Kehren die 1930er Jahre zurück? Eine Replik
Der wachsende Einfluss der Rechtspopulisten, die schwindende Popularität der traditionellen Volksparteien, die Krise des europäischen Gedankens veranlassen viele Publizisten dazu, den jetzigen Zustand der „zweiten“ deutschen Demokratie mit der Endkrise der Weimarer Republik zu Beginn der 1930er Jahre zu vergleichen – siehe dazu z.B. die vor kurzem erschienene Kolumne von Henning Hirsch. Ich halte solche Analogien für wenig begründet. Den grundlegenden Unterschieden zwischen den beiden Konstellationen ist diese Kolumne gewidmet.
Der Zeitgeist
Das tragische Schicksal der Weimarer Republik war nicht zuletzt mit dem Charakter der Epoche verbunden, in der sie entstand. Dies war die Epoche der Verklärung des sogenannten „heiligen nationalen Egoismus“ (sacro egoismo). Solche Politiker wie Gustav Stresemann, die danach strebten, Deutschland mit den westlichen Siegermächten zu versöhnen, waren nicht imstande, die radikalen Verächter des Westens im eigenen Land zu beschwichtigen. Die gekränkte nationale Eitelkeit stellte die alles beherrschende Emotion in Weimar dar und die prowestlich gesinnten „Vernunftrepublikaner“ waren nicht imstande, sie einzudämmen. Aber auch in vielen anderen Ländern Europas erreichten damals die nationalistischen Emotionen eine bis dahin beispiellose Intensität. Überall in Europa wachse das Streben nach maximaler Entfaltung der eigenen Nation auf Kosten anderer Völker, der Hass gegen das Fremde sei nun wichtiger geworden als die Liebe zur eigenen Nation, schrieb 1931 der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow. Einige Jahre später fügte Fedotow hinzu: Nietzsche sei der eigentliche Prophet des 20. Jahrhunderts gewesen, als er sagte, dass nicht der Kampf ums Dasein, sondern vielmehr der Wille zur Macht diese Welt bestimme. Bei einer solchen Einstellung erschrecke die Vision des eigenen Untergangs nicht. Eine Welt, in der das eigene Land nicht die vorherrschende Stellung einnehmen könne, solle lieber untergehen.
Bereits der Erste Weltkrieg zeigte, welche Folgen der radikale Nationalismus für die Nationen haben kann, die von ihm erfasst wurden. Dieser Krieg – die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nach den Worten George F. Kenanns – stellte aber nur die erste Etappe der Selbstzerstörung Europas dar, die nach dem von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreichen sollte.
Erst nach den verheerenden Erfahrungen der beiden Weltkriege fand in Europa ein Paradigmenwechsel statt, der zu einer Entthronung der bis dahin unumschränkt herrschenden Nationalidee und zur Entstehung der europäischen Integrationsprozesse führte. Dieser Entwicklung verdankt der alte Kontinent, wenn man von der jugoslawischen Tragödie absieht, die längste Friedensperiode seiner Geschichte. Der europäische Gedanke hat zu Beginn der Gorbatschowschen Perestroika auch Russland erfasst. Ein Teil der russischen Eliten sehnte sich nun nach einer Rückkehr des Landes nach Europa. Und es wäre völlig verfehlt, diese Sehnsucht als „romantische Schwärmerei“ abzutun, wie dies gelegentlich geschieht. Denn sie hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolutionen von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese Sehnsucht und ohne den Verzicht des Reformflügels der Gorbatschow-Equipe auf die Breschnew-Doktrin, die der Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses“ widersprach, undenkbar gewesen.
Die Euphorie der Jahre 1989-1991 ist inzwischen verflogen. Isolationistische Kräfte, die den europäischen Charakter Russlands in Frage stellen, nehmen sowohl in Russland als auch im Westen an Stärke zu. Die russischen „Europäer“, denen der Kontinent die friedliche Überwindung der jahrzehntelangen Spaltung im Wesentlichen verdankt, geraten in die Defensive und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens verloren zu haben. Ob es sich hier aber um ein endgültiges „Urteil der Geschichte“ handelt, steht offen. Die Fortsetzung des vor einigen Jahren unterbrochenen Prozesses der „Rückkehr Russlands nach Europa“ ist immer noch denkbar.
