Das letzte Gefecht des russischen Parlamentarismus

Einige Wochen nach dem bolschewistischen Staatstreich vom Oktober 1917 kehrten die demokratischen Institutionen auf die politische Bühne Russlands zurück, und zwar in der Gestalt der russischen Konstituante. Mit der Reaktion der Bolschewiki auf diesen Vorgang befasst sich die folgende Kolumne Zum hundertsten Jahrestag der Zerschlagung der Verfassunggebenden Versammlung durch die Bolschewiki.


Die Verzögerung der Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung –das „wichtigste Versäumnis der ´ersten´ russischen Demokratie“?

Viele Kritiker der von den Bolschewiki im Oktober 1917 bezwungenen „ersten“ russischen Demokratie werfen ihren Führern vor, sie hätten auf die Stimmung der russischen Massen nicht adäquat reagiert und solche zentralen Forderungen der russischen Unterschichten wie die sofortige Enteignung der Gutsbesitzer oder die sofortige Beendigung des unpopulären Krieges nicht entsprechend gewürdigt. Und in der Tat war die zögerliche Einstellung der russischen Demokraten zu diesen Forderungen eine wichtige Ursache für das Scheitern der im Februar 1917 errichteten russischen Demokratie – allerdings keine zentrale. Denn in erster Linie scheiterte die nach dem Sturz des Zaren errichtete neue Ordnung an ihrer mangelnden Legitimität. Die Sieger vom Februar 1917 betrachteten das damalige System bewusst als ein Provisorium, dem die Verfassunggebende Versammlung ein Ende setzen sollte. Die wichtigste Aufgabe der aus den allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangenen Konstituante sollte die Legitimierung der neuen Herrschaftsordnung sein. Dass diese Wahlen immer wieder verschoben wurden und erst nach dem bolschewistischen Staatsstreich stattfanden, stellte, wie einer der Führer der russischen Sozialdemokraten, Iraklij Tsereteli, mit Recht hervorhebt, wohl das wichtigste Versäumnis der „ersten“ russischen Demokratie dar.

Das Wahldebakel der Bolschewiki

Die am 12.11.1917 begonnenen Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung galten in den Augen der Beobachter, trotz aller Störmanöver der Bolschewiki, als relativ authentisch (kalendarische Angaben beziehen sich in dieser Kolumne auf den Julianischen Kalender, der in Russland bis zum 1. Februar 1918 galt. Der Unterschied zwischen dem Julianischen und dem Gregorianischen Kalender betrug 13 Tage). Die Wahlen endeten mit einem überragenden Erfolg der Sozialrevolutionären Partei. Dies war nicht verwunderlich, denn in einem Agrarland musste die Partei, die sich mit einem besonderen Engagement für die Belange der Bauern einsetzte, zwangsläufig die größten Stimmengewinne erzielen. Die Sozialrevolutionäre und die ihnen nahestehenden Gruppierungen gewannen mehr als 50% der Mandate. Etwa 24% der Sitze gewannen die Bolschewiki, wobei sie besonders große Erfolge in den beiden Hauptstädten – Petrograd und Moskau – und in der Armee zu erzielen vermochten. Dies reichte aber keineswegs aus, um der bolschewistischen Herrschaft eine parlamentarische Weihe zu verleihen.

Erstaunliche Parallelen

Die überwältigende Mehrheit der Wähler sprach sich für die sozialistischen Parteien aus, sie erzielten insgesamt etwa 88% der Stimmen, aber auch die bürgerlich liberalen Gruppierungen, insbesondere die Partei der Konstitutionellen Demokraten, hatten ihre Hochburgen, dies vor allem in den Großstädten. In Petrograd wie in Moskau wurden die Konstitutionellen Demokraten („Kadetten“) jeweils zur zweitstärksten Partei nach den Bolschewiki. Allerdings stellten die russischen Städte nur Inseln im bäuerlichen Meer dar. Dementsprechend fiel auch das Gesamtergebnis der „Kadetten“ bei den Wahlen recht bescheiden aus, sie erzielten lediglich 4,7% der Stimmen. Aber auch diesen recht mäßigen Erfolg ihrer bürgerlichen Gegner betrachteten die Bolschewiki als außerordentliche Gefahr. Um diese Gefahr im Keime zu ersticken, beschloss die Regierung, die „Kadetten“ gänzlich von der politischen Bühne zu verbannen. Am 28.11.1917 erklärte der Rat der Volkskommissare (bolschewistische Regierung), die Partei der Konstitutionellen Demokraten plane einen Putsch gegen die Sowjetmacht. Wegen dieser „volksfeindlichen“ Tätigkeit werde sie verboten. So durften die bereits gewählten Abgeordneten der Konstitutionellen Demokraten aufgrund des Verbots ihrer Partei an der am 5.1.1918 einberufenen Konstituante nicht mehr teilnehmen. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr fünfzehn Jahre später den am 5.3.1933 bei den Reichstagswahlen gewählten Abgeordneten der KPD. Zur Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz am 23.3.1933 wurden sie nicht mehr zugelassen, und zwar wegen des angeblichen Putschversuchs (Reichstagsbrand). Die Argumentation der totalitären Sieger gegenüber den bezwungenen Gegnern war also in beiden Fällen zum Verwechseln ähnlich.

