Putins Wiederwahl aus historischer Perspektive

Das Verhalten der russischen Wähler gilt vielen Analytikern im Wesentlichen als vorhersehbar. Es gab allerdings Perioden in der neuesten russischen Geschichte, in denen sich die Dinge ganz anders verhielten. Historisch-politische Betrachtungen zu den Wahlen in Russland anlässlich der Wiederwahl Putins zum russischen Staatspräsidenten.


Die Tatsache, dass Wladimir Putin am 18. März 2018 die Präsidentschaftswahlen in Russland zum vierten Mal gewonnen hat, stellt bekanntlich keine Überraschung dar. Seit der Errichtung des Systems der „gelenkten Demokratie“ in Russland im Jahre 2000 sind die Ergebnisse der russischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Wesentlichen vorhersehbar. Als der Direktor des russischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, Lew Gudkow, in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ (20.2.2018) gefragt wurde, was er über die Präsidentschaftswahlen vom 18. März sagen könne, antwortete er:

Streng genommen sind das keine Wahlen. Man muss (dafür) eigentlich andere Begriffe finden; vielleicht Plebiszit oder Akklamation. Es ist ein Bestätigungsritual für einen, der bereits an der Macht ist.

Die Ukraine als Vorbild?

Insofern unterscheidet sich das heutige Russland wesentlich von seinem ukrainischen Nachbarn, zumindest seit der „orangenen Revolution“ von 2004. Denn seit dieser Zeit halten sowohl Parlaments- als auch Präsidentschaftswahlen in der Ukraine immer wieder Überraschungen für die Wahlbeobachter parat. Nicht zuletzt deshalb bezeichnete der amerikanische Politologe Zbigniew Brzezinski in der Warschauer Zeitung „Gazeta Wyborcza“ vom November 2007 die Ukraine sogar als den „älteren Bruder“ Russlands und begründete dies folgendermaßen:

Im politischen Sinne hat die Ukraine im Gegensatz zu Russland eine erstaunliche Reife gezeigt …Wir sollten einen Blick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den beiden Ländern werfen. Wenn man nicht weiß, wer die Wahlen gewinnen wird, dann kann man sicher sein, dass man es mit einer Demokratie zu tun hat. In Russland weiß man aber noch vor den Wahlen, wer diese gewinnen wird. Und so verbleibt Moskau als der einzig sinnvolle Entwicklungsweg – die Nachahmung der Ukraine.

Die unbotmäßige Staatsduma in der Zeit der „Dämmerung“ der Zarenmonarchie

Die Tatsache, dass die russischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen so leicht vorhersehbar sind, führen manche Analytiker auf den russischen Nationalcharakter zurück, so etwa auf die Obrigkeitstreue, die in der russischen Mentalität angeblich tief verankert sei. Bei einer genaueren Betrachtung verliert dieses Argument indes erheblich an seiner Überzeugungskraft. In der neuesten Geschichte Russlands gab es durchaus Perioden, in denen sich die Mehrheit der russischen Wähler keineswegs regierungskonform verhielt. Dies betraf bereits die ersten russischen Parlamentswahlen, die nach der Einführung der Gewaltenteilung im Zarenreich (1905/06) stattfanden. Ihr Ergebnis stellte für das regierende Petersburger Establishment einen wahren Schock dar. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Vertreter der russischen Machtelite von der Zarentreue der russischen Volksschichten überzeugt. Nicht zuletzt deshalb begünstigte das Wahlgesetzt zur ersten russischen Staatsduma, die im April 1906 gewählt werden sollte, die russische Bauernschaft. Die Kurie der Bauern durfte mehr als 40% der Abgeordneten wählen (Russland hatte damals ein Mehrklassenwahlrecht). Doch wählten die Bauern in ihrer großen Mehrheit nicht konservative, sondern regimekritische und revolutionäre Parteien. Die im Februar 1907 gewählte zweite Staatsduma war noch radikaler als die erste. Beinahe die Hälfte der Abgeordneten war sozialistischer Orientierung. Nicht zuletzt wegen ihrer Unbotmäßigkeit wurde die zweite Staatsduma von dem damaligen russischen Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin im Juni 1907 aufgelöst. Zugleich wurde auch ein neues Wahlgesetzt verabschiedet, das die Kurie der Bauern beinahe halbierte und die Kurie der konservativ gesinnten Gutsbesitzer erheblich stärkte.

