Von der Appeasementpolitik bis zum Hitler-Stalin-Pakt

Zum Versagen des europäischen Staatensystems in den 1930er Jahren angesichts der nationalsozialistischen Herausforderung.


Da das Ende des Zweiten Weltkrieges sich demnächst zum 75. Mal jährt, wird in diesem Zusammenhang immer intensiver über die Genese dieses Krieges diskutiert, vor allem über die damaligen Fehler mancher Kontrahenten, aber auch Verbündeten der Nationalsozialisten. Die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in den 1930er Jahren lässt sich in der Tat vor allem als Geschichte der Fehleinschätzungen betrachten. Das damalige Versagen des europäischen Staatensystems als solchen zeigt, wie wenig es auf neue und unvorhergesehene Herausforderungen vorbereitet war.

Hitler und die deutschen Konservativen – eine brüchige Allianz

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 wurde zunächst in den europäischen Hauptstädten im Allgemeinen nicht als die beispiellose Zäsur, die sie bedeutete, erkannt. Die Tatsache, dass die Hitlersche Regierung eine Koalition zwischen der NSDAP, der DNVP und den parteilosen Konservativen darstellte, wirkte eher beruhigend. Von diesen preußischen Konservativen, die in der Regierung die absolute Mehrheit bildeten, erwartete man einen mäßigenden Einfluss auf Hitler – dies vor allem in Moskau. Aber auch die deutschen Konservativen selbst hatten das Gefühl, sie seien der NSDAP in der neuen Koalitionsregierung eindeutig überlegen. Franz von Papen, der am Zustandekommen der neuen Regierung maßgeblich beteiligt gewesen war, sagte damals:

“In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt …“

Sogar Lew Trotzki, der ansonsten die Lage in Deutschland so scharfsichtig beurteilte, schrieb in einer seiner ersten Stellungnahmen zur nationalsozialistischen Machtübernahme, Hitler befinde sich in der Hand Hugenbergs (des Führers der Deutschnationalen Volkspartei). Nicht der Emporkömmling Hitler, sondern die Vertreter des deutschen Kapitals und des deutschen Staatsapparates, so Trotzki, hätten das letzte Wort in der deutschen Politik.

Diese Sätze schrieb Trotzki im Februar 1933 – noch vor dem Reichstagsbrand, in dessen Folge die Lage in Deutschland sich grundlegend verändern sollte.

Zu den wenigen Ausnahmen im Lager der Linken, die die damalige Situation in Deutschland adäquat beurteilten, gehörte einer der Führer der sogenannten KPD-Opposition, August Thalheimer. Er bezeichnete unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 die konservativen Gruppierungen als den schwächeren Partner der Allianz, die damals in Deutschland entstanden war. Er erkannte, dass das nächste Ziel Hitlers die Ausschaltung seiner konservativen Partner aus der Regierung und die Alleinherrschaft der NSDAP war. Hitler verfüge gleichzeitig über eine Massenorganisation und über die Exekutivgewalt, so Thalheimer. Die Exekutivgewalt werde er gegen alle seine Gegner außerhalb der Regierung einsetzten, er werde deren Organisationen auflösen und vernichten. Andererseits würden seine Massenorganisationen dazu verwendet werden, auf seine konservativen Koalitionspartner Druck auszuüben. Es sehe so aus, so lautet die Voraussage Thalheimers, als ob der Nationalsozialismus nur Monate zur Eroberung der Alleinherrschaft brauchen werde, wofür Mussolini in Italien Jahre gebraucht habe.

Thalheimers Voraussage sollte sich bekanntlich innerhalb kürzester Zeit erfüllen. Hitlers konservative Verbündete, die ursprünglich von ihrer Überlegenheit über die politisch unerfahrene NSDAP überzeugt gewesen waren, verwandelten sich in einen Junior-Partner Hitlers. Dies spiegelte sich besonders deutlich in der Außenpolitik des Dritten Reiches wider.

