Macht und Ohnmacht der Utopien. Betrachtungen anlässlich des 28. Jahrestages der Auflösung der Sowjetunion

Das vor kurzem zu Ende gegangene 20. Jahrhundert lässt sich als das Zeitalter des triumphalen Siegeszuges von totalitären Utopien und ihres anschließenden gänzlichen Scheiterns bezeichnen. Diesen Prozess des Aufstiegs und Niedergangs der Utopien möchte ich am Beispiel Russlands kurz darstellen.


„Häresie“ des Utopismus?

Im Oktober 1917 errichteten die Bolschewiki in Russland das erste totalitäre Regime der Moderne. „Die Utopie gelangte an die Macht“ – so bezeichneten diesen Vorgang die russischen Historiker Michail Geller und Alexander Nekritsch. Der russische Philosoph Simon Frank definiert den Utopismus als klassische Häresie, als einen Versuch, die Welt allein mit Hilfe des menschlichen Willens zu erlösen. Da der Utopist gegen die Struktur der Schöpfung und gegen die Natur des Menschen verstoße, sei sein Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt. So erkläre er sowohl der Schöpfung als auch der menschlichen Natur den Krieg und verwandele sich aus einem vermeintlichen Erlöser in einen erbitterten Feind des Menschengeschlechts.

Diese Franksche Definition lässt sich weitgehend auf die Verfechter der russischen Revolution von 1917, aber auch auf ihre französischen Vorgänger von 1789 übertragen. Die Parallelen zwischen der russischen und der französischen Revolution sind in der Tat verblüffend. Beide hatten jeweils einen „philosophischen Prolog“. „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten“, schrieb 1762 Jean-Jacques Rousseau  in seinem „Gesellschaftsvertrag“, und dieser suggestive Satz, der die Essenz der umwälzenden Schrift des Philosophen wiedergab, wurde zum Leitgedanken vieler französischer Revolutionäre, vor allem der Jakobiner. Die Jakobiner wollten dem von Rousseau beklagten „widernatürlichen“ Zustand ein für allemal ein Ende setzen. Ihre „Erziehungsdiktatur“ griff zu immer härteren Mitteln, um die widerspenstige menschliche Natur zu ihrer „ursprünglichen Güte“ im Sinne von Rousseau zurückzuführen. Ohne Erfolg. Der Terror begann eine Eigendynamik zu entwickeln, die sich nicht eindämmen ließ. Schließlich richtete er sich am 9. Thermidor 1794 gegen seine jakobinischen Urheber selbst.

Lenins „Partei neuen Typs“                          I

Die Bolschewiki, die ständig in Parallelen zur Französischen Revolution dachten, waren davon überzeugt, dass es ihnen gelingen würde, die Fehler der Jakobiner zu vermeiden. Sie verfügten schließlich im Marxismus, anders als ihre jakobinischen Vorgänger, über ein geschlossenes ideologisches Konzept, das den Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ erhob.

Das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels stellte eine Art „philosophischen Prolog“ der bolschewistischen Revolution dar. Hier entwarfen die Klassiker des Marxismus die Vision einer künftigen klassenlosen Gesellschaft und beschrieben zugleich den Weg, den die Kommunisten zu beschreiten hatten, um diese Vision zu realisieren:

Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.

