Putins Macht und Ohnmacht

Zum dritten Mal in Folge wird Wladimir Putin von dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin „Forbes“ zur mächtigsten Persönlichkeit der Welt erklärt. Zu Recht?


Die Tatsache, dass Wladimir Putin derart bedenkenlos mit der Macht umgeht, ruft im Westen nicht nur Kritik, sondern nicht selten auch Bewunderung hervor. Von manchen Beobachtern wird der russische Staatspräsident sogar als der einflussreichste Politiker der Welt angesehen. Wie begründet ist diese Meinung?

Führungskrisen der USA und  „Untergangsvisionen“ der sowjetischen Regimekritiker

Zum dritten Mal in Folge wird Wladimir Putin von dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin „Forbes“ zur mächtigsten Persönlichkeit der Welt erklärt. Barack Obama hingegen, der an der Spitze der einzigen noch verbliebenen Weltmacht steht, wird in der Forbes-Liste lediglich der dritte Rang (nach Angela Merkel) zugewiesen. Wie lässt sich diese Paradoxie erklären? Sie hat natürlich in erster Linie mit der Rückzugsstrategie Obamas zu tun, die nach Ansicht seiner Kritiker planlos ist. Dies führe zu einem Machtvakuum in manchen Regionen der Welt, das von den erklärten Gegnern der USA gefüllt werde. Moskau scheint von dieser Führungsschwäche der USA besonders stark zu profitieren.

Diese Konstellation erinnert an Vorgänge, die bereits vor etwa vierzig Jahren zu beobachten waren, als die USA infolge des Vietnam-Krieges, aber auch der Watergate-Affäre eine tiefe Identitätskrise erlebten.

Diese Führungskrise der USA, deren Höhepunkt die amerikanische Niederlage im Indochina-Krieg (1975) darstellte, nutzte die UdSSR für die Ausdehnung ihrer Einflusssphäre auf immer neue Regionen der Welt aus. Hanoi stellte nach der Eroberung Südvietnams der UdSSR mehrere wichtige Militärstützpunkte zur Verfügung und wurde zum wichtigsten strategischen Verbündeten Moskaus in Asien.

Auch in Afrika und sogar in Lateinamerika – dem angeblichen „Vorhof der USA“ – entstand mit Moskaus Unterstützung eine Reihe „sowjetfreundlicher Regime“: Angola (mit Hilfe eines kubanischen Expeditionskorps), Äthiopien, Nicaragua und andere.

Diese scheinbar unaufhaltsame Expansion Moskaus und die Unfähigkeit des Westens, die angeblich sich abzeichnende kommunistische Weltherrschaft zu verhindern, wirkte bedrückend auf viele Kritiker des Sowjetregimes. Düstere Zukunftsvisionen wurden entwickelt: „Der Westen hat den Dritten Weltkrieg bereits verloren“, schrieb 1975 einer der prominentesten sowjetischen Regimekritiker, Alexander Solschenizyn: „Noch zwei, drei Jahrzehnte einer solchen friedlichen Koexistenz und den Begriff des ´Westens´ wird es nicht mehr geben“.

Afghanistan-Intervention als Wendepunkt

Der Ende Dezember 1979 erfolgte Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte in Afghanistan schien die These einiger Warner vor der angeblichen sowjetischen Welteroberungsstrategie zu bestätigten. Nun versuchte die Sowjetunion zum ersten Mal direkt, mit Hilfe ihrer eigenen Streitkräfte und nicht mit Hilfe ihrer Stellvertreter (Nordkorea, China, Nordvietnam, Kuba) die ihr in Jalta und Potsdam zugesicherte Einflusssphäre zu überschreiten.

Die Moskauer Führung hielt ihre Intervention für völlig legitim. So verglich der damalige sowjetische Verteidigungsministers Ustinow das Vorgehen der Sowjetunion in Afghanistan mit den damaligen Drohgebärden der USA gegenüber dem islamischen Revolutionsregime im Iran: „Wenn die USA sich ein solches Vorgehen gegenüber dem Iran erlauben, der tausende Kilometer von ihren Grenzen entfernt ist, warum sollen wir Angst davor haben, unsere Interessen im benachbarten Afghanistan zu verteidigen?“