Neue Akzente in der deutschen Außenpolitik

Die deutsche Außenpolitik erhielt nun einen doppelgleisigen Charakter, der in gewisser Weise der sowjetischen Außenpolitik ähnelte. Einerseits verkündeten Hitler und andere nationalsozialistische Ideologen ihre Absicht, die kommunistische Weltbewegung zu vernichten; ähnlich radikal waren die Erklärungen vieler Kominternideologen in Bezug auf das „Weltkapital“. Andererseits bemühten sich deutsche wie auch sowjetische Diplomaten, trotz dieser ideologischen Grundsatzerklärungen, um die Aufrechterhaltung von normalen Beziehungen zu den ideologischen Gegnern. In beiden Staaten entstand der offizielle außenpolitische Kurs häufig als Resultat von heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern einer gemäßigten, pragmatischen und den Befürwortern einer intransigenten politischen Linie. In der Sowjetunion fanden diese Auseinandersetzungen innerhalb der Führung der bolschewistischen Partei statt, weil nur hier die Richtlinien sowohl für die Politik des sowjetischen Staates wie auch für die der Kommunistischen Internationale ausgearbeitet wurden. Im Dritten Reich fanden diese Kontroversen auf einer anderen Ebene statt. Es handelte sich hier um einen Kampf zwischen den traditionellen politischen Vorstellungen der konservativen deutschen Eliten und der revolutionären außenpolitischen Konzeption der nationalsozialistischen Führung. Die Führung der NSDAP hatte allerdings bei diesen Auseinandersetzungen eindeutig die Initiative. Der kompromisslose antisowjetische Kurs Hitlers setzte sich relativ schnell durch. Dass Hitler seine außenpolitische Konzeption den Konservativen weitgehend aufzwang, wurde unter anderem durch die deutsch-polnische Nichtangriffserklärung vom 26. Januar 1934 bestätigt. Die Unversöhnlichkeit gegenüber Polen galt für die deutschen Konservativen der Weimarer Zeit als unverrückbares Prinzip. Das Verlangen nach einer Revision der deutschen Ostgrenze wurde, wie der Münchner Historiker Martin Broszat sagte, zum Axiom der Weimarer Außenpolitik.

Trotz ihrer extrem antipolnischen Einstellung vermochten die deutschen Konservativen das Zustandekommen des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes nicht zu verhindern. Jede demokratische Regierung wäre wegen eines solchen Abkommens zerrissen worden, schreibt der Politologe Hans Buchheim, Hitlers Macht blieb aber ungefährdet.

Durch den Vertrag mit Polen wollte Hitler das Prinzip des nationalen „sacro egoismo“ in Europa populär machen und so das Bündnis der Mächte, die den Versailler Vertrag garantierten, allmählich zerbröckeln lassen. Die Angst der polnischen Führung vor der Sowjetunion war Hitler hinreichend bekannt. Er machte sie sich auch zunutze, als er den Polen eine Annährung an Deutschland vorschlug. Die polnische Führung war eine der ersten europäischen Regierungen, die der Illusion erlagen, Hitlers Politik sei in erster Linie gegen den Kommunismus, bzw. gegen die Sowjetunion, nicht aber gegen die „bürgerlichen“ Staaten gerichtet. Dieser Glaube wurde im Laufe der Zeit für viele westeuropäische Regierungskreise zum Axiom.

Kollektive Sicherheit oder Appeasement?

Das Dritte Reich entwickelte sich allmählich zum Zentrum der antisowjetischen Aktivitäten in Europa. Der nationalsozialistische Sieg in Deutschland gab auch den rechtsextremen Kräften im übrigen Europa großen Auftrieb. Die Sowjetunion stand nun vor der Perspektive einer Einkreisung durch aggressive antikommunistische Diktaturen.

Dieser Bedrohung wollte Stalin in erster Linie durch ein Bündnis mit dem durch Deutschland ebenfalls bedrohten Frankreich begegnen. Die Moskauer Führung suchte Verbündete jedoch nicht nur auf der zwischenstaatlichen Ebene. Eine Isolierung des Rechtsextremismus, vor allem des Dritten Reiches, sollte auch durch eine Kooperation mit anderen politischen Strömungen und Gruppierungen, deren antifaschistische Gesinnung in Moskau hinreichend bekannt war, erzielt werden. Am 23. Juni 1934 schlug die Führung der KPF der Sozialistischen Partei Frankreichs vor, eine antifaschistische Einheitsfront zu bilden. Diese von der KPF vollzogene taktische Wendung hatte für die gesamte Komintern eine Art Signalcharakter.