Anders als im Reichstag von 1933 verhielten sich indessen die Kräfteverhältnisse in der russischen Konstituante von 1917/18. Auch nach der Ausschaltung der „Kadetten“ blieben die Bolschewiki hoffnungslos in der Minderheit. Dies ungeachtet der Tatsache, dass der linke Flügel der Partei der Sozialrevolutionäre mit den Bolschewiki sympathisierte. Er verfügte aber lediglich über 40 Mandate. Der antibolschewistisch gesinnte, gemäßigte Flügel der Partei hingegen über etwa 370 und damit auch über die absolute Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung.

Das bolschewistische Dilemma

Als das Wahlergebnis zur Verfassunggebenden Versammlung feststand, begann die bolschewistische Presse eine gegen die Konstituante gerichtete propagandistische Kampagne. Es wurde immer wieder betont, dass die Verfassunggebende Versammlung ganz andere politische Grundsätze verkörpere als die Sowjetmacht, dass die beiden Einrichtungen nicht miteinander koexistieren könnten. Einer der engsten Gefährten Lenins, Grigorij Sinowjew, führte am 22.12.1917 aus: „Wir wissen sehr wohl, dass sich … unter der gefeierten Losung ‚Alle Macht der Konstituierenden Versammlung!‘ die … Losung ‚Nieder mit den Sowjets!‘ verbirgt.“

Der Verfassunggebenden Versammlung drohte nun das Schicksal der Provisorischen Regierung. Auch die letztere wurde von den Bolschewiki mit dem Argument beseitigt, ihre Existenz sei mit der Existenz der Sowjets unvereinbar. Dennoch bestand ein erheblicher Unterschied zwischen der Konstituante und der am 26.10.1917 gestürzten Regierung. Die Provisorische Regierung war niemals von einem Wählervotum bestätigt worden, ihre Legitimität konnte deshalb sehr leicht in Frage gestellt werden. Bei der Konstituante hingegen handelte es sich um das erste Gremium in der russischen Geschichte, dass aus allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen war. Die Wahlen zur Staatsduma im vorrevolutionären Russland (seit 1906) waren nicht gleich, es galt ein Mehrklassenwahlrecht mit verschiedenen Kurien, das den Gutsbesitzern, die eine kleine Minderheit im Lande darstellten, die Möglichkeit gab, zunächst 30% und seit 1907 51% der Abgeordneten zu wählen. Die Wahlen zu den 1917 entstandenen Sowjets waren wiederum nicht allgemein. Nur die russischen Unterschichten hatten das Recht, sich an ihnen zu beteiligen. Lediglich die Wahlen zu Konstituante waren sowohl gleich als auch allgemein. Auch Frauen erhielten das Wahlrecht, was im damaligen Europa keineswegs selbstverständlich war. Von etwa 90 Millionen Wahlberechtigten erschien etwa die Hälfte zur Wahl (die genauen Ergebnisse über die Wahlbeteiligung lassen sich nicht ermitteln, weil Angaben aus einigen Wahlbezirken fehlen.) So standen die Bolschewiki mit ihrer Ablehnung der Verfassunggebenden Versammlung vor einem erheblichen Dilemma. Dies um so mehr, als sie seit dem Sturz des Zaren unentwegt die sofortige Einberufung der Konstituante verlangt hatten. Die Beseitigung der Provisorischen Regierung wurde von Lenin nicht zuletzt mit dem Argument begründet, nur auf diese Weise ließen sich faire Wahlen zur Konstituante sichern. Mit ihrer grundsätzlichen Kritik an der Verfassunggebenden Versammlung widersprachen die Bolschewiki also in eklatanter Weise ihren eigenen kurz zuvor geäußerten Thesen und drohten dadurch ihre Glaubwürdigkeit in den Augen der Bevölkerung zu untergraben. So stand das bolschewistische Regime einige Wochen nach seiner Errichtung vor einer äußerst gefährlichen Bewährungsprobe.

Vorübergehender Verzicht Lenins auf das Machtmonopol der bolschewistischen Partei

Um diese Probe zu bestehen, war Lenin sogar bereit, auf das von ihm wie ein Augapfel gehütete bolschewistische Machtmonopol zu verzichten. Ende November 1917 stimmte er, nach einigem Zögern, einer Koalition mit den Linken Sozialrevolutionären zu, die ebenso wie die Bolschewiki sich recht kritisch gegenüber den sog. bürgerlichen Institutionen, d.h. auch gegenüber der Konstituante verhielten. Abgesehen davon benötigten die Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre als Vermittler gegenüber der Landbevölkerung. Trotz des Dekrets über Grund und Boden, das die Bolschewiki am ersten Tag nach ihrer Machtergreifung proklamiert hatten, betrachtete die überwiegende Mehrheit der russischen Bauern immer noch die Sozialrevolutionäre und nicht die Bolschewiki als die Wahrer ihrer Interessen.

Am 10.12.1917 entstand eine Koalition zwischen den beiden Parteien. Die Linken Sozialrevolutionäre übernahmen die Leitung von mehreren Volkskommissariaten, darunter das Justiz- und das Landwirtschaftsressort. Die Schärfe, mit der die Linken Sozialrevolutionäre die bürgerliche Ordnung ablehnten, glich beinahe derjenigen der Bolschewiki. Einer der Führer der Linken Sozialrevolutionäre, A. Kamkow, sagte später: „Die ganze Agitation und Propaganda der Linken Sozialrevolutionäre hat sich (1917) kaum von der Agitation der Bolschewiki unterschieden“. Die Linken Sozialrevolutionäre waren auch mit der Anwendung des Terrors gegenüber politischen Gegnern durchaus einverstanden. Viele von ihnen beteiligten sich aktiv an der Tätigkeit der „Allrussischen außerordentlichen Kommission zur Bekämpfung der Gegenrevolution und Sabotage“ – der berüchtigten Tscheka – die Anfang Dezember 1917 gegründet worden war. Aus all diesen Gründen betrachteten die Bolschewiki die Linken Sozialrevolutionäre als geeignete Partner im Kampfe gegen den sog. bürgerlichen Parlamentarismus, d.h. gegen die Konstituante, der sich Ende 1917/Anfang 1918 anbahnte.

Marija Spiridonowa, die zu den prominentesten Führern der Linken Sozialrevolutionäre zählte, sagte am 21.12.1917: „Die Revolution wird vor diesem Hindernis nicht halt machen.“ Mit diesem Hindernis meinte sie die Konstituante.

Dieser Verbalradikalismus der Linken Sozialrevolutionäre soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich selbst keineswegs als Doppelgänger der Bolschewiki verstanden. Manche Willkürakte des Rats der Volkskommissare wurden von ihnen heftig kritisiert, z.B. das Pressedekret vom 27.10.1917, das sich formal gegen die sog. gegenrevolutionäre Presse richtete, praktisch aber die Pressefreiheit im Lande insgesamt erheblich einschränkte. Auch das Verbot der Partei der Konstitutionellen Demokraten und die vorübergehende Verhaftung ihrer führenden Mitglieder durch die Bolschewiki rief Proteste der Linken Sozialrevolutionäre hervor. Sie waren zwar nicht prinzipiell gegen ein Verbot „gegenrevolutionärer“ Parteien, sie wandten sich jedoch gegen das eigenmächtige Vorgehen der Bolschewiki, die diesen Schritt nicht mit den anderen im Sowjet vertretenen Parteien abgestimmt hatten. Einer der Führer der Linken Sozialrevolutionäre, W. Karelin, bezeichnet seine Partei als „einen Regulator zu Dämpfung des übermächtigen Eifers der Bolschewiki“. Damit überschätzten die Linken Sozialrevolutionäre ihre Möglichkeiten erheblich. Als Juniorpartner der Bolschewiki waren sie kaum imstande, den politischen Kurs ihres übermächtigen Verbündeten dauerhaft zu beeinflussen. So war die am 10.12.1917 entstandene Koalition äußerst brüchig. Vorübergehend wurden aber diese inneren Spannungen durch das gemeinsame Vorgehen gegen den sog. „bürgerlichen Parlamentarismus“ in den Hintergrund gedrängt.