Diese Überlegungen Ustinows wie auch anderer sowjetischer Führer weisen eindeutig darauf hin, dass sie die Tragweite ihrer damaligen Entscheidung unterschätzten. Die Heftigkeit, mit der die Weltöffentlichkeit auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan reagierte, stellte für Moskau eine Überraschung dar. Am 5. Januar 1980 verschob der amerikanische Senat wegen der sowjetischen Invasion die Ratifizierung des SALT-II-Abkommens auf unbestimmte Zeit. Washington verhängte auch ein Handelsembargo für Hochtechnologie, das die Sowjetunion sehr empfindlich traf. Der amerikanische Präsident Jimmy Carter rief zum Boykott der Olympischen Spiele, die 1980 in Moskau stattfinden sollten, auf. Dieser Boykottaufruf wurde von vielen Ländern befolgt. Besonders schmerzlich für die sowjetische Führung war die Tatsache, dass ihr Vorgehen in Afghanistan nicht nur von den sogenannten „westlichen Imperialisten“, sondern auch von vielen blockfreien Staaten aufs schärfste verurteilt wurde. Die Forderung der UN-Vollversammlung vom Januar 1980 nach einem sofortigen Rückzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan wurde von 104 UN-Mitgliedern (darunter waren auch mehr als 50 blockfreie Staaten) unterstützt. Nur 18 UN-Delegationen stimmten gegen diese Resolution. Beinahe einhellig wurde die sowjetische Invasion von den islamischen Ländern verurteilt – so auf der Konferenz der Außenminister der islamischen Staaten in Islamabad (Ende Januar 1980). Auch die chinesische Führung, die ebenso wie Moskau um die Gunst der blockfreien Staaten und der Befreiungsbewegungen der Dritten Welt warb, schloss sich dem Chor der Kritiker an. Diese „Einheitsfront“ zwischen den westlichen „Kapitalisten“ und den chinesischen Kommunisten wirkte auf die sowjetische Führung besonders irritierend. Ihre Klagen halfen aber wenig. Die UdSSR wurde nun in einem immer stärkeren Ausmaß auf der internationalen Bühne isoliert. Ihre Lage erinnerte in gewisser Hinsicht an diejenige des Wilhelminischen Reiches zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das durch seine arrogante und zugleich ungeschickte Politik beinahe alle Großmächte der damaligen Zeit herausgefordert hatte und nicht zuletzt infolge seiner eigenen Politik sich äußerst unsicher und eingekreist fühlte. Die innere Unsicherheit der deutschen Reichsführung hatte ihrerseits bei den anderen Mächten Unsicherheit über die Pläne Deutschlands ausgelöst. All diese Ängste vor potentiellen Gefahren förderten bloß den Rüstungswettlauf, den „trockenen Krieg“ (Hans Delbrück).

Auch infolge der erneuten Verschärfung des Ost-West-Gegensatzes Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre begann ein neuer Rüstungswettlauf – insbesondere in der Amtszeit des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan (seit 1981) –, der der sowjetischen Wirtschaft, die bei weitem nicht so leistungsfähig wie die amerikanische war, kaum verkraftbare Lasten aufbürdete. Der Kölner Osteuropa-Experte Boris Meissner vermerkte Mitte der 1980er Jahre: „Für die volle Wahrnehmung eines Weltmachtanspruchs ist  … die vorhandene wirtschaftliche Basis der Sowjetunion viel zu schmal.“

Was die USA anbetrifft, so hatten sie allmählich die Führungskrise der 1970er Jahre überwunden, und begannen etwa seit Beginn der 1980er Jahre erneut die Initiative im Ost-West-Verhältnis zu übernehmen.

Putins Krim-Coup: Wiederholt sich die Geschichte?

Nun aber zurück zur Gegenwart. Es ist wenig wahrscheinlich, dass es Putin gelingen wird, allzu lange von der jetzigen amerikanischen Führungskrise zu profitieren. Zwar scheint die von ihm errichtete „gelenkte Demokratie“ zurzeit stabiler zu sein als die krisengeschüttelten westlichen Demokratien. Aber dieser Schein trügt. Denn das, was die „offenen“ Gesellschaften von den „geschlossenen“ unterscheidet, ist ihre Lernfähigkeit, die nicht zuletzt darauf beruht, dass hier auch die Kritiker des jeweiligen Mainstreams zu Wort kommen können. Im heutigen Russland hingegen sind derartige Mahner unerwünscht. So wird jede Infragestellung der abenteuerlichen Ukraine-Politik der Kreml-Führung bzw. der Parole „Die Krim gehört uns!“ (Krym nasch!) als eine Art Nationalverrat betrachtet. Diese Diskursverweigerung stellt eine Absage an die Moderne dar, die von der Meinungsvielfalt und von der Kritik an den „unantastbaren Autoritäten“ lebt. Welche Folgen eine solche Absage an die Moderne haben kann, konnte man bereits in der UdSSR  in der Breschnew-Periode erleben, die durch ihren bürokratischen Kontrollzwang den Innovationsgeist im Lande in einem immer stärkeren Ausmaß erstickte und dadurch als die „Zeit der Stagnation“ in  die Geschichte einging. Eine ähnliche „Stagnation“ droht jetzt auch der Putinschen „gelenkten Demokratie“.