Siebzig Jahre sollten indes verstreichen, bis diese Postulate in die Wirklichkeit umgesetzt wurden. In der Zwischenzeit galt das „Kommunistische Manifest“ eher als ein utopischer Entwurf, weniger als eine Anleitung zum Handeln. Das Proletariat, mit dem Marx und Engels ihre chiliastischen Hoffnungen verknüpften, hat sich als revolutionäre Klasse nicht bewährt. Statt die Errichtung eines klassenlosen Paradieses auf Erden anzustreben, begnügte sich die europäische Industriearbeiterschaft lediglich mit der bescheidenen Hebung ihres Lebensstandards und mit der allmählichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Solche Ereignisse, wie der Aufstand der Pariser Arbeiter vom Juni 1848 oder die Pariser Kommune blieben nur Randerscheinungen. Diese Entwicklung hatte Lenin vor Augen, als er 1902 seine programmatische Schrift „Was tun?“ verfasste, die für die Geschichte der Arbeiterbewegung eine ebenso wegweisende Bedeutung haben sollte, wie das „Kommunistische Manifest“. In seiner Schrift hatte Lenin ausgeführt: Sozialdemokratisches Bewusstsein könne die Arbeiterschaft nur von außen empfangen. Nur die Avantgarde der theoretisch und politisch geschulten Berufsrevolutionäre könne den Proletariern das sozialistische Gedankengut vermitteln. Aus eigener Kraft gelange die proletarische Masse lediglich zum trade-unionistischen Bewusstsein. So wurde für Lenin nicht das Proletariat, sondern die Partei zum eigentlichen Subjekt der Geschichte, zu einem Demiurgen, der die neue Welt erschaffen sollte. „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben“, schrieb Lenin in „Was tun?“. Diese Aufgabe – „Russland aus den Angeln zu heben“ – wurde der von Lenin 1903 gegründeten bolschewistischen Partei anvertraut, die aufgrund ihres zentralisierten und straff disziplinierten Charakters ein Novum in der Geschichte der Arbeiterbewegung darstellte. Angesichts des von den Bolschewiki vollzogenen Paradigmenwechsels spielte die Frage nach den jeweiligen Produktionsverhältnissen oder Klassenverhältnissen, die für die orthodoxen Marxisten so wichtig gewesen war, eher eine sekundäre Rolle. Die Beschlüsse der Partei erlangten nun die absolute Priorität. Die Partei allein entschied nun, ob das jeweilige Land reif für eine proletarische Revolution sei oder nicht.

Die marxistische Doktrin stellte das Herzstück der Partei dar und die Verwirklichung dieser Doktrin wurde zum kategorischen Imperativ des Bolschewismus. Aber die Bolschewiki waren nicht nur weltfremde Doktrinäre. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten sie ihre atemberaubenden Erfolge nicht erzielen können. Das Erfolgsgeheimnis der Bolschewiki bestand darin, dass sie imstande waren, die dogmatische Intransigenz mit einem erstaunlichen Realitätssinn zu verbinden. Trotz ihrer Verachtung gegenüber den sogenannten „wankelmütigen Massen“ beherrschten sie meisterhaft die populistische Kunst der Massenbeeinflussung. Dies offenbarte sich vor allem nach dem Sturz des Zaren im Februar/März 1917. Als Lenin damals die russischen Soldaten zur Desertion und die Bauern zur gewaltsamen Enteignung der Gutsbesitzer aufrief, verletzte er alle Spielregeln des soeben errichteten demokratischen Systems in Russland. Aber auch die russischen Soldaten, Arbeiter und Bauern wollten von diesen Spielregeln nichts wissen. Der russische Philosoph Fjodor Stepun, der zu den schärfsten Kritikern der Bolschewiki zählte, schrieb: Die Offenheit Lenins gegenüber allen Stürmen der Revolution habe sich mit den dunklen destruktiven Sehnsüchten der russischen Massen zusammengefunden.

Dieser von Stepun geschilderte Umstand hat sicher dazu beigetragen, dass die Bolschewiki im Verlaufe des Jahres 1917 einen beispiellosen Aufstieg erlebten – von einer unbedeutenden Splittergruppe zum Herrscher über Russland.

„Die Utopie an der Macht“

Unmittelbar nach der bolschewistischen Machtübernahme begannen sich jedoch die Wege der Bolschewiki und der russischen Unterschichten zu trennen. Denn als politische Doktrinäre versuchten die Bolschewiki die russische Wirklichkeit über Nacht an die kommunistische Utopie anzupassen. Lew Trotzki zitiert in seinen Erinnerungen an Lenin eine Aussage des Gründers der bolschewistischen Partei etwa vom Januar 1918:

Nach einem halben Jahr werden wir den Sozialismus haben und der mächtigste Staat der Erde sein.

Die Bolschewiki versuchten indes ihre Utopie in einem Land zu verwirklichen, das aus der Sicht der orthodoxen Marxisten für solche Experimente denkbar ungeeignet war. Denn seine Bevölkerung setzte sich in ihrer überwältigenden Mehrheit aus den sogenannten bäuerlichen „Kleineigentümern“ zusammen, die Lenin selbst (April 1918) als entschlossene Feinde des Proletariats bezeichnete:

Ihre Waffe ist die Untergrabung alles dessen, was das Proletariat dekretiert und beim Aufbau einer organisierten Wirtschaft zu verwirklichen sucht.