Das Ende der „ersten“ deutschen Demokratie: Ein Szenario des Scheiterns
Nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 schien die Auflösung der Weimarer Republik unvermeidlich zu sein. Bei den Reichstagswahlen vom 14.9.1930 erhielten die Nationalsozialisten und die Kommunisten, die das bestehende System am radikalsten ablehnten, 1/3 der Mandate und bei den Wahlen vom Juli 1932 bereits mehr als die Hälfte. Die extremistische Mehrheit im Reichstag lähmte nun gänzlich den deutschen Parlamentarismus. Der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding schrieb im Sommer 1931:
Die Demokratie zu behaupten gegen die Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung – es ist fast die Lösung der Quadratur des Kreises.
So stellten die demokratischen Spielregeln im damaligen Deutschland nicht „the only game in town“ (Juan Linz und Alfred Stepan) dar. Von vergleichbaren Zuständen kann in der heutigen Bundesrepublik keine Rede sein. Die Parteien, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, werden hier von der überwältigenden Mehrheit der Wähler unterstützt.
War also die „erste“ deutsche Demokratie aufgrund der Abkehr vieler Wähler von den demokratischen Wertvorstellungen zum Scheitern verurteilt? Diese Meinung vertritt z.B. der neomarxistische Faschismusforscher Nicos Poulantzas, der 1973 eine viel beachtete Schrift über den europäischen Faschismus veröffentlichte. Poulantzas hielt die Faschisierung Deutschlands kurz vor der Hitlerschen Machtergreifung für unausweichlich. Er bezeichnete den Zeitpunkt, an dem die Würfel seiner Meinung nach bereits gefallen waren als point of no return.
Durch diese deterministische These wird die Verantwortung konkreter Kräfte und Menschen für den Sieg des Nationalsozialismus heruntergespielt. In Wirklichkeit gab es in der Geschichte der Weimarer Republik keinen solchen point of no return, von dem Poulantzas spricht. Obwohl die NSDAP zu Beginn der 1930er Jahre zu einer der stärksten Massenbewegungen in der Geschichte der Weimarer Republik wurde, hätte ihre Stärke allein keineswegs dazu ausgereicht, um sie an die Macht zu bringen.
Da der deutsche Staatsapparat zu Beginn der 30er Jahre, anders als der russische im Jahre 1917, noch relativ intakt war, konnten die Nationalsozialisten, den Staat nach bolschewistischem Vorbild im Alleingang nicht erobern. An die Macht konnten sie nur mit Hilfe von Nicht-Nationalsozialisten gelangen. Darüber ist sich die Mehrheit der Faschismusforscher einig. So stellte der Kompromiss mit den herrschenden Gruppierungen die unabdingbare Voraussetzung für die sog. nationalsozialistische „Machtergreifung“ dar. Um das Zustandekommen dieses Kompromisses zu beschleunigen, wies die nationalsozialistische Führung unablässig auf die angeblich allgegenwärtige „kommunistische Gefahr“ hin. In seiner Rede vor dem Industrieclub in Düsseldorf am 27. Januar 1932 verkündete Hitler unter starkem Beifall, Deutschland verdanke nur der NSDAP seine Rettung vor dem Bolschewismus:
Wenn wir nicht wären, gäbe es schon heute in Deutschland kein Bürgertum mehr, die Frage: Bolschewismus oder nicht Bolschewismus wäre schon lange entschieden!
Ähnlich wie die Bolschewiki im Jahre 1917 die übertriebenen Ängste der russischen demokratischen Parteien vor dem sog. „rechten“, „gegenrevolutionären“ Staatsstreich geschickt ausgenutzt hatten, machten sich die Nationalsozialisten die übertriebenen Ängste der konservativen Schichten vor einer kommunistischen Revolution zunutze. Das Anwachsen der KPD sei der NSDAP willkommen, schrieb 1932 Theodor Heuss, und zwar deshalb, weil die Nationalsozialisten die Angst breiter Bevölkerungsschichten brauchten. Sie schilderten sich selbst als die einzigen Verteidiger der bürgerlichen Kultur gegenüber dem Marxismus.
Auf die Frage, ob zu Beginn der 1930er Jahre wirklich die Gefahr einer kommunistischen Revolution in Deutschland bestand, gibt der konservative Politiker Hermann Rauschning, der kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mit Hitler gebrochen hatte, folgende Antwort:
Kein Schicksal ist dem Deutschen Reich 1932/33 ferner gewesen als eine bolschewistische Revolution, ja auch nur eine politische Revolte von links! Gerade die Kreise, die heute die Legende von dem unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Umsturz verbreiten, wissen es am besten, und haben es durch ihre eigene Taktik bewiesen, dass in Deutschland ein Putsch nur mit der legalen Macht als Rückhalt im Hintergrunde möglich war.
So entschieden über die damalige Machtfrage in Deutschland letztendlich konservative Gruppierungen, die nur ein verschwindendes Segment der Gesellschaft repräsentierten. Der Berliner Historiker Heinrich August Winkler schreibt 1993 in diesem Zusammenhang:
In keiner anderen hochindustrialisierten Gesellschaft hatte sich eine vorindustrielle Elite so viel politische Macht bewahren können wie die Junker im Deutschland der Weimarer Republik.
Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit
Im Jahre 1923 (während der Ruhrkrise) war die Staatskrise in Deutschland auf der Grundlage des Bündnisses der Konservativen mit der SPD überwunden worden. Im Jahre 1933 waren indes die maßgeblichen deutschen konservativen Gruppierungen des Bündnisses mit den „Marxisten“ bereits überdrüssig. Sie versuchten nun, die Krise durch die Koalition mit einer Partei zu lösen, die sich selbst als Todfeind des Weimarer Staates ansah und die in ihrem Programm die Liquidierung dieses Staates als kategorischen Imperativ betrachtete. Der Sozialdemokrat Konrad Heiden spricht in diesem Zusammenhang von der Flucht der politischen Klassen Deutschlands vor der Verantwortung, vom „Zeitalter der Verantwortungslosigkeit“.
Dieser verhängnisvollen Allianz der deutschen Konservativen mit einer totalitären Partei, die die gesamte europäische Ordnung aus den Angeln heben wollte, lag die Teilidentität der Ziele zugrunde, von der der Militärhistoriker Manfred Messerschmidt spricht. Die Folge dieser Allianz war nicht nur die Zerstörung der deutschen Demokratie, sondern letztendlich auch der gesamten europäischen Ordnung.
Die Lehren aus der Geschichte
Aus dem Scheitern der Weimarer Republik zog die 1949 errichtete „zweite“ deutsche Demokratie die Lehre, dass die Stabilität einer „offenen Gesellschaft“ vor allem davon abhänge, ob sie imstande sei, sich gegen ihre radikalen Feinde zu wehren. Der Sozialdemokrat Carlo Schmid, der zu den führenden Mitgliedern des Parlamentarischen Rates gehörte, der seit September 1948 über die neue Staatsordnung Deutschlands beriet, forderte:
Mut zur Intoleranz denen gegenüber, … Die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.
Zur gleichen Schlussfolgerung wie die Urheber des deutschen Grundgesetzes gelangte der in Dresden lehrende deutsch-russische Philosoph Fjodor Stepun bereits im Jahre 1934. Unter dem Eindruck des Untergangs der Weimarer Republik, die nicht imstande war, die Prinzipien der wehrhaften Demokratie zu verinnerlichen, entwarf er folgendes Demokratiemodell für das künftige postkommunistische Russland. Wünschenswert für Russland wäre eine Demokratie, die
einen Kampf gegen die Demokratie mit demokratischen Mitteln nicht zulässt…. Man darf nicht vergessen, dass die Demokratie nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch die Macht der Freiheit verteidigen muss.