Durch seinen Krim-Coup hat Putin Russland in eine ähnliche Isolierung auf der internationalen Bühnen hineinmanövriert, wie dies Breschnew seinerzeit durch seinen Afghanistan-Coup getan hatte. Bei der Abstimmung über die Frage der territorialen Integrität der Ukraine in der UN-Vollversammlung, die Ende März 2014 stattfand, sprachen sich, abgesehen von Russland, lediglich 10 Staaten für die Angliederung der Krim an die Russische Föderation aus, 100 Saaten waren dagegen, 58 enthielten sich der Stimme. Zur großen Überraschung der Kreml-Führung kam es dabei, ungeachtet vieler Spannungen zwischen Washington und manchen europäischen Hauptstädten, zu einem Schulterschluss zwischen der EU und den USA. Diese transatlantische Solidargemeinschaft trug sicherlich dazu bei, dass das „Neurussland-Projekt“, das zur Zeit des sogenannten „russischen Frühlings“ (2014) von manchen imperial gesinnten Kreisen Russlands lanciert worden war, nicht verwirklicht werden konnte. So dehnte sich der Einfluss Moskaus abgesehen von der Krim nur auf zwei abtrünnige ostukrainische Provinzen aus und nicht auf den gesamten Südosten der Ukraine, wie dies wohl ursprünglich beabsichtigt worden war.

Moskaus Syrien-Intervention als “Befreiungsschlag“?

Dieser Rückschlag in der Ukraine hat Putins Spitzenposition im Ranking des „Forbes“-Magazins jedoch nicht erschüttert. Dies hat wohl mit seinen machtpolitischen Gewinnen in anderen Weltregionen zu tun, aus denen sich die kriegsmüden Amerikaner nach vielen gravierenden Fehlern, die vor allem  während der Präsidentschaft von George W. Bush begangen wurden, weitgehend zurückgezogen haben. Dies betrifft in erster Linie die Region des „Greater Middle East“. Durch seinen unerwarteten Syrien-Coup versucht Putin nun der außenpolitischen Isolierung Russlands, die nach der Krim-Annexion einsetzte, ein Ende zu bereiten. Damit scheint er auch einen partiellen Erfolg erzielt zu haben. Viele westliche Politiker betonen jetzt, dass die Lösung des Syrien-Konflikts und die Bekämpfung der Ursachen der Flüchtlingskrise, die nun die Grundfesten der EU zu erschüttern droht, ohne die Beteiligung Russlands nicht möglich sei. Sogar die Tatsache, dass Putins Intervention in Syrien in erster Linie der Stabilisierung des Assad-Regimes – eines seiner letzten Verbündeten – dient, scheint für manche westliche Befürworter der Wiederannäherung an Russland kein großes Hindernis zu sein. Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz, sagte vor kurzem in einem DLF-Interview, dass er im russischen Plan zur Lösung der Syrien-Krise auch manche positive Ansätze sehe. Man könne nicht effektiv den „Islamischen Staat“ bekämpfen und gleichzeitig Assad von der Bildfläche verschwinden lassen. Das Allerwichtigste sei eine gemeinsame Front gegen den „Islamischen Staat“.

Eine neue „Perestroika“?

Trotz dieser Annäherung zwischen Russland und dem Westen bei der Behandlung der Syrien-Frage steht der Rückkehr der Ost-West-Beziehungen zu ihrem früheren „Business as usual“ weiterhin die ungelöste „Ukraine-Frage“ im Wege. Und ihre baldige Lösung, und damit auch die Aufhebung der gegen Moskau verhängten westlichen Sanktionen, ist nicht in Sicht. Solange diese Sanktionen in Kraft bleiben, wird es wohl der Kreml-Führung kaum gelingen, die Talfahrt der russischen Wirtschaft einzudämmen. Sogar die regierungsnahe Zeitung „Argumenty nedeli“ meint, dass das Nationaleinkommen Russlands im Jahre 2015 um 4% sinken werde. Besonders empfindlich wird Russlands Wirtschaft durch das Fehlen der hochwertigen westlichen Technologien getroffen, deren Einfuhr durch die Sanktionen wesentlich erschwert wird. Dies entzieht den ohnehin zaghaften Modernisierungsversuchen, die die russische Führung in den letzten Jahren unternommen hatte, zusätzlich den Boden. Auch diese Prozesse sind denjenigen, die in der Endphase der Breschnew-Ära zu beobachten waren, nicht unähnlich. Auch damals begann Russland bzw. die UdSSR den Anschluss an den wirtschaftlichen und technologisch schnell davoneilenden Westen in einem immer stärkeren Ausmaß zu verlieren. Wie wird der reformorientierte Teil der russischen Gesellschaft, vor allem aber der politischen Klasse Russlands auf diese Entwicklungen reagieren? Wird er in der Lage sein, eine neue Perestroika in die Wege zu leiten?

Lesen Sie auch die letzte Kolumne von Leonid Luks über die Frage, woran Demokratien scheitern.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

More Posts

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert