Eine vertane Chance? Zum 25. Jahrestag der Moskauer Augustrevolution

Nach dem Staatsstreich vom 7. November 1917 verteidigten die Bolschewiki ihr Machtmonopol im Lande mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Es gelang ihnen in den nächsten sieben Jahrzehnten mehrere beinahe ausweglose Krisen zu überstehen. Warum scheiterten sie ausgerechnet an der Perestroika?


Am 21. August jährt sich zum 25. Mal das Scheitern des Putschversuchs der Moskauer Dogmatiker, die dem Erneuerungsprozess im Lande, den die Gorbatschowsche Perestroika in die Wege geleitet hatte, ein Ende setzen wollten. Dass dieser Versuch der Reformgegner, das „Rad der Geschichte“ gewaltsam zurückzudrehen, so kläglich scheiterte, stellte nicht nur für unzählige Analytiker, sondern auch für viele demokratische Gegner der Putschisten eine gänzliche Überraschung dar.

Verunsicherte Parteibürokratie

Seit dem bolschewistischen Staatsstreich vom 7. November 1917, der die acht Monate zuvor entstandene  „erste“ russische Demokratie mit spielender Leichtigkeit beseitigt hatte, haben sich die russischen und später die sowjetischen Demokraten an ihr Image als „ewige Verlierer“ gewöhnt. Dies war auch Ende der 1980er Jahre der Fall, ungeachtet der Tatsache, dass sich ihr wichtigster Widersacher – die allmächtige Parteibürokratie – durch den von Michail Gorbatschow verkündeten Reformkurs außerordentlich verunsichert fühlte. Besonders deutlich wurde dies nach den Wahlen zum Kongress der Volksdeputierten im Frühjahr 1989 sichtbar. Die Tatsache, dass diese Wahlen zum ersten Mal seit der Errichtung des „stalinistischen Kommandosystems“ keinen rein akklamatorischen Charakter hatten, versetzte die Parteioligarchie buchstäblich in Panik. Bis dahin hing die berufliche Karriere und das politische Wohlergehen der Parteifunktionäre beinahe ausschließlich vom Willen ihrer jeweiligen Vorgesetzten ab. Nun kam aber ein neuer Unsicherheitsfaktor hinzu – das Verhalten der Wähler. Das politische Handeln der Parteifunktionäre erschöpfte sich bisher im Reglementieren und Verordnen, nun mussten sie auch überzeugen. Dies fiel vielen von ihnen außerordentlich schwer. Ihre Wahlniederlagen im Frühjahr 1989 haben dies deutlich gezeigt.

Noch stärker als durch die Wahlen wurden die bestehenden Machtstrukturen durch die zweiwöchigen Debatten des Kongresses der Volksdeputierten (Mai/Juni 1989) erschüttert. Millionen, die wie gebannt den Verlauf der Debatten vor den Fernsehschirmen verfolgten, erfuhren über den tatsächlichen Zustand ihres Staates und über die Mängel des bestehenden Systems so viel, dass es wohl nicht mehr möglich war, das Land wie bisher zu regieren.

Der Massenterror war für das Bestehen des bolschewistischen Regimes, zumindest in seinem reiferen Stadium, nicht unbedingt erforderlich. Hier haben sich manche Klassiker der Totalitarismustheorie geirrt. Auch die totale Kontrolle über die Produktionsmittel stellte keine unerlässliche Voraussetzung für das Überdauern des Systems dar. Das Vorhandensein eines starken wirtschaftlichen Privatsektors in der Periode der Neuen Ökonomischen Politik in den 1920er Jahren hat die Alleinherrschaft der Bolschewiki in keiner Weise gefährdet. Was dieses System aber nicht verkraften konnte, das war die Wahrheit über sich selbst.

„Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“

Als Gorbatschow während der Perestrojka verkündete: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum atmen“, läutete er damit im Grunde das Ende des Bolschewismus ein. Denn das demokratische Prinzip, das die Bolschewiki nach der Zerschlagung der Verfassunggebenden Versammlung mit ihrer überwältigenden nichtbolschewistischen Mehrheit (18. Januar 1918) aus ihren Staatsstrukturen verbannt hatten, musste zwangsläufig das auf lückenlose Kontrolle programmierte kommunistische System aus den Angeln heben. Bereits 1919 schrieb der sozialdemokratische Theoretiker Karl Kautsky, der zu den schärfsten Kritikern des Bolschewismus zählte, Folgendes:

Die Bolschewiki sind bereit, um sich (an der Macht) zu halten, alle möglichen Konzessionen der Bürokratie, dem Militarismus, dem Kapitalismus zu machen. Aber eine Konzession an die Demokratie erscheint ihnen als Selbstmord.