Dem antifaschistischen Feldzug Moskaus setzte Hitler eine weltanschauliche Kampagne gegen den Kommunismus und gegen die Sowjetunion entgegen. Dabei erwies sich die Taktik Hitlers, ungeachtet der französisch-sowjetischen Annäherung und ungeachtet der Erfolge der Volksfrontbewegung als effizienter denn diejenige Stalins. Im Grunde übertrug Hitler manche taktischen Vorgehensweisen, die bereits bei seinem Machtkampf in der Weimarer Republik äußerst wirksam gewesen waren, auf die internationale Ebene. Die Angst der Westeuropäer vor der kommunistischen Gefahr erwies ihm ebenso unschätzbare Dienste, wie seinerzeit die Angst der deutschen Konservativen vor dem Bolschewismus. Das Dritte Reich wurde nun von Hitler zu einer Art Beschützer der europäischen Zivilisation vor der angeblichen Gefahr, die aus dem Osten kam, stilisiert.

Zweifel an der Widerstandbereitschaft des Westens gegenüber der nationalsozialistischen Aggressivität kamen in Moskau sehr früh auf. Dies vor allem nach der Ermordung des unversöhnlichen Gegners des Dritten Reiches, des französischen Außenministers Barthou, der im Oktober 1934 gemeinsam mit dem jugoslawischen König Alexander einem Attentat zum Opfer fiel. Dem Nachfolger Barthous, Laval, war das Bündnis mit der Sowjetunion recht unwillkommen. Er unterschrieb zwar im Mai 1935 den von Barthou vorbereiteten französisch-sowjetischen Beistandspakt, tat dies aber ohne Begeisterung. Auch in London war die Bereitschaft, dem aggressiven Vorgehen Hitlers Einhalt zu gebieten, nicht allzu stark ausgeprägt. Während des Besuches des englischen Außenministers Eden in Moskau im März 1935 versuchten Stalin und der Volkskommissar des Äußeren Litwinow diesen von der Gefahr zu überzeugen, die sowohl von Deutschland wie auch von Japan ausgehe. Großbritannien sei von der Aggressivität des Dritten Reiches keineswegs so überzeugt, wie die sowjetische Führung, erwiderte Eden.

Statt das Dritte Reich und seine Verbündeten mit Hilfe der Volksfrontstrategie und der Politik der kollektiven Sicherheit zu isolieren, geriet die Sowjetunion selbst in eine äußerst gefährliche Isolation.

Aber nicht nur die Appeasementpolitik der Westmächte trug zum Scheitern der Volksfronstrategie und der Politik der kollektiven Sicherheit bei. Dies tat auch der uferlose Terror Stalins, der sich sowohl gegen unzählige Sowjetbürger als auch gegen Tausende Kominternmitglieder richtete. Im April 1938 – auf dem Höhepunkt des Stalinschen „Großen Terrors“ – schrieb der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow: „Stalin führt einen Krieg gegen ganz Russland, wenn man ein einseitiges Abschlachten von … wehrlosen Gefangenen einen Krieg nennen kann“.

Die sozialdemokratischen Partner der Komintern in der Volksfrontbewegung konnten diese Verbrechen nicht stillschweigend hinnehmen und verurteilten sie aufs Schärfste. Darauf reagierte die Führung der Komintern ihrerseits mit Gegenangriffen.

Der westlichen Appeasementpolitik wiederum gab der Stalinsche Terror eine zusätzliche Motivation. Moskaus Isolation auf der internationalen Bühne erreichte eine neue Dimension. Das anschaulichste Indiz dafür stellte die Münchener Konferenz vom September 1938 dar, die über die partielle Teilung der Tschechoslowakei – des treuesten Verbündeten der westlichen Demokratien in Osteuropa – entschied. Ungeachtet der Tatsache, dass die Sowjetunion offiziell Verbündeter der Tschechoslowakei war, wurde sie nach München nicht einmal eingeladen.