Seit Mitte 1918 begannen die Bolschewiki in Russland ein System einzurichten, das als Verkörperung des bolschewistischen Utopismus und Voluntarismus gilt: Das System des Kriegskommunismus, das auf uferlosem Terror basierte. Der Kriegskommunismus bedeutete die Ausweitung der Staatskontrolle auf die wichtigsten Lebensbereiche, auf das gesamte politische, soziale und wirtschaftliche Geschehen. Die russische Gesellschaft, die sich 1917 gänzlich von der staatlichen Bevormundung befreit hatte, wurde nun erneut entmündigt, und zwar in einer Weise, die nicht einmal vor der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861 bestanden hatte. Viele Bolschewiki hielten den Kriegskommunismus nicht nur für einen Notbehelf, sondern für einen erstrebenswerten Zustand, für ein System, das den sozialistischen Idealen entsprach. Dazu gehörten die weitgehende Abwertung des Geldes, die Nationalisierung der Industrie und der Banken, die Zentralisierung der Wirtschaft, die Arbeitspflicht und die Abschaffung des Privathandels. Der Staat übernahm die Kontrolle über die Produktions- und Arbeitskräfte, wie auch über die Verteilung aller wichtigen Produkte. Die Partei glaubte, mit dieser Politik auf dem Weg zur Verwirklichung des klassenlosen Paradieses auf Erden zu sein. Der Kriegskommunismus symbolisierte den Versuch der Partei, die gesellschaftliche Realität der politischen Doktrin anzupassen.

Die weitgehende Entmündigung und Verstaatlichung der russischen Gesellschaft, die in der Periode des Kriegskommunismus erfolgte, rief bei der Bevölkerung hartnäckigen Widerstand hervor. Der Freiheitsrausch des Jahres 1917 wirkte noch sehr lange nach und bereitete den Bolschewiki noch jahrelang große Probleme. Anders als in Deutschland nach der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde das totalitäre Regime in Russland nicht infolge einer äußerst rasant durchgeführten Gleichschaltung, sondern erst nach einem dreijährigen Bürgerkrieg etabliert. Die Tatsache, dass die bolschewistische Machtergreifung am 25. Oktober 1917 recht glimpflich verlief, sagte noch nicht allzu viel über die wahre innere Verfassung der russischen Gesellschaft. Ihr Rückgrat war damals bei weitem noch nicht gebrochen, das Widerstandspotential durchaus vorhanden. Nicht zuletzt deshalb konnte in einem kriegsmüden Land unmittelbar nach dem Ausscheiden Russlands aus dem Weltkrieg ein grausamer Bürgerkrieg beginnen, der dem Land wesentlich mehr Opfer abverlangte als der Erste Weltkrieg. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung wandte sich während des Bürgerkrieges gegen die Bolschewiki, bekämpfte sie oder verharrte im passiven Widerstand. Angesichts dieses Sachverhalts wirkt das Überleben des Regimes wie ein Wunder. Dies um so mehr, als sich von den Bolschewiki unter anderen auch diejenigen Schichten abwandten, in deren Namen sie regierten.

Zu einer besonders gefährlichen Herausforderung für die Bolschewiki zur Zeit des Bürgerkrieges wurde die Haltung der zahlreichsten Bevölkerungsgruppe im Lande – der Bauernschaft. Das bolschewistische Dekret über den Grund und Boden vom 26.10.1917 machte die russischen Bauern praktisch zum größten Nutznießer der Oktoberrevolution. Die Enteignung der Gutsbesitzer, die in vielen Regionen bereits vor der bolschewistischen Machtergreifung illegal vollzogen worden war, wurde nun legalisiert. Die überwältigende Mehrheit der russischen Bauern war von nun an kaum daran interessiert, sich in das gesamtwirtschaftliche Gefüge des Staates zu integrieren. Dies um so weniger, als die zerrüttete russische Industrie immer weniger Waren produzierte und nicht imstande war, den Bauern für ihre Produkte ein entsprechendes Äquivalent anzubieten. So wurde die Ernährungslage der Städte immer katastrophaler. Nicht zuletzt deshalb erneuerten die Bolschewiki am 11.5.1918 das bereits von der Provisorischen Regierung am 25.3.1917 verabschiedete Gesetz über ein staatliches Getreidemonopol.

Am 11.1.1919 wurde ein Dekret über die bäuerliche Getreideablieferungspflicht, in dem der Staat seine Bedürfnisse genau definierte, erlassen. Jede Region musste nun die vom Staat genannte Menge von Getreide und anderen Nahrungsmitteln abliefern. Für die Nichteinhaltung der Ablieferungspflicht wurden die Bauern brutal bestraft. Die Auflehnung der Landbevölkerung gegen diese Politik war vorprogrammiert. Militärisch hatten die schlecht organisierten und unzureichend bewaffneten Bauern bei der Auseinandersetzung mit den bolschewistischen Terrororganen und mit den regulären Einheiten der Roten Armee natürlich keine Chance. Die Auflehnung der Bauern gegen das Regime stellte für die Bolschewiki in erster Linie einen moralischen Rückschlag dar. Denn sie hatten innerhalb kürzester Zeit die Unterstützung ausgerechnet derjenigen Bevölkerungsgruppe verloren, die von der Oktoberrevolution am stärksten profitiert hatte.

Doktrinärer Rigorismus vs. Realitätssinn

So wurde das bolschewistische Regime zur Zeit des „roten Terrors“ im Grunde von allen Bevölkerungsschichten Russlands abgelehnt, es befand sich in einer weitgehenden sozialen Isolation. Was ermöglichte dann den Bolschewiki, diese Isolation zu überstehen und den Bürgerkrieg letztendlich als überlegene Sieger zu beenden? Der Massenterror allein wäre dafür keineswegs ausreichend gewesen. Der Erfolg der Bolschewiki wurde wohl auch durch andere nicht weniger wichtige Faktoren mitbedingt. So z.B. durch ihre bereits  geschilderte Fähigkeit, den doktrinären Rigorismus mit einem erstaunlichen Realitätssinn zu vereinbaren. Charakteristisch war in diesem Zusammenhang z.B. ihre Einstellung zum bäuerlichen Eigentum.

So stellte die Abschaffung des Privateigentums eine der wichtigsten Säulen des Kriegskommunismus dar. Nur in einem Bereich bremsten die Bolschewiki ihren Drang nach einer totalen Verstaatlichung der Produktionsmittel –   im Bereich des bäuerlichen Bodenbesitzes. Im Jahre 1919, als das kriegskommunistische System sich bereits voll etablierte, befanden sich etwa 97% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche in bäuerlicher Hand. Dieser Zustand war für viele bolschewistische Puristen unhaltbar. Die Vergesellschaftung des Bodens betrachteten sie als unverzichtbaren Bestandteil des neuen wirtschaftlichen Systems.

Die maßgeblichen Kräfte innerhalb der sowjetischen Führung, nicht zuletzt Lenin, lehnten aber während des Bürgerkrieges diese Forderungen ab. Sie wollten zwar den Bauern die sogenannten Überschüsse, aber nicht den Boden entreißen. Und damit zeigten sie, dass die bäuerliche Psyche ihnen viel besser vertraut war, als ihren Kritikern. Denn sie wussten, dass jeder Versuch, die Ergebnisse der Bodenreform vom Oktober 1917 in Frage zu stellen, den ohnehin verzweifelten Widerstand der Bauern gegen die bolschewistische Politik um ein Vielfaches verstärken würde.

Ein taktischer Rückzug? Die Neue Ökonomische Politik

Das äußerst brutale System des Kriegskommunismus hat den Bolschewiki wahrscheinlich den Sieg im Bürgerkrieg ermöglicht. Aber gerade nach diesem Sieg ergaben sich neue, für den bolschewistischen Machterhalt nicht weniger gefährliche Probleme. Denn die Fortsetzung des bisherigen Kurses entbehrte nun in den Augen der Bevölkerungsmehrheit jeglicher Berechtigung. Die letzte Warnung, die die Bolschewiki erhielten, war der am 1. März 1921 ausgebrochene Aufstand der Kronstädter Matrosen. Kronstadt war von den Bolschewiki seit 1917 wiederholt als die treueste Bastion der Revolution bezeichnet worden. Nun aber, nach dem Sieg der Bolschewiki im Bürgerkrieg, erhob sich diese „treueste Bastion der Revolution“ im Namen der Sowjetdemokratie gegen die bolschewistische Diktatur. Der Aufstand wurde zwar von den Bolschewiki mit äußerster Brutalität niedergeschlagen, dennoch trug er eindeutig zur Beendigung der unhaltbar gewordenen Politik des Kriegskommunismus bei. Noch während des Aufstandes verkündete Lenin, die diktatorischen Maßnahmen in der Wirtschaft seien nur während des Bürgerkrieges gerechtfertigt gewesen. Nun aber sei der Bürgerkrieg zu Ende und daher die Fortsetzung dieser Politik nicht mehr vertretbar. In der Rede wurden zugleich die Grundsätze der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) angekündigt, deren Kern die Befreiung der Bauern vom staatlichen Zwangssystem darstellte.