So grenzt es beinahe an ein Wunder, dass die ans Herrschen gewohnte Parteibürokratie die Etablierung der ersten Ansätze für eine zivile Gesellschaft im Lande, wenn auch unter heftigen Protesten, zunächst zuließ. Das in sich geschlossene kommunistische Staatsgebäude erhielt einen Riss, der im Laufe der Zeit immer tiefer wurde. Beide Strukturen – das bereits angeschlagene Kommandosystem und die noch äußerst schwachen demokratischen Einrichtungen – speisten sich aus völlig unterschiedlichen legitimatorischen Quellen und konnten daher nicht miteinander kooperieren, denn jedes der Systeme verneinte das andere. Sie brauchten einen Vermittler, und dies war Michail Gorbatschow, der sowohl die Eigenschaften eines Reformers als auch die eines Apparatschiks in sich vereinte. Eine Zeitlang fungierte er als eine Art Brücke zwischen den beiden Kontrahenten. So wies das von ihm errichtete System in der ersten Phase der Perestroika durchaus Ähnlichkeiten mit dem Bonapartismus-Modell auf, wie es von Karl Marx in seiner Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ beschrieben worden war. Auch Louis N. Bonapartes Aufstieg war nicht zuletzt dadurch bedingt, dass er zwischen Kräften vermittelte, die sich gegenseitig neutralisierten, nämlich zwischen dem Dritten und dem Vierten Stand (Proletariat).

Indes strebt jede Gesellschaft, die ihren Selbsterhaltungstrieb nicht gänzlich eingebüßt hat, danach, den Zustand der Doppelherrschaft – wie er sich auch im Zuge der Perestroika ergeben hatte – so schnell wie möglich zu beseitigen, denn der legitimatorische Wirrwarr macht nicht nur wirksame Reformen unmöglich, sondern auch das Funktionieren des Staatsmechanismus als solchen. So steuerte die Entwicklung in der UdSSR unvermeidlich auf eine Konfrontation zu. Gorbatschows Stellung büßte ihre bonapartistischen Züge ein. Aus einem Schiedsrichter verwandelte er sich in einen Puffer zwischen den beiden Konfliktparteien. Dabei waren die Demokraten am Fortbestand dieses Puffers weit stärker interessiert als die Dogmatiker, denn sie fühlten sich ihren Gegnern, ähnlich wie in den früheren Konfliktsituationen, hoffnungslos unterlegen.

Nicht anders verhielt es sich mit den Demokraten auch zu Beginn des Jahres 1991 als die Reformgegner zu einem Gegenschlag ausholten. Die Chancen für das restaurative Vorhaben der Gegner der Perestroika schienen damals in der Tat sehr günstig. Den USA und ihren Verbündeten waren die Hände durch den Golfkrieg gebunden. So konnten sie nicht allzu entschlossen auf das brutale Vorgehen der Dogmatiker, vor allem im Baltikum im Januar 1991 (Vilnius und Riga), reagieren. Im Lager der sowjetischen Demokraten machte sich eine Art Endzeitstimmung breit. Die Soziologin Tatjana Saslawskaja bezeichnete Mitte Februar 1991 die dogmatische Wende in der Sowjetunion als einen Prozess, der nicht Jahre, sondern wahrscheinlich Jahrzehnte dauern werde.

Der legitimatorische Vorsprung der russischen Demokraten

Die offensichtlichen Veränderungen in der politischen Kultur des Landes haben den damaligen Pessimismus der Demokraten nicht zerstreut. Zu einem äußerst wichtigen Zeichen für diese Veränderungen wurde z.B. die Tatsache, dass Hunderttausende von Moskauern gegen die Gewaltanwendung im Baltikum im Januar 1991 protestierten. 22 Jahre zuvor – bei der Zerschlagung des Prager Erneuerungsprozesses („Prager Frühling“) – waren lediglich 8 Bürgerrechtler auf dem Roten Platz erschienen, um gegen die Invasion der Warschauer-Pakt-Staaten zu protestieren.

Abgesehen davon trug der landesweite Streik der Bergarbeiter vom Frühjahr 1991 zu einer partiellen Überwindung des Stimmungstiefs der russischen Demokraten bei. Besonders wichtig war aber in diesem Zusammenhang der Vorgang, der sich am 12. Juni 1991 abspielte und der vielleicht zum entscheidenden Datum der Perestroika wurde. An diesem Tag wurde Boris Jelzin von etwa 57% der Wähler zum russischen Staatspräsidenten gewählt. Damit hatte Russland zum ersten Mal in seiner Geschichte ein demokratisch legitimiertes Staatsoberhaupt. Die Demokraten besaßen nun einen eindeutigen legitimatorischen Vorsprung gegenüber der Parteibürokratie. Denn die KPdSU herrschte nach dem Verzicht Gorbatschows auf das Wahrheits- und Machtmonopol der Partei lediglich durch die Macht des Faktischen. Zwar gibt es auf der Welt genug Diktaturen, die sich nur auf eine solche Basis stützen, dennoch handelt es sich bei dem kommunistischen Regime keineswegs um eine gewöhnliche Diktatur, sondern um eine Ideokratie, die ohne einen weltanschaulichen Absolutheitsanspruch nicht existieren kann.

Trotz all dieser Entwicklungen hielten die russischen bzw. sowjetischen Demokraten den kommunistischen Apparat für einen kaum bezwingbaren Gegner. Mit Neid blickten sie auf ihre polnischen Gesinnungsgenossen, denen es gelungen war, eine derart mächtige Organisation wie die Solidarność zu schaffen. Die Erfahrung aller osteuropäischen Länder habe gezeigt, dass nur eine antitotalitäre Massenbewegung imstande sei, den Angriff der Dogmatiker abzuwehren, meinte Ende März 1991 die Politologin Lilija Schewzowa.

Indessen zeigte gerade die polnische Erfahrung, dass für den entschlossen und brutal agierenden kommunistischen Apparat selbst eine solche Organisation kein Hindernis darstellt. Am 13. Dezember 1981 genügten den polnischen Militärs einige Stunden, um die Solidarność mit ihren 10 Millionen Mitgliedern zu zerschlagen. Auf die „schwankenden Massen“ (Lenin) haben die Kommunisten nur selten Rücksicht genommen. Die bereits erwähnte Zerschlagung der russischen Konstituante am 18. Januar 1918 lieferte dafür einen zusätzlichen Beweis.

Die Geschichte wiederholt sich nicht

Die Moskauer Putschisten wollten im Grunde am 19. August 1991 den Vorgang vom 18. Januar 1918 wiederholen. Jedoch handelte es sich bei ihnen nicht mehr um die Schüler Lenins oder Stalins, sondern um Zöglinge Breschnews. Das Ideal, das ihnen vorschwebte, war nicht die Schreckensherrschaft nach leninistischer oder stalinistischer Manier, sondern die aus ihrer Sicht „goldenen“ 1970er Jahre. Also die Jahre, in denen sie in Ruhe ihre Privilegien genießen konnten. Der bedenkenlose Umgang mit dem Massenterror gegenüber dem innenpolitischen Gegner setzt indes einen unerschütterlichen Glauben voraus, an die Utopie, wie dies bei Lenin, oder an sich selbst, wie dies bei Stalin der Fall gewesen war. Beides hatten die Putschisten vom 19. August 1991 längst verloren. Sie fühlten sich nicht mehr als „Sieger“, sondern als „Verlierer der Geschichte“, und dieser fehlende Glaube an die eigenen Ideale als auch an die Legitimität ihrer Herrschaft lähmte ihren bis dahin unbändigen Willen zur Macht. Einen farcenhaften Charakter hatte auch ihr Vokabular. Der Rückgriff auf den alten kommunistischen Jargon nach sechs Jahren Glasnost wirkte beinahe gespenstisch. Der russische Historiker Pawel Miljukow bemerkte einmal, dass Revolutionen dann unausweichlich würden, wenn die Aktivitäten der autoritären Herrscher nicht mehr Furcht, sondern nur noch Spott und Verachtung hervorrufen. Insofern war die revolutionäre Situation am 19. August 1991 durchaus gegeben. Die Kommunisten wirkten nun ähnlich unbeholfen, wie einst ihre demokratischen Widersacher, die sie 1917 auf den „Kehrichthaufen der Geschichte“  (Trotzki) geschickt hatten. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie noch unangefochten beinahe alle Machtstrukturen im Staate kontrollierten. Zu den Mitgliedern des am 19. August 1991 errichteten „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ gehörten der Vizepräsident der UdSSR G. Janajew, der Ministerpräsident W. Pawlow, der Verteidigungsminister D. Jasow, der Innenminister B. Pugo und der KGB-Chef W. Krjutschkow. Auch das ZK der KPdSU unterstützte die Putschisten. Am 19. August schickte das Sekretariat des ZK an alle Parteichefs der Unionsrepubliken und anderer Regionen ein Rundschreiben, in dem diese zur Unterstützung des „Staatskomitees für den Ausnahmezustand“ aufgefordert wurden.

