellschaft zu übertragen. Nach dem Ersten Weltkrieg erreichten die hier beschriebenen Tendenzen eine qualitativ neue Dimension, denn den Gegnern des liberal-demokratischen Systems gelang es, vor allem in Italien und in Deutschland, breite Bevölkerungsschichten für ihre Programme zu gewinnen. Dadurch vermochten sie die parlamentarische Demokratie mit ihren eigenen Waffen (vor allem Rede- und Versammlungsfreiheit) zu schlagen.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 versetzte dem liberalen Denkmodell einen besonders empfindlichen Schlag. Der Glaube an die Selbstregulierungsfähigkeit des liberalen Systems ging verloren. Das freie Spiel der Kräfte und das Prinzip der Konkurrenz waren nicht imstande, ein wirtschaftliches Debakel beispielloser Art zu verhindern. So hatte der liberale Staat in Deutschland zu Beginn der 1930er Jahre, ähnlich wie zehn Jahre zuvor in Italien, so gut wie keine Verteidiger mehr.
Die Sehnsucht nach einem „charismatischen Führer“
Den politischen Parteien im demokratischen Staat warfen die Kritiker des Parlamentarismus schrankenlosen Egoismus vor. Für den deutschen Rechtsgelehrten Carl Schmitt, der viel zur geistigen Aushöhlung der Weimarer Republik beigetragen hatte, war der liberal-demokratische Staat im Grunde kein Staat mehr. Schmitt meinte, hier bemächtigten sich einzelne Segmente der Gesellschaft (Parteien, Interessenverbände usw.) der Staatsgewalt und missbrauchten sie ausschließlich für ihre jeweiligen Interessen. Der Staat als Verkörperung der Allgemeinheit werde in den liberalen Demokratien praktisch abgeschafft. Nicht zuletzt unter dem Einfluss solcher Argumente sehnten sich viele Kritiker der parlamentarischen Demokratie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts nach einem charismatischen Führer, der die Herrschaft der „unpersönlichen“ parlamentarischen Institutionen durch die Herrschaft des Willens ersetzen sollte. Die Folgen dieser Sehnsucht nach einem „Cäsar“, nach einem Führer, der schnelle Entscheidungen ohne Rücksicht auf die sich zankenden politischen Parteien und Parlamentsfraktionen treffen könne, sind bekannt. Zunächst in Italien und dann in Deutschland wurden anstelle der vielgescholtenen liberalen Systeme scheinbar vitale und „effiziente“ Führerregime, also Willkürstaaten errichtet.
Einige Verächter der parlamentarischen Demokratie wandten sich dann mit Schrecken von den Systemen ab, die auf deren Trümmern errichtet wurden. Zu ihnen zählte auch der „nationalbolschewistische“ Publizist Ernst Niekisch. 1936 schrieb er über die fatalen Folgen der Führersehnsucht mancher bürgerlicher Kreise Deutschlands:
„(Sie) waren der Herrschaft des unpersönlichen Gesetzes überdrüssig und verachteten die Freiheit, die diese gewährt; sie wollten … einer persönlichen Autorität, einem Diktator, einem Führer (dienen)… Sie zogen die schwankende Laune und sprunghafte Willkür eines persönlichen „Führers“ der strengen Berechenbarkeit und festen Regeln einer unantastbaren gesetzmäßigen Ordnung vor“.
Der Angriff von links
Die liberale Demokratie wurde bekanntlich nicht nur von rechts, sondern auch von links mit äußerster Radikalität bekämpft. Auch die Bolschewiki hielten die sogenannte „formelle Demokratie“ bzw. das Prinzip der Gewaltenteilung für ein Relikt der angeblich veralteten „bürgerlichen“ Ordnung und beseitigten nach ihrer Machtergreifung alle demokratischen Institute im Lande. Mit Gewalt jagten sie am 19. Januar 1918 die demokratisch legitimierte Verfassunggebende Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit auseinander. Leo Trotzki – einer der Urheber des bolschewistischen Staatsstreiches vom Oktober 1917 – sah durchaus Parallelen zwischen der bolschewistischen und der faschistischen Verhöhnung der demokratischen Spielregeln. Kurz nach dem sogenannten „Marsch auf Rom“ von Benito Mussolini (Oktober 1922) sagte Trotzki:
„Mussolini ist eine Lektion, die Europa gegeben wurde in Bezug auf die Demokratie, ihre Prinzipien und Methoden. In einiger Beziehung ist diese Lektion analog – natürlich vom entgegengesetzten Extrem – der, die wir Europa Anfang 1918 gaben, als wir die Verfassunggebende Versammlung auseinanderjagten“.
Die Lehren der Geschichte
Die Folgen dieses Feldzugs gegen die parlamentarische Demokratie sowohl für Russland als auch für den Westen sind bekannt. An seinem Ende stand eine beispiellose zivilisatorische Katastrophe, die einen großen Teil des europäischen Kontinents in ein Trümmerfeld verwandelte. Diese verheerenden Erfahrungen führten zu einem grundlegenden Wandel der politischen Kultur in Europa. Die nach 1945 einsetzenden europäischen Integrationsprozesse und das deutsche Grundgesetz, das die Prinzipien der wehrhaften Demokratie in Deutschland verankerte, gehören zu den sichtbarsten Zeichen dafür.
In Russland musste man wesentlich länger als im westlichen Teil des Kontinents auf die Rückkehr der demokratischen Institute warten, die die Bolschewiki am 19. Januar 1918 von der politischen Bühne des Landes verjagt hatten.