Der neue Kurs kam aber eindeutig zu spät, er vermochte die 1921 begonnene Hungerkatastrophe – sicher die bis dahin größte in der Geschichte Russlands – nicht zu verhindern. 5 Millionen Menschen fielen ihr zum Opfer. Dessen ungeachtet kam es bereits im Jahre 1922 zu einem recht schnellen Wiederaufbau der russischen Landwirtschaft.

Die Stalinsche Revolution von oben

Obwohl der Versuch der Bolschewiki, ihre gesellschaftliche Utopie zu verwirklichen im ersten Anlauf scheiterte, hörte diese utopische Vision keineswegs auf, die Partei zu inspirieren. An diese utopistischen Energien appellierte nun Stalin. Er wusste, dass der bauernfreundliche Kurs bei den meisten Bolschewiki sehr unpopulär war, denn er verurteilte die Partei zu Untätigkeit und Anpassung an die elementaren Kräfte der sowjetischen Gesellschaft. Dies  widersprach aber der von Lenin entwickelten Konzeption der Partei als Avantgarde, die ihren Willen den Massen vermitteln und sogar aufzwingen sollte. So knüpfte Stalin mit seinem 1929/30 begonnenen Programm der Kollektivierung der Landwirtschaft, der sich in einen Feldzug gegen die gesamte sowjetische Bauernschaft verwandelte, durchaus an die wichtigsten Wesenszüge des kriegskommunistischen Systems an. Erneut versuchte die bolschewistische Führung die gesellschaftliche Realität mit Hilfe des Massenterrors der Doktrin anzupassen. Allerdings mit dem Unterschied, dass sie nun den Bauern nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihr gesamtes Eigentum zu entreißen suchte. Dadurch sollte eines der wichtigsten Ergebnisse der bolschewistischen Revolution – die radikale Bodenreform vom Oktober 1917 – rückgängig gemacht werden (siehe dazu meine Kolumne vom 22. Oktober 2019).

Ende 1933 konnte der sowjetische Staat seinen Sieg über die wehrlose Landbevölkerung feiern. Die von vielen Beobachtern als undurchführbar eingestufte Aufgabe – Enteignung von mehr als 100 Millionen Bauern – war vollbracht worden. Ein Teil der Parteiführung hielt nun die Verlängerung des 1929/30 verhängten Ausnahmezustandes nicht mehr für sinnvoll. Damit verkannten sie aber die Eigendynamik der von ihnen ausgelösten Prozesse völlig. Das zu Beginn der 1930er Jahre errichtete System stellte einen permanenten Ausnahmezustand dar und räumte während des sogenannten „Großen Terrors“ von 1936-1938 diejenigen Kräfte, die sich gegen seine „Logik“ wehrten, aus dem Weg, darunter auch einen großen Teil der bolschewistischen Machtelite.

Trotz ihres tragischen Schicksals dürfen aber die bolschewistischen Opfer des Großen Terrors aus ihrer Verantwortung für die stalinistische Despotie nicht entlassen werden. Sie wollten mit Hilfe uferloser Gewalt ein sozialistisches Paradies auf Erden errichten. Statt eines Paradieses schufen sie aber ein System, das der russische Philosoph Butenko zur Zeit der Gorbatschowschen Perestroika als eine „Hölle auf Erden“ bezeichnete.

Der deutsch-sowjetische Krieg und die „spontane Entstalinisierung“

Die Stalinsche Revolution von oben, die zu einer weitgehenden Gleichschaltung sowohl der sowjetischen Gesellschaft als auch der alleinherrschenden Partei führte, schien den Freiheitsdrang in Russland bzw. in der UdSSR endgültig erstickt zu haben. Alle Teile der Gesellschaft schienen sich in willenlose „Schräubchen“ eines reibungslos funktionierenden totalitären Mechanismus verwandelt zu haben (der Begriff „Schräubchen“ in Bezug auf die Sowjetbürger geht auf Stalin zurück. Er verwendete ihn in einem Trinkspruch anlässlich des Sieges über das Dritte Reich).

Um so erstaunlicher war das Verhalten der vom Regime unterjochten Bevölkerung nach dem Hitlerschen Überfall auf die Sowjetunion. Nach dem verheerenden Debakel der Roten Armee im Sommer und Herbst 1941 schien das Schicksal des sowjetischen Staates besiegelt zu sein. Was machte es dann den sowjetischen Streitkräften möglich, die siegesgewohnte Wehrmacht zunächst bei Moskau und dann in Stalingrad aufzuhalten und einen Gegenangriff zu starten, der erst in Berlin sein Ende fand? „Willenlose Schräubchen“ wären dazu nicht in der Lage gewesen. Ohne die Eigeninitiative der Gesellschaft, ohne die „spontane Entstalinisierung“ (dieser Begriff wurde vom Moskauer Historiker Michail Gefter geprägt) wäre die Bezwingung des Dritten Reiches nicht möglich gewesen. Vor allem aber trug dazu die Sehnsucht unzähliger Sowjetbürger nach einem würdevollen, freien Leben bei, das nach dem Krieg beginnen sollte.

Die Gesellschaft, der die Stalin-Riege in den 1930-er Jahren praktisch das Rückgrat gebrochen hatte, hatte nun in der Stunde der tödlichen Bedrohung nicht nur für das stalinistische Regime, sondern auch für den eigenen Staat als solchen, zumindest ein Stückchen ihrer Würde wiedererlangt.

Die Dämmerung des Sowjetreiches

Nach dem Sieg über das Dritte Reich gelang es Stalin schnell, die auf ihren Sieg so stolze Nation zu disziplinieren. Diejenigen Beobachter, die meinten, die sowjetischen Soldaten würden sich nach der Rückkehr aus Berlin ähnlich verhalten, wie dies ihre Vorgänger getan hatten, als sie nach der Bezwingung Napoleons aus Paris nach Sankt Petersburg zurückkehrten, sahen sich enttäuscht. Eine Neuauflage des Dekabristenaufstandes fand in der Sowjetunion nicht statt. Die Sehnsucht nach Freiheit und nach würdevollem Leben, die den Sieg über den NS-Staat mitbedingt hatte, schien erloschen. In Wirklichkeit war sie aber aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein keineswegs verschwunden. Dieser Sehnsucht kamen die Nachfolger Stalins entgegen, als sie bereits wenige Tage nach dem Tode des Tyrannen mit der Demontage des von ihm errichteten Systems begannen. Obwohl diese Demontage zaghaft und halbherzig blieb, obwohl sie in einer bürokratischen Manier – in der Form einer paternalistischen Schenkung – durchgeführt wurde, stellte der Tod Stalins eine der größten Zäsuren in der neuesten Geschichte Russlands dar. Diese Zäsur setzte der beinahe 40jährigen Gewaltspirale, die die Entwicklung des Landes seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, mit einer kurzen Unterbrechung in den 1920er Jahren, geprägt hatte, ein Ende. Die Machthaber begannen sowohl im Umgang miteinander als auch im Umgang mit der Gesellschaft bestimmte Spielregeln zu beachten. Ihre Vorgehensweise wurde berechenbarer. Nur das regimekritische Verhalten wurde nun bestraft, das regimetreue und konforme hingegen belohnt. Unter Stalin gab es solche Regeln nicht.

Nur in einer solchen etwas milderen politischen Atmosphäre war die Entstehung der Bürgerrechtsbewegung möglich, die sich offen für Menschen- und Grundrechte einsetzte. Zwar vermochten die Bürgerrechtler breitere Bevölkerungsschichten nicht zu beeinflussen. Dessen ungeachtet gelang es ihnen, die politische Kultur im Lande grundlegend zu verändern. In einem unfreien Land hätten sich die Bürgerrechtler wie freie Menschen verhalten, so einer der führenden Vertreter der Bewegung Andrej Amalrik.

Die Bürgerrechtsbewegung war nicht imstande, ihre Ziele auf direktem Wege zu verwirklichen, alle ihre organisatorischen Strukturen wurden bereits Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre zerschlagen. Als ihr nachträglicher Sieg lässt sich indes die Tatsache bewerten, dass das Gorbatschowsche „Neue Denken“ sich in manchen Punkten, bewusst oder unbewusst, an die von den Bürgerrechtlern entwickelten Denkmodelle anlehnte. Und dadurch löste der Generalsekretär des ZK der KPdSU ungewollt eine der größten Umwälzungen in der Geschichte des 20. Jahrhunderts aus. Denn die „Klassenkampfmoral“, die das Herzstück der kommunistischen Ideologie darstellt, ließ sich mit dem von Gorbatschow propagierten „absoluten Vorrang der allgemein menschlichen Werte“ – eine, wenn auch unbewusste Anlehnung an das Programm der sowjetischen Bürgerrechtler – nicht vereinbaren. Die bis dahin geltende kommunistische Wertehierarchie wurde gesprengt und mit ihr das gesamte Gebäude, das auf ihr basierte.

 

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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