Als Boris Jelzin seine Landsleute zur Auflehnung gegen die Putschisten aufrief, tat er dies praktisch mit leeren Händen. Er besaß so gut wie keine Machtmittel und verfügte lediglich über moralische Argumente. Sein Aufruf vom 20.8.1991 enthielt folgende Sätze: „Ein Häufchen von politischen Abenteurern hat sich zur obersten Macht erklärt, ein verfassungswidriges Komplott geschmiedet und damit das schwerste Verbrechen gegen den Staat verübt. Die demokratischen Veränderungen, die unser Volk in den letzten fünf Jahren erringen konnte, werden mit Füßen getreten. In einer Nacht wurden Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, das legitime Recht der Bürger auf Meinungsfreiheit und auf Durchsetzung der eigenen bürgerlichen Positionen vernichtet … Die legitim gewählten Vertreter der Völker Russlands verfügen über keine Möglichkeit, sich an ihre Wähler zu wenden … Durch den Erlass des Präsidenten der RSFSR wurde die Tätigkeit des Komitees (für den Ausnahmezustand) für ungesetzlich … erklärt. Handlungen von Amtspersonen, die die Beschlüsse des erwähnten Komitees ausführen, unterliegen dem Strafgesetzbuch der RSFSR und werden entsprechend dem Gesetz verfolgt.“

Die Tatsache, dass der russische Staatspräsident einen legitimatorischen Vorsprung gegenüber den Putschisten besaß, die von ihm als Usurpatoren angeprangert wurden, erwies ihm unschätzbare Dienste. Mehrere Militäreinheiten, die in Moskau und Umgebung stationiert waren, gerieten in Loyalitätskonflikte und weigerten sich, die Befehle des neugegründeten Staatskomitees auszuführen.

Bereits am 21. August 1991 erkannten die Putschisten die Aussichtslosigkeit ihres Vorhabens und räumten das Feld. In der Auseinandersetzung zwischen Macht und Moral erwies sich die letztere als überlegener Sieger.

Auf den Barrikaden vor dem „Weißen Haus“ – dem Sitz des russischen Parlaments – haben sich die russischen Demokraten, zumindest vorübergehend, von ihrem Image der ewigen Verlierer befreit. Die Tatsache, dass das ZK der KPdSU den Putschversuch vom 19. August unterstützt hatte, führte zu einer weitgehenden Diskreditierung der Partei, die seit dem 7. November 1917 das Land so selbstherrlich regiert hatte. Am 6. November 1991 – am Vorabend des 74. Jahrestages der bolschewistischen Revolution – verbot Jelzin die Tätigkeit der KPdSU auf dem Territorium der RSFSR und begründete dieses Verbot mit folgenden Argumenten:

Die KPdSU war niemals eine Partei. Sie stellte vielmehr einen eigenartigen Herrschaftsmechanismus dar, der sich mit den Staatsstrukturen verschmolz bzw. diese der Partei unterwarf.

Innere und äußere Ursachen für die Erosion der „zweiten“ russischen Demokratie

Etwa zwei Jahre später verspielten indes die siegreichen russischen Demokraten weitgehend ihr Vertrauenskapital. Die von vielen Russen  als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion, die wirtschaftliche Schocktherapie und der immer schärfer werdende Konflikt  zwischen dem Staatspräsidenten und dem Obersten Sowjet, der im Oktober 1993 zu bewaffneten Auseinandersetzungen  in der russischen Hauptstadt führte,  trugen erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee bei. Immer häufiger meldeten sich nun erneut sowohl im Westen als auch in Russland Skeptiker zu Wort, die meinten, solche europäischen Werte wie Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit  ließen sich nur im begrenzten Ausmaß auf Russland übertragen, weil die politische Kultur Russlands bzw. der „russische Nationalcharakter“ durch ganz andere Werte geprägt seien, die man mit den westlichen nicht vereinbaren könne.

In Wirklichkeit hatte die Erosion der im August 1991 errichteten „zweiten“ russischen Demokratie, nur begrenzt mit dem russischen Nationalcharakter zu tun. Eine viel wichtigere Rolle spielte hier das schwere totalitäre Erbe, dessen Überwindung, wie die Erfahrung zeigt, mehrerer Anläufe bedarf.

Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass auch in Bezug auf Deutschland sehr lange die Meinung vorherrschte, dass sich die politische Kultur Deutschlands grundlegend von derjenigen der anderen westlichen Staaten unterscheide, und dass viele Werte, die man mit dem Westen assoziiere, auf Deutschland nicht übertragbar seien. Nach 1945 begannen solche Stimmen allerdings zu verstummen, und so wurde ausgerechnet nach dem in der Geschichte des Landes beispiellosen Zivilisationsbruch von 1933-1945 das stabilste demokratische Gemeinwesen auf deutschem Boden errichtet. Dass es dem westlichen Teil Deutschlands nach 1945 recht schnell gelang, funktionierende demokratische Strukturen zu entwickeln, war aber untrennbar mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der Staaten der freien Welt verbunden. Nicht weniger wichtig war in diesem Zusammenhang auch die allmähliche Integration der Bundesrepublik in die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strukturen des Westens.

Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf manche ostmitteleuropäische Staaten sagen, die nach der Auflösung des Ostblocks zu Beitrittskandidaten der EU wurden. Ohne den massiven Beistand von außen, diesmal seitens der EU, wäre der relativ schnelle Aufbau der demokratischen Strukturen in diesen Ländern kaum denkbar gewesen.

Auch die prowestlich orientierten Gruppierungen im postsowjetischen Russland, die in der politischen Klasse des Landes zu Beginn der 1990er Jahre noch dominierten, strebten eine engere Anbindung Russlands an den Westens an. Der russische Außenminister Andrej Kosyrew appellierte damals an die westlichen Politiker, die krisengeschüttelte russische Demokratie stärker zu unterstützen: „Der Sieg der Demokratie in Russland wird stabilisierend auf den gesamten eurasischen Raum wirken“, betonte er.

Im Mai 1992 schlug Boris Jelzin den USA eine Allianz zwischen den beiden Ländern vor. Der damalige amerikanische Präsident, George Bush sen. hielt indes diese „nicht für erforderlich, da der Kalte Krieg beendet sei“.

So wurde Russland letztendlich nur partiell in die sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Strukturen des Westens integriert. Die recht unverbindlichen NATO-Programme „Partnerschaft für den Frieden“ oder „NATO-Russia Permanent Joint Council“ vermochten nicht, Russland aus seiner Außenseiterposition herauszuführen.

Auch die Vision vom „gemeinsamen europäischen Haus“, die die sowjetischen bzw. russischen Reformer seit der Gorbatschowschen Perestroika inspiriert hatte, wurde nicht in die Praxis umgesetzt. Dabei darf man nicht vergessen, dass das „politische Wunder“ der friedlichen Revolutionen in Osteuropa, der friedlichen Überwindung der europäischen und der deutschen Spaltung untrennbar mit dieser Vision verbunden war, mit der „europäischen Sehnsucht“ der reformorientierten sowjetischen bzw. russischen Eliten. Ohne diese Sehnsucht und ohne den Verzicht des Reformflügels in der Gorbatschow-Equipe auf die Breschnew-Doktrin, die der Idee des „gemeinsamen europäischen Hauses“ eklatant widersprach, wären all diese Prozesse kaum denkbar gewesen. Dennoch wurde dieses gemeinsame Haus bekanntlich nicht erbaut. Während der westliche Teil des europäischen Kontinents seit der Wende von 1989-1991 eine immer tiefergehende Integration erlebte, begann das weitgehend isolierte Russland in einem immer stärkeren Ausmaß seinen nationalen Interessen zu huldigen und kehrte dadurch quasi ins 19. Jahrhundert zurück. Isolationistische Kräfte auf beiden Seiten des nicht mehr vorhandenen „Eisernen Vorhangs“ begannen immer stärker am europäischen Charakter Russlands zu zweifeln. Und so standen die russischen „Europäer“, die zur friedlichen Überwindung  der jahrzehntelangen Spaltung des „alten Kontinents“ wesentlich beigetragen hatten, vor allem seit der Errichtung der Putinschen „gelenkten Demokratie“ mit dem Rücken zur Wand. Sie scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens im Lande zumindest vorübergehend verloren zu haben.

Selbstverständlich hat das Scheitern der „zweiten“ russischen Demokratie und ihre Ablösung durch das „Putin-System“ in erster Linie innerrussische Ursachen (wirtschaftliche Schocktherapie, Privatisierung, die zu einer außerordentlich tiefen Kluft zwischen Arm und Reich führte, scharfe Konflikte an der Spitze der Machtpyramide, allgegenwärtige Korruption, die Tschetschenien-Kriege und vieles mehr). Aber auch außenpolitische Faktoren spielten dabei eine gewichtige Rolle. Wird man aus dem Scheitern der „zweiten“ russischen Demokratie sowohl im Osten als auch im Westen entsprechende Lehren ziehen, wie man dies in Bezug auf das Scheitern der „ersten“ deutschen Demokratie (Weimar) getan hatte? Die Zukunft wird es zeigen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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