Die Zerschlagung der russischen Konstituante mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit durch die Bolschewiki

Auch die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, die in Russland Mitte November 1917, also einige Wochen nach dem bolschewistischen Staatsstreich vom Oktober 1917, staatfanden, verliefen nicht nach dem Wunsch der damaligen Machtelite. Die bolschewistische Partei erlitt hier ein wahres Wahldebakel und erzielte lediglich 24% der Stimmen. Die überwältigende Mehrheit der russischen Wähler hatte sich für die Parteien ausgesprochen, die in Russland eine freiheitliche Gesellschaftsordnung errichten wollten. Dennoch waren die Bolschewiki keinesfalls bereit, dieses Wählervotum zu akzeptieren. Sie fühlten sich nicht den „wankelmütigen“ Mehrheiten, sondern der Geschichte und der „alleingültigen“ marxistischen Interpretation der geschichtlichen Vorgänge verpflichtet. Den Kräften, die diesen ihren „Auftrag“ zu gefährden drohten, sogar wenn es die werktätigen Massen waren, in deren Namen sie regierten, sagten sie unversöhnlichen Kampf an. Nicht zuletzt deshalb wurde die russische Konstituante mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit von der sowjetischen Regierung am 18. Januar 1918 gewaltsam aufgelöst. Für diesen Vorgang mussten aber die Bolschewiki einen hohen Preis bezahlen, denn sie entzogen dadurch ihrer Herrschaft jede demokratische Legitimität.

Die  verunsicherte Parteinomenklatura in der Zeit der Perestroika

Die im Januar 1918 von den Bolschewiki verbannten demokratischen Einrichtungen begannen erst im Zuge der Gorbatschowschen Perestroika in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre allmählich auf die politische Bühne des Landes zurückzukehren. Im März 1989 fanden in der Sowjetunion die Wahlen zum Kongress der Volksdeputieren statt, die bei den Vertretern des  herrschenden Establishments einen vergleichbaren Schock auslösten, wie dies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei der zarischen Bürokratie nach den Wahlen zur ersten Staatsduma der Fall gewesen war. Diese Wahlen hatten zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten keinen rein akklamatorischen Charakter. Über das Schicksal der einzelnen Politiker entschied nun nicht nur das Wohlwollen ihrer Vorgesetzten, sondern auch das Verhalten der Wähler. Das politische Handeln der Parteinomenklatura erschöpfte sich bis dahin im Reglementieren und Verordnen, nun mussten sie auch überzeugen. Dies fiel vielen von ihnen außerordentlich scher. Ihre Wahlniederlagen im Frühjahr 1989 haben dies deutlich gezeigt. Den Höhepunkt dieser Entwicklung stellten die russischen Präsidentschaftswahlen vom 12. Juni 1991 dar. Erneut verhielt sich die Mehrheit der russischen Wähler anders, als man dies von ihnen erwartet hatte, also nicht regierungskonform. Denn Boris Jelzin, der damals die „demokratische Wahl“ Russlands verkörperte, erhielt auf Anhieb 57% der Stimmen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass seine kommunistischen Widersacher damals alle Machthebel im Staate unangefochten kontrollierten. Diese Macht war aber in den Augen der Bevölkerungsmehrheit durch nichts mehr legitimiert. Diese Erosion der legitimatorischen Basis des kommunistischen Systems führte damals dazu, dass es während des Putschversuchs der Reformgegner im August 1991 wie ein Kartenhaus zusammenbrach. Es hatte im Grunde so gut wie keine Verteidiger mehr. Im Zweikampf zwischen der unpopulären Macht (der herrschenden kommunistischen Bürokratie) und der machtlosen Popularität (den Demokraten um Boris Jelzin) erwiesen sich die letzteren als die überlegenen Sieger.