Der „bürgerliche Parlamentarismus“ oder die „Sowjetdemokratie“?

Die von den Bolschewiki derart gefürchtete Verfassunggebende Versammlung wurde am 5.1.1918 eröffnet. Von 707 namentlich bekannten Abgeordneten der Konstituante waren bei ihrer ersten Sitzung im Taurischen Palais in Petrograd mehr als 400 anwesend. Eine genaue Zahl der Delegierten lässt sich schwer ermitteln. Eines steht aber fest. Dominiert wurde die Konstituante durch die Gegner der Bolschewiki, in erster Linie durch die Partei der Sozialrevolutionäre, deren Fraktion über etwa 240 Delegierte verfügte. Alle Versuche der Bolschewiki und der Linken Sozialrevolutionäre, den Verlauf der Debatten zu bestimmen, scheiterten. Nicht die von den Bolschewiki favorisierte linke Sozialrevolutionärin Marija Spiridonowa, sondern der gemäßigte Sozialrevolutionär Viktor Tschernow wurde zum Vorsitzenden der Konstituante gewählt. Auch die von den Bolschewiki und von den Linken Sozialrevolutionären gestellte Forderung an die Verfassunggebende Versammlung, sie solle alle Dekrete der Sowjetmacht nachträglich sanktionieren und sich anschließend auflösen, lehnte die Mehrheit der Delegierten strikt ab. Der von den Bolschewiki errichtete Sowjetstaat, der die sog. ausbeuterischen Klassen entrechtete, widersprach den Vorstellungen der Mehrheit der Konstituante. Die Verfassunggebende Versammlung sprach sich für einen parlamentarisch-demokratischen Staat für alle Bürger Russlands aus. Sie plädierte zwar für das größtmögliche Entgegenkommen gegenüber den Unterschichten – radikale Bodenreform, Friedensappell (allerdings keine separaten Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten), erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen der Industriearbeiter. Sie lehnte aber einen von den Bolschewiki proklamierten Rachefeldzug gegen die entmachteten Oberschichten ab.

So stellte die Konstituante mit ihren programmatischen Vorstellungen einen Fremdkörper in dem von den Bolschewiki errichteten System dar. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser Fremdkörper den Willen der Bevölkerungsmehrheit repräsentierte. Aber über das Schicksal des Landes entschieden seit der weitgehenden Auflösung der staatlichen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen Russlands nicht die amorphen und unorganisierten Mehrheiten, sondern die halbwegs organisierten Minderheiten, und dies waren in erster Linie die Bolschewiki.

Als die Delegierten der Konstituante nach der Unterbrechung ihrer ersten Sitzung ihre Beratungen am nächsten Tag – am 6.1.1918  bzw. am 19.1.1918 – fortsetzten wollten, war das Taurische Palais von Wachen umstellt und für die Abgeordneten der damals einzigen von der Gesamtheit der russischen Wähler legitimierten Einrichtung unzugänglich.

Am gleichen Tag beschloss das von den Bolschewiki dominierte Zentrale Exekutivkomitee des Sowjets die Verfassunggebende Versammlung aufzulösen, und zwar mit der folgenden Begründung:

Die russische Revolution hat von ihrem Anbeginn an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten hervorgebracht als Massenorganisation aller werktätigen und ausgebeuteten Klassen, als die Organisation, die allein imstande ist, den Kampf dieser Klassen für ihre völlige politische und wirtschaftliche Befreiung zu leiten … Jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets, auf die vom Volk eroberte Sowjetrepublik zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus und der Konstituierenden Versammlung wäre jetzt ein Schritt rückwärts, würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten.

Die Bolschewiki begannen also bereits kurz nach ihrer Machtergreifung das totalitäre „Neusprech“ zu verwenden, das einige Jahrzehnte später George Orwell in seinem Roman „1984“ so anschaulich beschreiben sollte.

Die Zerschlagung der Verfassunggebenden Versammlung stellte den endgültigen Abschied Russlands von der Demokratie im klassischen Sinne dar. Die Demokratie für alle wurde nun durch die sog. Sowjetdemokratie nur für die werktätigen Schichten abgelöst. Der Klassenkampf stellte nun eine Art raison d’être des neuen Staates dar. Gegenüber den sog. ausbeuterischen Klassen hatte dieser Staat nur ein Mittel parat – die bewaffnete Unterdrückung. Mit legalen Mitteln konnten die Gegner der bolschewistischen Klassendiktatur das neue Regime nicht mehr in seine Schranken weisen. Das Schicksal der Konstituante veranschaulichte dies eindeutig. Die Tatsache, dass die Bolschewiki die Verfassunggebende Versammlung mit einer noch größeren Leichtigkeit von der politischen Bühne verjagen konnten, als sie dies kurz zuvor mit der Provisorischen Regierung getan hatten, lieferte den radikalen Gegnern der Bolschewiki ein zusätzliches Argument dafür, dass die Gewalt, die die Bolschewiki als politisches Mittel anwenden, nur mit Gegengewalt bekämpft werden könne. Alle Voraussetzungen für den Ausbruch eines Bürgerkrieges waren nun gegeben.

Diente die Kampftaktik der Bolschewiki den europäischen Rechtsextremisten als Vorbild?

Viele Beobachter der damaligen Vorgänge aber auch zahlreiche Autoren, die nachträglich das Vorgehen der totalitären Parteien analysierten, waren davon überzeugt, dass die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten bei ihrem Kampf um die Alleinherrschaft sich an die bolschewistische Taktik anlehnten. Aber auch manche Kommunisten hatten ursprünglich ähnlich gedacht. Kurz nach dem sogenannten „Marsch auf Rom“ der italienischen Faschisten vom Oktober 1922 sagte z.B. Lev Trotzki: „Mussolini ist eine Lektion, die Europa gegeben wurde in Bezug auf die Demokratie, ihre Prinzipien und Methoden. In einigen Beziehungen ist diese Lektion analog – natürlich vom entgegengesetzten Extrem – der, die wir Europa Anfang 1918 gaben, als wir die Verfassunggebende Versammlung auseinanderjagten“.

In ähnlichem Sinne äußerte sich im April 1923 auch ein anderer führender Bolschewik, Nikolaj Bucharin:

Es ist charakteristisch für die Kampfmethoden der Faschisten, dass sie sich mehr als irgendeine andere Partei die Erfahrungen der russischen Revolution zunutze gemacht haben.

Diese Beobachtungen enthielten allerdings nur Teilwahrheiten. Den kommunistischen Autoren von damals fehlte, im Gegensatz zu den heutigen Anhängern der „Verwandschafts-These“, die zeitliche Distanz, um zu erkennen, dass die Taktik der extremen Rechten sich grundlegend von derjenigen der Bolschewiki unterschied. Es trifft zwar zu, dass sowohl die italienischen Faschisten als auch die Nationalsozialisten in der jeweiligen Anfangsphase der Bewegung mit den Kommunisten in der Radikalität der Ablehnung des bestehenden Staates rivalisierten. Dieser Sachverhalt sollte sich aber bald ändern. Aus der Tatsache, dass es in den westlichen Staaten, anders als in Russland im Jahre 1917, praktisch unmöglich war, die Macht gegen den Willen der herrschenden Eliten zu erobern, zog die extreme Rechte sehr schnell ihre Schlussfolgerungen. Sie erwies sich als wesentlich flexibler und lernfähiger als die Kommunistische Internationale. Während die westlichen Kommunisten ihre Frontalangriffe gegen den Staat fortsetzten, begannen die Faschisten und etwas später die Nationalsozialisten um die Inhaber der Staatsgewalt zu werben. Sie entwickelten nun eine doppelgleisige Taktik– anbiedernd „legalistisch“ gegenüber der Oberschicht und kompromisslos gewalttätig gegenüber den „Marxisten“. Dies stellte eine Neuerung gegenüber dem Vorgehen der Bolschewiki dar, die einen Zweifrontenkrieg – sowohl gegen den Staatsapparat als auch gegen die anderen politischen Parteien – geführt hatten. Sowohl die Faschisten als auch die Nationalsozialisten waren sich darüber im Klaren, dass sie nur mit Hilfe der Nicht-Faschisten und der Nicht-Nationalsozialisten an die Macht gelangen konnten. Und ihre Rechnung ging bekanntlich auf.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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