Hitlers antipolnische Wendung

Unmittelbar nach dem Münchner Abkommen radikalisierte sich der außenpolitische Kurs Hitlers zusätzlich. Seine Wehklagen über die ungerechte Behandlung der Deutschen, die angeblich zu „Heloten“ degradiert worden seien, wurden immer seltener. Argumente der Schwäche wurden nun durch Argumente der Stärke ersetzt. Am 10. November 1938 erklärte Hitler in einer Geheimrede vor Vertretern der deutschen Presse:

Der Propaganda-Apparat solle nun „das deutsche Volk psychologisch umstellen und ihm langsam klarmachen, dass es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit den Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen“.

Kurz nach der partiellen Aufteilung der Tschechoslowakei wurde Polen zum nächsten Objekt der territorialen Begierden Hitlers. Die Phase der deutsch-polnischen Annäherung, die mit der Unterzeichnung der deutsch-polnischen Nichtangriffserklärung begonnen hatte, fand ein jähes Ende (eine besonders heikle Episode dieser Phase stellte die Beteiligung Polens an der partiellen Aufteilung der Tschechoslowakei dar). Am 24. Oktober 1938 schlug Hitler der Warschauer Führung eine Neuregelung des deutsch-polnischen Verhältnisses vor. Er forderte die Eingliederung der freien Stadt Danzig ins Reich und einen extraterritorialen Verbindungsweg zwischen Ostpreußen und dem Reich durch den sog. polnischen Korridor. Diese Forderungen wurden von der polnischen Führung im Januar 1939 kategorisch abgelehnt. Nun drohte Polen das Schicksal der Tschechoslowakei. Die am 15. März 1939 erfolgte Besetzung Prags durch Hitler machte dies aber hinfällig. Man erkannte jetzt sogar in Paris und in London, dass Kompromisse mit dem Dritten Reich kaum möglich seien. Am 31. März 1939 versprach der britische Ministerpräsident Neville Chamberlain Polen im Falle der Bedrohung seiner Unabhängigkeit militärische Unterstützung. Sowohl in London als auch in Paris war man nun entschlossen, ein „zweites München“ auf keinen Fall zuzulassen. In seinem vor einigen Jahren erschienenen Buch „Die letzten zehn Tage. Europa am Vorabend des Zweiten Weltkriegs“ setzt der britische Historiker Richard Overy diese Haltung der britischen und der französischen Regierung mit Halsstarrigkeit gleich. Diese Haltung habe den Handlungsspielraum von London und Paris eingeengt. Sie seien „auf die abschreckende Wirkung demonstrierter Standhaftigkeit (fixiert gewesen)“.

Was Overy in diesem Zusammenhang besonders irritiert, ist der aus seiner Sicht inflationäre Gebrauch des Begriffs „Ehre“ durch westliche Politiker im Sommer 1939:

„Entweder löste man, koste es, was es wolle, die den Polen gegebenen Garantien ein, oder die Nation verhielt sich unehrenhaft. Und unabhängig davon, ob eine solche moralische Bindung noch tauglich war für die Diplomatie der 1930er Jahre oder nicht, sie wurde in den letzten Tagen der Krise regelmäßig wiederholt“.

Mit diesem Diktum lässt Overy Folgendes außer Acht: Durch ihre Appeasementpolitik gegenüber den brutal agierenden rechtsextremen Diktaturen in den 1930er Jahren hatten die westliche Demokratien ihr wohl wichtigstes Kapital weitgehend verspielt – die Glaubwürdigkeit. Sie verloren dadurch sowohl die Achtung vieler ihrer Anhänger als auch ihrer totalitären Kontrahenten. Hitler hielt die westlichen Politiker für „kleine Würmchen“, die „zu mürbe und zu dekadent (sind), um ernstlich den Krieg zu beginnen“.

Den Zustand, in dem sich Europa in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre infolge der Appeasementpolitik der Westmächte befand, beschrieb der britische Historiker Lewis B. Namier mit folgenden Worten: „Europe in Decay“.