Die Wahlniederlagen der Reformer in der Jelzin-Ära

Aber auch die siegreichen Demokraten sollten etwa zweieinhalb Jahre später mit dem völlig unerwarteten Verhalten der russischen Wähler konfrontiert werden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie innerhalb kürzester Zeit ihr im August 1991 gewonnenes Vertrauenskapital weitgehend verspielt hatten. Als erstes muss man in diesem Zusammenhang die im Dezember 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion nennen, die von vielen imperial gesinnten Kreisen Russlands als eine Art Apokalypse erlebt wurde. Unmittelbar danach – im Januar 1992 – begann die wirtschaftliche Schocktherapie. Der Lebensstandard der Bevölkerung wurde zunächst beinahe halbiert. Dazu kam noch der immer schärfer werdende Konflikt zwischen der demokratisch legitimierten Exekutive (Staatspräsident) und der Legislative (Kongress der Volksdeputierten), die ihre Legitimität in erster Linie aus der Breschnewschen Verfassung von 1978 schöpfte. So entstand im postsowjetischen Russland eine Art „Doppelherrschaft“, die das Gewaltmonopol des Staates in einem immer stärkeren Ausmaß aushöhlte. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den beiden Gewalten stellten die bewaffneten Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt Anfang Oktober dar, nachdem Boris Jelzin am 21. September das russische Parlament per Dekret auflöste. Die von vielen Fernsehstationen live übertragene Erstürmung des Parlamentssitzes hinterließ ein tiefes Trauma im Bewusstsein der Bevölkerung und trug zusätzlich zur Diskreditierung der demokratischen Ideen bei. Nicht zuletzt deshalb endeten die Wahlen zur ersten Staatsduma im postsowjetischen Russland (12. Dezember 1993) mit einem Debakel der regierenden Reformer. Ihre radikalen Gegner von rechts und von links erhielten beinahe die Hälfte der Parlamentssitze. Besonders erfolgreich war damals die rechtsradikale Partei von Wladimir Schirinowski (LDPR), die beinahe 23% der Stimmen erzielte: „Russland, du hast den Verstand verloren“, kommentierte das damalige Wahlergebnis der Moskauer Literaturkritiker Jurij Karjakin.

Die gelenkte Demokratie Wladimir Putins und ihre Widersacher

Obwohl es Jelzin selbst war, der im Herbst 1999 Wladimir Putin zu seinem Nachfolger auserkor, unterschied sich der Herrschaftsstil des neuen Präsidenten von Anfang an von demjenigen seines Vorgängers. Im Zentrum der Aufmerksamkeit Putins stand nicht die Auseinandersetzung mit dem diktatorischen Erbe Russlands, sondern das Law-and-Order-Prinzip und das Bemühen um die Stärkung der sogenannten Machtvertikale auf Kosten zentrifugaler und autonomer Kräfte im Lande. In seinem „Offenen Brief an die Wähler Russlands“ vom Februar 2000  bezeichnete Putin den Rechtsstaat als ein Gemeinwesen, in dem die „Diktatur des Gesetzes“ vorherrsche. Diese paradoxe Verbindung von zwei entgegengesetzten Begriffen veranlasste den vor einigen Jahren verstorbenen Kölner Politikwissenschaftler Assen Ignatow zum folgenden Kommentar: „Wo es Gesetze gibt, gibt es keine Diktatur, und die Wortbindung `Diktatur des Gesetzes` bedeutet, dass Diktatur und Gesetz nur das gemein haben, dass sie zwingende Kraft besitzen, die aber in entgegengesetzte Richtungen wirkt“.

Man muss allerdings sagen, dass Putins Parolen die russische Öffentlichkeit durchaus beeindruckten. Man verstand sie als eine Kampfansage an die Korruption und an das organisierte Verbrechen, die im damaligen Russland bereits erschreckende Ausmaße annahmen. So agierten Mitte der 90er Jahre auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion nach Schätzungen des russischen Innenministeriums 8000 kriminelle Organisationen. 40% der privaten und 60% der staatlichen Unternehmen wurden von Mafiastrukturen kontrolliert.

Auch das Vorgehen Putins gegen manche Finanzmagnaten, die sogenannten „Oligarchen“, die seit Beginn der 90er Jahre märchenhaften Reichtum in ihren Händen angehäuft hatten, stieß auf Verständnis bei vielen Russen. Dabei profitierte das Regime von den im Lande tief verankerten egalitaristischen Traditionen. Der russische Historiker Georgij Fedotow sagte in diesem Zusammenhang: „Von allen Formen der Gerechtigkeit, steht die Gleichheit für die Russen an erster Stelle“.

Eines wurde allerdings bei diesem populistischen Feldzug Putins gegen die „Oligarchen“ zunächst zu wenig beachtet. Die Strafaktionen des Regimes richteten sich in erster Linie gegen diejenigen Finanzmagnaten, die sich besonders aktiv im demokratischen Spektrum der politischen Landschaft  engagierten, so gegen Wladimir Gussinskij – den Besitzer des einflussreichen und regimekritischen Fernsehsenders NTW oder gegen Michail Chodorkowskij, der demokratische Gruppierungen im Lande großzügig unterstützte, nicht zuletzt mit Hilfe seiner Stiftung „Otkrytaja Rossija“ (Offenes Russland). Die regimetreuen Oligarchen hingegen, und das war die überwältigende Mehrheit, wurden zunächst kaum behelligt.

Die skandalumwitterte Übernahme des unbotmäßigen Fernsehsenders NTW durch den Staatskonzern Gazprom im Frühjahr 2001 zeigte dann deutlich, in welche Richtung sich die Putinsche „gelenkte Demokratie“ von nun an bewegen sollte. Sie zielte auf eine weitgehende Demontage der zivilgesellschaftlichen und rechtsstaatlichen Strukturen hin, die in der Gorbatschowschen und in der Jelzinschen Periode im Lande entstanden waren. Abgesehen davon gerieten weite Teile der Wirtschaft erneut in eine Abhängigkeit vom Staat. Die Politologinnen Margareta Mommsen und Angelika Nußberger schrieben: „Hatte man seinerzeit vom state capture durch die neuen Wirtschaftsmagnaten gesprochen, so kehrte sich nun der Trend um, nämlich zum business capture durch staatliche Akteure“.

Die Regionen mussten ihrerseits viele ihrer in den 90er Jahre erworbenen Kompetenzen an die Zentrale zurückgeben. Und das Parlament? Trotz seiner schwachen Stellung in einem Präsidialstaat stellte es in der Jelzin-Periode einen Ort dar, in dem sich demokratisch gesinnte, regierungskritische Abgeordnete lautstark zu Wort melden konnten. Diese Rolle als Diskussionsplattform und als ein gewisses Gegengewicht zur Exekutive hat die Staatsduma in der Putin Periode beinahe gänzlich eingebüßt. Ähnliche Prozesse vollzogen sich auch in der Medienlandschaft. Die elektronischen Medien wurden nun, wenn man von solchen autonomen Inseln wie der Radiosender „Echo Moskwy“ oder der Fernsehsender „Doschd“ absieht, weitgehend gleichgeschaltet. Auch auf die Printmedien begann das Regime einen immer stärkeren Druck auszuüben. Diejenigen Presseorgane, die sich immer noch als Vertreter der „vierten Gewalt“ verstehen, z.B. die „Nowaja gazeta“, berichten wiederholt über Behinderungen, mit denen ihre Korrespondenten konfrontiert werden.

Warum lässt die herrschende Bürokratie die kleinen Gruppen der Demokraten, die nur wenig Rückhalt bei der Bevölkerung besitzen, nicht einfach gewähren? Warum verletzt sie immer wieder viele demokratische Spielregeln und riskiert damit einen zusätzlichen Prestigeverlust in den Augen der Weltöffentlichkeit? Eine der Ursachen dafür ist die Angst der Machthaber vor einer bunten Revolution nach georgischem oder ukrainischem Muster. Der andere Grund, der die Machthaber verunsichert, besteht darin dass sie immer noch keine Dauerlösung für die Institutionalisierung ihrer Herrschaft gefunden haben. Sie verfügen über keine herrschende Partei nach dem Vorbild der KPdSU. Die Partei „Einiges Russland“ stellt lediglich ein recht heterogenes Gebilde dar  und wird für ihr mangelndes Profil von Putin selbst immer wieder kritisiert. Die Kreml-Riege verfügt auch über keine kohärente, allgemeinverpflichtende Ideologie nach kommunistischem Vorbild. Die Etablierung einer solchen Ideologie wird übrigens im Artikel 13, Absatz 2 der Verfassung der Russischen Föderation verboten. Zwar versuchte einer der Kreml-Ideologen, Wladislaw Surkow, das Regime Putin als die sogenannte „souveräne Demokratie“ zu definieren und damit einen Ersatz für die fehlende Staatsideologie zu konstruieren. Dieses Konstrukt vermochte aber weder das herrschende Establishment noch die Bevölkerung zu inspirieren. Eine andere Schwäche des Systems ist seine Fixierung auf die Person des jetzigen Staatspräsidenten. Die bereits erwähnten Margareta Mommsen und Angelika Nußberger heben hervor: „Das System Putin ist von seiner Funktionslogik her gar nicht reproduzierbar, da es ganz auf die in Putin personalisierte Macht ausgelegt ist“

Konfrontation oder Normalisierung? Einige Betrachtungen über das künftige Ost-West-Verhältnis

Alle diese Unsicherheitsfaktoren beunruhigen die Machthaber und steigern ihre Angst vor einer russischen „farbigen“ Revolution. Zwar haben die Demokraten ihre im August 1991 erworbene Chance, das Land zu erneuern, nicht ausreichend genutzt. Dessen ungeachtet sind es vor allem die demokratischen Ideen, die den Zeitgeist in einer besonders adäquaten Weise verkörpern – das Streben des modernen Menschen nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung wie auch nach der Befreiung von der allgegenwärtigen Präsenz des paternalistischen Staates. Diese Ideen haben Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre Russland bis zur Unkenntlichkeit verändert und entscheidend zum Zusammenbruch des scheinbar unbesiegbaren kommunistischen Leviathans beigetragen. Aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein sind sie, trotz ihrer scheinbaren Diskreditierung, keineswegs verschwunden. Man hat dies in den letzten Jahren immer wieder erlebt. So nach der sogenannten Rochade vom September 2011, als der amtierende Staatspräsident Dmitrij Medwedew und der damalige Ministerpräsident Putin die Absicht bekundeten, ihre Ämter zu tauschen: „27 Prozent äußerten damals in unseren Umfragen ihren Unmut darüber“, so der Soziologe Lew Gudkow in dem bereits erwähnten SZ-Interview. Danach kamen die Massenproteste vom Dezember 2011 gegen massive Manipulationen bei den Wahlen zur Staatsduma, die ihre Fortsetzung im Frühjahr 2012 fanden, und zwar im Zusammenhang mit der damaligen Präsidentenwahl. Erst die nationale Euphorie, die in Russland infolge der Annexion der Krim im März 2014 begann (die Zeitung „Nowaja Gaseta“ sprach in diesem Zusammenhang sogar von einem „patriotischen Tsunami“) führte zu einer erneuten Steigerung der Popularität des russischen  Staatspräsidenten. Es fehlte damals aber auch nicht an Stimmen, die vor den gefährlichen Folgen der Krim-Annexion warnten. Putin habe durch diesen Schritt zwar einen taktischen Erfolg erzielt, aber zugleich einen beispiellosen strategischen Fehler begangen, so der am 27. Februar 2015 ermordete Oppositionsführer Boris Nemzow in einem Interview mit der Zeitung „Nowaja Gazeta“ vom April 2014. Die Folgen dieses strategischen Fehlers würden gravierend sein, setzt Nemzow seine Gedankengänge fort. Russland erwarteten nun der Verlust der Märkte in Europa und in Amerika, wirtschaftliche Erschütterungen und technologische Rückständigkeit. Die im Kreml gehegte Hoffnung, China werde den Verlust der westlichen Märkte kompensieren, hält Nemzow für eine völlige Illusion. China werde seine Monopolstellung dazu ausnutzen, um die Preise für die russischen Energielieferungen massiv nach unten zu drücken.

Die Voraussagen Nemzows vom April 2014 sollten sich innerhalb kürzester Zeit erfüllen.

Auch der Moskauer Historiker Alexej Kiwa hält die immer schärfer werdende Ost-West-Konfrontation für einen Vorgang, der Moskaus Kraftreserven viel zu stark strapaziere. In diesem Zusammenhang nannte er in seinem Artikel, der im November 2017 in der Moskauer Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ erschien,  folgende Zahlen: „Russlands Anteil an den globalen Rüstungsausgaben beträgt 4%, derjenige der USA 40-50% und derjenige der NATO-Staaten insgesamt 70-75%: Russlands Anteil am globalen BIP beträgt 1,5-2%, derjenige der USA und der EU jeweils 20%“. Ob Russland sich angesichts dieses Ungleichgewichts der Kräfte eine allzu lange Konfrontation mit dem Westen leisten könne, bezweifelt der Historiker: Früher oder später werde Russland dazu gezwungen sein, die Beziehungen mit dem Westen zu normalisieren und das gegenseitige Vertrauen wiederherzustellen, meint Kiwa in seinem Fazit.

Wie sich diese aus der Sicht Kiwas unvermeidliche Normalisierung des Ost-West-Verhältnisses auf das künftige russische Machtgefüge und das künftige Verhalten der Wähler auswirken wird, steht noch offen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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