Was sicherte dann dem bolschewistischen Regime, trotz seiner fehlenden demokratischen Legitimierung, etwa 70 Jahre lang eine relative Stabilität? Dies war in erster Linie der Glaube der Bolschewiki an ihren geschichtlichen Auftrag. Sie fühlten sich nicht den demokratischen Mehrheiten, sondern der Geschichte und ihrer „alleingültigen“ marxistischen Interpretation verpflichtet. Den Kräften, die diesen „Auftrag“ zu gefährden drohten, sagten sie einen unversöhnlichen Kampf an. Nikita Chruschtschow war wohl der letzte sowjetische Machthaber, der in unerschütterlicher Weise dieses „Credo“ vertrat. Seine Nachfolger imitierten nur den Glauben an die „lichte kommunistische Zukunft“. Diese Erosion des Glaubens höhlte die ideologische Legitimierung des Regimes aus. Es entstand ein gefährliches ideologisches Vakuum. Nur die Rückkehr der demokratisch legitimierten Institutionen auf die politische Bühne hätte Russland bzw. der UdSSR helfen können die legitimatorische Krise zu überwinden – also die Rückkehr der Institutionen, die von den Bolschewiki im Januar 1918 so leichtfertig auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“ (Trotzki) geworfen wurden.
Als Michail Gorbatschow zu Beginn der Perestroika verkündete: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, läutete er damit im Grunde das Ende des Bolschewismus ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki aus ihren Staatstrukturen 1917/18 verbannt hatten, musste zwangläufig das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben.
Der dornige Weg zu einer „offenen Gesellschaft“
Nach 40 bzw. 70 Jahren kommunistischer Herrschaft mussten allerdings Russland und andere junge Demokratien des europäischen Ostens einen äußerst vielschichtigen Transformationsprozess erleben. Von einer Gesinnungsdiktatur zu einer offenen Gesellschaft, von einem Polizei- zu einem Rechtsstaat, von einer dirigistischen Plan- zur freien Marktwirtschaft. Zur gleichen Zeit erlebten einige Staaten der Region, vor allem in der ehemaligen Sowjetunion, einen Nation-Building-Prozess. Kein Wunder, dass diese wohl einmalige Umwälzung sich so holprig gestaltet., dass der Weg in Richtung „offene Gesellschaft“ mit so vielen Hindernissen behaftet ist. Und von vielen Kritikern werden all diese Schwierigkeiten nicht als Folge von vierzig bzw. siebzig Jahren kommunistischer Diktatur verstanden, sondern in erster Linie mit den neu entstandenen postkommunistischen Systemen assoziiert. Der Zusammenbruch der Diktaturen im ehemaligen Ostblock, der vor drei Jahrzehnten so euphorisch begrüßt worden war, wird nun von manchen Kreisen in einem anderen Licht gesehen. Viele Schattenseiten der abgewirtschafteten Regime werden verdrängt, nostalgische Stimmungen machen sich breit. Die Defizite der neu errichteten Demokratien hingegen werden mit äußerster Strenge bewertet, was in manchen Fällen zur Infragestellung der demokratischen Werte als solchen führt.
Die Krise des europäischen Gedankens
Aber auch in den konsolidierten Demokratien kommt zurzeit eine Demokratie- und Politikverdrossenheit auf, die von den Demagogen unterschiedlichster Art geschickt ausgenutzt wird. Der europäische Gedanke erlebt jetzt, ausgerechnet nach einem seiner größten Erfolge – der Überwindung der europäischen Spaltung – eine tiefe Krise. Der Münchner Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld schreibt dazu:
„Europa ist das Narrativ ausgegangen. Der Begründungskontext erodiert … Die Erfolgsgeschichte gerät in Vergessenheit … Der Halt geht verloren“.
Solche Herausforderungen wie die Euro- und die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, der Brexit oder die tiefen Risse im transatlantischen Verhältnis seit der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten drohen die EU zu zerreißen. Nicht zuletzt deshalb blickten manche Euroskeptiker noch vor kurzem mit Neid in Richtung Peking oder Moskau. Angesichts der Zerrissenheit der EU galten ihnen diese autoritären Regime als ein Hort der Stabilität. Nun erweist sich aber diese Stabilität als trügerisch.
Trügerische Stabilität der autoritären Regime
Anders als die „offenen“ Gesellschaften verfügen die autoritären Staaten nicht über ein System von Checks and Balances oder über eine unabhängige öffentliche Meinung, also über all diejenigen Mechanismen, die imstande sind, die Politik der Regierenden zu kontrollieren. Es fehlt ihnen also das Korrektiv, das den demokratischen Staaten unentwegt hilft, nicht zuletzt durch periodische Macht- und Kurswechsel, Krisen zu bewältigen. Dazu bedarf es in den Demokratien keiner Palastrevolutionen. Helmut Schmidt schrieb dazu in seinem Buch „Außer Dienst“ Folgendes:
Entscheidend ist am Ende – nach einem Wort von Karl Popper –, dass die Regierten (in einer Demokratie) ohne Gewalt und Blutvergießen, allein mit ihrer Stimme in einer Wahl, die Regierung auswechseln können und dass die regierenden Politiker und die sie tragenden Parlamentsabgeordneten, um wiedergewählt zu werden, sich vor den Regierten verantworten müssen“.
Da den autoritären Regimen diese von Helmut Schmidt bzw. von Karl Popper erwähnten Kontrollmechanismen fehlen, tendieren sie in akuten Krisen nicht selten zu inadäquaten Reaktionen und zu Realitätsverlust. Ihre Brüchigkeit wird dadurch immer offensichtlicher. Am Beispiel des Lukaschenko-Regimes in Belarus spiegelt sich diese Entwicklung heute besonders deutlich wider.
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