Die Willenslähmung der westlichen Demokratien in den 1930er Jahren stachelte Hitler nur dazu an, seine Eroberungspläne immer maßloser zu gestalten. Hitlers außenpolitisches Verhalten entsprach weitgehend dem Modell, das später von Henry A. Kissinger zur Charakterisierung einer revolutionären Macht entwickelt wurde. Eine solche Macht sei im Grunde zur Selbstbeschränkung nicht fähig. Diplomatie im traditionellen Sinne, deren Wesen Kompromiss und Anerkennung der eigenen Grenzen sei, werde vom revolutionären Staatswesen praktisch aus den Angeln gehoben, da dieses unentwegt nach der Verwirklichung seiner Endziele strebe.

Welche Folgen hätte also für Europa und für die Welt die Hinnahme der angeblich „begrenzten Forderungen“ des deutschen Diktators (Danzig und Korridor) durch die Westmächte, für die Overy indirekt plädiert, wohl gehabt? Sie hätten erneut ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt und Hitlers Geringschätzung gegenüber den westlichen Demokratien wäre weiter gestiegen.

Der Hitler-Stalin-Pakt

Die Entfremdung zwischen dem Dritten Reich und den Westmächten stellte für Stalin eine einmalige Chance dar, die außenpolitische Isolation, in die die UdSSR seit dem Münchner Abkommen geraten war, zu beenden. In seinem Rechenschaftsbericht auf dem 18. Parteitag der Bolschewiki am 10. März 1939 griff Stalin in erster Linie die Westmächte und nicht das Dritte Reich an. Er beschuldigte die westlichen Demokratien, dass sie Deutschland zu einem Krieg gegen die Sowjetunion treiben wollten. Einige Monate später, am 23. August 1939, wurde der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet, der Hitler die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges erheblich erleichterte (siehe dazu meine Kolumne vom 9.7.2019).

Die sowjetische Rückendeckung ermöglichte Hitler kurzfristig beispiellose militärische Erfolge. Das am 1.9.1939 angegriffene Polen, das von seinen totalitären Nachbarn in die Zange genommen wurde, brach nach einigen Wochen zusammen. Am 17.9.1939 überschritten führende Vertreter der Warschauer Regierung die polnisch-rumänische Grenze und begaben sich ins Exil. Kurz vor ihrem Abgang von der politischen Bühne erwies aber die polnische Machtelite Europa den letzten Dienst. Da sie nicht bereit gewesen war, vor dem militärisch überlegenen Angreifer kampflos zurückzuweichen, löste sie einen eigendynamischen Prozess aus, der letztendlich zum Zusammenbruch des Dritten Reiches führen sollte. Die Westmächte sahen sich nun gezwungen, auf den Hitlerschen Überfall auf ihren Verbündeten am 3.9.1939 mit einer Kriegserklärung zu reagieren. Dieser Krieg war zwar im Westen recht unpopulär – man wollte dort nicht für Danzig sterben. Auf der anderen Seite war nun die Zeit der grenzenlosen Nachgiebigkeit dem Aggressor gegenüber endgültig vorbei.

Die Rolle der UdSSR in dem am 1.9.1939 begonnenen Krieg war sehr schillernd. Sie griff ins Kriegsgeschehen nicht sofort ein. Sie tat dies erst in dem Moment, in dem sich die Niederlage Polens deutlich abzeichnete.

In der sowjetischen Presse wurde nun die neue deutsch-sowjetische Kooperation als eine Wiederanknüpfung an die traditionelle deutsch-russische bzw. deutsch-sowjetische Zusammenarbeit interpretiert. Die ideologische Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Regime bzw. mit dem Faschismus wurde praktisch eingestellt.

Die von Moskau völlig abhängige Komintern passte sich sehr schnell an den neuen Kurs der sowjetischen Führung an: „Was habt ihr Proletarier von diesem Krieg zu gewinnen?“, fragte am 6. November 1939 das Exekutivkomitee der Komintern in einem gegen den Krieg gerichteten Manifest: „Glaubt jenen nicht, die Euch unter dem Vorwand der Verteidigung der Demokratie auffordern, den Krieg zu unterstützen… Sie kämpfen nicht für die Freiheit der Nationen, sondern um deren Versklavung“.

Trotz der von Moskau angeordneten Friedenspropaganda war Stalin an einer schnellen Beendigung des Krieges innerhalb des „kapitalistischen Lagers“ keineswegs interessiert. Ihm gefiel eigentlich die Rolle eines lachenden Dritten in dieser Auseinandersetzung. Er ging davon aus, dass der Abnutzungskrieg im Westen noch sehr lange dauern werde, er glaubte an ein Gleichgewicht der Kräfte zwischen den beiden feindlichen Lagern. Der schnelle Zusammenbruch Frankreichs, der einige Wochen nach dem am 10.05.1940 begonnenen Westfeldzug der Wehrmacht erfolgte, überraschte Stalin ebenso wie viele deutsche Generäle, die den vierjährigen Stellungskrieg an der Westfront (1914-1918) noch in Erinnerung hatten. Das europäische Gleichgewicht war nach der Ausschaltung Frankreichs weitgehend zerstört. In Berlin gingen nun viele davon aus, dass das isolierte britische Reich wohl kaum in der Lage sein werde, den Krieg fortzusetzen.

Erneut wurde in Berlin der Widerstandswille der Briten falsch eingeschätzt, und besonders falsch deswegen, weil an der Spitze des englischen Kabinetts seit dem 10.5.1940 nicht mehr die Symbolfigur der Appeasementpolitik, Neville Chamberlain, sondern der unversöhnliche Gegner des Dritten Reiches, Winston Churchill, stand. Und Churchill war fest entschlossen, ungeachtet der äußerst prekären Lage des britischen Weltreiches, den Krieg bis zur endgültigen Beseitigung Hitlers und seines Regimes zu führen.

Östliches Pendant zur Appeasementpolitik?

Dennoch hing das Schicksal des Krieges, ja das Überleben des aus dem Festland verdrängten Großbritanniens, nicht unwesentlich von dem Eingreifen der UdSSR ab. Britische Politiker und Diplomaten versuchten die Moskauer Führung unablässig davon zu überzeugen, dass nach der Zerstörung des europäischen Gleichgewichts, Hitler nicht nur für den Westen, sondern auch für die UdSSR eine tödliche Gefahr darstelle. Früher oder später werde er sich auch gegen die Sowjetunion wenden, denn sein eigentliches Ziel sei die Beherrschung des gesamten europäischen Kontinents, ja die Weltherrschaft. In diesem Sinne argumentierte am 1.7.1940 der britische Botschafter in Moskau, Sir Stafford Cripps, im Gespräch mit Stalin. Stalin reagierte skeptisch auf diese Argumente:

„Man soll nicht an alles glauben was (manche Propagandisten) laut verkünden“, meinte Stalin:  „Es ist nicht ausgeschlossen, dass einige Nationalsozialisten von der Weltherrschaft träumen, es gibt aber in Deutschland auch vernünftige Menschen, die verstehen, dass Deutschland nicht stark genug sei, um die Welt zu beherrschen.“

Dieser Glaube Stalins an die „Vernunft“ maßgeblicher Kräfte innerhalb der nationalsozialistischen Führung erinnert in verblüffender Weise an den Glauben der westlichen Verfechter der Appeasementpolitik, die in den Jahren 1934-38 davon ausgegangen waren, dass die außenpolitischen Ziele des Dritten Reiches begrenzt seien, dass Hitler sachlichen Argumenten durchaus zugänglich sei. So erhielt die westliche Appeasementpolitik von 1934-38 nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes ihr östliches Pendant. Diese Politik führte allerdings zu ähnlichen Resultaten wie die Beschwichtigungspolitik der Westmächte dem Dritten Reich gegenüber in den Jahren 1934-1938. Sie steigerte nur die Aggressivität Hitlers. Denn Hitlers Beschluss, seinen alten Traum von „Eroberung des Lebensraumes im Osten“ unverzüglich zu verwirklichen, stand unmittelbar nach der Zerschlagung Frankreichs fest. Am 31. Juli 1940 fand auf dem Obersalzberg ein Treffen Hitlers mit der Führung der Wehrmacht statt. Hitlers Worte wurden vom Chef des Generalstabes des Heeres, Halder, folgendermaßen zusammengefasst:

„Englands Hoffnung ist Russland und Amerika…Ist aber Russland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutschland. Entschluss: Im Zuge dieser Auseinandersetzung muss Russland erledigt werden“

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert