Höhen und Tiefen des russischen Parlamentarismus

Die Duma-Wahl vom 18. September hat keine Sensation erbracht. Die „systemkritischen“ oppositionellen Gruppierungen haben den Sprung ins Parlament erneut nicht geschafft. Das russische Parlament wird weiterhin den verlängerten Arm der Exekutive bilden. Es gab allerdings in der 110-jährigen Geschichte des russischen Parlamentarismus auch Perioden, in denen das Parlament eine ganz andere Rolle im Staatsgefüge Russlands spielte. Eine geschichtliche Betrachtung anlässlich der letzten Staatsduma-Wahl.


Kein Ort für Diskussionen?

Viele Russlandkenner weisen darauf hin, dass die russische Geschichte sich in den meisten Epochen durch die Allmacht des Staates und die Ohnmacht der Gesellschaft ausgezeichnet habe. Wenn man das Schicksal des russischen Parlamentarismus seit der Errichtung der „gelenkten Demokratie“ im Lande um das Jahr 2000 betrachtet, scheint dieses harte Urteil durchaus seine Berechtigung zu haben. Spektakuläre Beweise hierfür lieferte z.B. die Aussage des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei „Einiges Russland“ und Parlamentspräsidenten, Boris Gryslow, der vor einigen Jahren sagte, dass das Parlament kein Ort für Diskussionen sei. Auch das Abstimmungsverhalten der Duma vom 20. März 2014 als die Angliederung der Krim an die Russische Föderation zur Debatte stand, war ein anschauliches Beispiel hierfür. Nur ein einziger Abgeordneter, Ilja Ponomarjow, stimmte dagegen. Stellt also die Obrigkeitstreue ein konstitutives Merkmal des russischen Nationalcharakters dar, wie viele Autoren meinen? Würden sich die Dinge wirklich so verhalten, wie lässt sich dann die Tatsache erklären, dass Russland im 20. Jahrhundert vier Revolutionen erlebte, die jeweils zu einer grundlegenden Veränderung des bestehenden Systems bzw. zum Systemwechsel führten? So viele wie kein anderes großes europäisches Land.

Das unbotmäßige Parlament

Und auch die 110-jährige Geschichte des russischen Parlamentarismus kannte durchaus Perioden, in denen das Parlament keineswegs ein Sprachrohr der Exekutive war, sondern ein Gegengewicht zu ihr bildete. Dies insbesondere in der Entstehungsphase des russischen Parlamentarismus unmittelbar nach dem Manifest des Zaren vom Oktober 1905. Damals versprach Nikolaus II. seinen Untertanen Grundrechte und Einberufung eines Parlaments. Dies war das Ende der uneingeschränkten zarischen Selbstherrschaft.

Im April 1906 fanden die Wahlen zur ersten Staatsduma statt, die für das herrschende Establishment mit einer großen Enttäuschung endeten. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren viele Vertreter der Petersburger Machtelite von der Zarentreue der russischen Landbevölkerung überzeugt. Dementsprechend war auch das Wahlgesetz zur ersten Duma konzipiert, das die Bauern besonders begünstigte. Die Kurie der Bauern durfte mehr als 40% der Abgeordneten wählen (Russland hatte damals ein Mehrklassenwahlrecht, das dem Wahlrecht Preußens in gewisser Weise ähnelte). Doch wählten die Bauern, anders als erwartet, in ihrer übergroßen Mehrheit nicht konservative, sondern regimekritische bzw. revolutionäre Parteien. So sehe also der viel gepriesene Konservatismus  der russischen Bauern aus, bemerkte sarkastisch  der damalige russische Ministerpräsident Sergej Witte, der in Bezug auf die angebliche Zarentreue der russischen Unterschichten im Gegensatz zu seinen entsetzten Kabinettskollegen  keine allzu großen Illusionen hegte. Aus der wichtigsten Stütze der zarischen Autokratie verwandelten sich die russischen Unterschichten nun in ihre gefährlichsten Gegner. Die im Februar 1907 gewählte zweite Staatsduma war noch radikaler als die erste. Beinahe die Hälfte der Abgeordneten war sozialistischer Orientierung. Der linke Flügel des sozialistischen Parteienspektrums befürwortete sogar die Anwendung des revolutionären Terrors gegen das bestehende Regime. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde die zweite Staatsduma am 3. Juni 1907 vom damaligen Ministerpräsidenten Pjotr Stolypin in einer staatsstreichähnlichen Manier aufgelöst. Zugleich wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Die Kurie der Bauern wurde beinahe halbiert, die Kurie der Gutsbesitzer erheblich gestärkt. Die nach dieser Wahlreform gewählte dritte Staatsduma hatte als Folge davon eine konservative Mehrheit. Dessen ungeachtet hörte das Parlament keineswegs auf, ein Gegengewicht zum herrschenden Establishment darzustellen.

„Scheinkonstitutionalismus“?

Die These Max Webers vom russischen Scheinkonstitutionalismus in Bezug auf die zarische Verfassung von 1906, die von manchen anderen Autoren geteilt wird, ist sicherlich unberechtigt.

Zwar blieb die Macht des Zaren auch nach 1905 stärker als die Macht aller anderen europäischen Herrscher. Die Staatsduma war allerdings, worauf der russische Exilhistoriker Viktor Leontowitsch mit Recht hinweist, ein selbständiges Kontrollorgan, nicht ein Werkzeug des Zaren. In der Duma erhielt die russische Opposition zum ersten Mal ein authentisches staatliches Forum, in dem sie legal Kritik an der Regierung äußern konnte.

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vertiefte sich die Kluft zwischen der Regierung und dem Parlament noch zusätzlich. Im Sommer 1915 entstand in der Duma ein oppositionell gesinnter „Fortschrittsblock“, dem sich die Mehrheit der Abgeordneten anschloss. Der Fortschrittsblock forderte eine stärkere Einbindung der Gesellschaft in die politischen Entscheidungsprozesse, vor allem aber die Bildung einer gegenüber dem Parlament verantwortlichen Regierung. Ende 1916 erreichte die Auseinandersetzung der Opposition mit dem Regime ihren Höhepunkt. Der Vorsitzende der Partei der Konstitutionellen Demokraten, Pawel Miljukow, fragte, als er die Unfähigkeit der damaligen Regierung beschrieb: „Was ist das? Dummheit oder Verrat?“. Von der Regierung wandten sich damals nun nicht nur die liberalen bzw. sozialistischen Gruppierungen, sondern auch manche konservativen Kreise ab, dies nicht zuletzt wegen des übermäßig großen Einflusses des „Wunderheilers“ Rasputin auf die politischen Entscheidungsprozesse im Lande. Sogar einige Hofkreise planten damals eine Palastrevolution: „Die ganze Staatsduma – von Miljukow bis Purischkewitsch (rechtsradikaler russischer Politiker) bekannte sich zur Revolution“, schreibt in seinen Erinnerungen der russische Philosoph Sergej Bulgakow, der eine Zeitlang auch Duma-Abgeordneter war.

So hatte die russische Monarchie zu Beginn des Jahres 1917 so gut wie keine Verteidiger mehr.

Die Radikalisierung der „Massen“

Nach dem Sturz des Zaren im Februar/März 1917 befand sich Russland in einem „Freiheitsrausch“, die Stimmung der Bevölkerung wurde immer radikaler. Die Bolschewiki waren damals allerdings die einzige bedeutende politische Kraft Russlands, die sich von diesem Radikalisierungsprozess nicht beunruhigen ließ und ihn sogar zu beschleunigen suchte. Dessen ungeachtet bekannte sich damals zum bolschewistischen Programm nur eine Minderheit der Bevölkerung. Die Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung, die im November 1917 (kurz nach dem bolschewistischen Staatsstreich) stattfanden, stellten ein deutliches Indiz hierfür dar. Die Bolschewiki erhielten nur 24% der Stimmen.

Die Konstituante oder das „letzte Gefecht“ des russischen Parlamentarismus

Die durch den bolschewistischen Staatsstreich zerschlagenen demokratisch-parlamentarischen Institutionen kehrten in der Gestalt der Konstituante auf die politische Bühne zurück. Ihren Sieg zuzulassen, bedeute aber für die Bolschewiki, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen“. Dies kam für die neuen Machthaber nicht in Frage. Der von den Bolschewiki errichtete „Sowjetstaat“, der die sogenannten ausbeuterischen Klassen entrechtete, widersprach den Vorstellungen der Mehrheit der Konstituante, die sich für einen parlamentarisch-demokratischen Staat für alle Bürger Russlands unmissverständlich aussprach. So stellte die Verfassunggebende Versammlung mit ihren programmatischen Vorstellungen einen Fremdkörper in dem von den Bolschewiki errichteten System dar. Dies ungeachtet der Tatsache, dass dieser “Fremdkörper“ den Willen der Bevölkerungsmehrheit repräsentierte. Als die Delegierten der Konstituante nach der Unterbrechung ihrer ersten Sitzung vom 18. Januar 1918 ihre Beratungen am nächsten Tag fortsetzen wollten, war das Taurische Palais, in dem die Beratungen der Konstituante stattfanden,  von Wachen umstellt und für die Abgeordneten der damals einzigen vom Volk legitimierten demokratischen Einrichtung im Lande unzugänglich. Die Demokratie für alle wurde nun durch die sogenannte Sowjetdemokratie nur für die werktätigen Schichten abgelöst.

Die Rückkehr der Demokraten

Erst 70 Jahre später sollten die demokratischen Institutionen auf die politische Bühne des Landes zurückkehren. Als Michail Gorbatschow verkündete: „wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, läutete er damit auch das Ende des von den Bolschewiki 1917/18 errichteten Systems ein. Einen Einschnitt in der Geschichte des Landes stellten die zweiwöchigen Debatten des I. Kongresses der Volksdeputierten vom Mai/Juni 1989 dar. Millionen, die wie gebannt den Verlauf der Debatten vor den Fernsehschirmen verfolgten, erfuhren über den tatsächlichen  Zustand des bestehenden Systems so viel, dass es nicht mehr möglich war, das Land wie bisher zu regieren. Die bolschewistische Herrschaft beruhte (insbesondere seit der Errichtung des Stalinschen „Kommandosystems“) im Wesentlichen auf drei Säulen: dem Macht-, dem Wirtschafts- und dem Wahrheitsmonopol. Durch die Verkündung der „Glasnost“ hat Gorbatschow das dritte dieser Monopole erschüttert und damit einen eigendynamischen Prozess ausgelöst, der letztendlich zur Auflösung des 1917/18 errichteten Systems führen sollte. Der am 19. August 1991 unternommene Versuch der kommunistischen Dogmatiker das „Rad der Geschichte“ mit Gewalt zurückzudrehen, sollte diesen Prozess lediglich beschleunigen

Die neue „Doppelherrschaft“

Dessen ungeachtet hinterließ die mehr als siebzigjährige Herrschaft der Bolschewiki ein schweres Erbe, das die im August 1991 entstandene „zweite“ russische Demokratie stark belastete. Dies betraf auch den russischen Parlamentarismus. Denn kurz nach der Entmachtung der KPdSU entbrannte in Russland ein immer tiefer werdender Konflikt zwischen der Exekutive und der Legislative. Beide Seiten des Konflikts stützten sich auf unterschiedliche legitimatorische Quellen: Boris Jelzin  berief sich  auf den demokratisch bekundeten Willen der Bevölkerung, die ihn am 12. Juni 1991 zum Staatspräsidenten wählte.  Die Wahlen des Kongresses der Volksdeputierten Russlands hingegen, die im März 1990 stattfanden, galten als halbfrei, denn zur Zeit der Kandidatenaufstellung bestand in Russland bzw. in der Sowjetunion formell immer noch das Machtmonopol der KPdSU. So schöpfte der Oberste Sowjet seine Legitimität aus der damals noch geltenden Breschnewschen Verfassung der RSFSR, die in ihrem Artikel 104 den Obersten Sowjet zum höchsten Organ im Staate erklärte und das Prinzip der Gewaltenteilung praktisch aufhob. Es entstand in Russland nun eine Art „Doppelherrschaft“, die das Gewaltmonopol des Staates auszuhöhlen drohte. Dieser „Doppelherrschaft“ setzte Jelzin mit seinem staatsstreichähnlichen Dekret vom 21. September 1993 ein Ende, als er das Parlament auflöste. Dieser Beschluss Jelzins führte wiederum zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, deren Höhepunkt die Erstürmung des „Weißen Hauses“ (des Sitzes des russischen Parlaments) am 3./4. Oktober 1993 durch die Regierungstruppen darstellte. Die von vielen Fernsehstationen live übertragene Erstürmung des Weißen Hauses hinterließ ein tiefes Trauma im Bewusstsein der Bevölkerung und trug zur Diskreditierung der demokratischen Idee erheblich bei.

1906 vs. 1993 – zwei Verfassungen im Vergleich

Welches System wurde nun in Russland nach der Ausschaltung des Obersten Sowjets errichtet? Es ähnelte in gewisser Hinsicht dem eingangs beschriebenen System, das in Russland nach dem Zarenmanifest vom Oktober 1905 entstanden war. Die von Jelzin und seinen Beratern konzipierte Verfassung vom Dezember 1993 wies erstaunliche Ähnlichkeit mit der russischen Verfassung vom April 1906 (den Staatsgrundgesetzen) auf: „Dem Kaiser von Allrussland gehört die Oberste Selbstherrschende Gewalt“ – so der Artikel 4 der Staatsgrundgesetze von 1906. In der Jelzinschen Verfassung wird der Staatspräsident der Russischen Föderation als Garant der Verfassung bezeichnet (Artikel 80). Der Stellenwert des Parlaments fällt sowohl in den Staatsgrundgesetzen von 1906 als auch in der Verfassung von 1993 etwas bescheidener aus. Es heißt übrigens in beiden Fällen „Staatsduma“ – auch dieses Detail zeugt von einer bewussten Wiederanknüpfung der postkommunistischen Machthaber an die vorrevolutionäre Geschichte.

Neuer Scheinkonstitutionalismus?

Trotz seiner recht schwachen Stellung in einem Präsidialsystem stellte das Parlament in der Jelzin-Periode einen Ort dar, in dem sich regierungskritische Abgeordnete lautstark zu Wort melden konnten. Diese Rolle als Diskussionsplattform und als ein gewisses Gegengewicht zur Exekutive hat die Staatsduma nach dem Machtantritt Wladimir Putins im Jahre 2000 weitgehend eingebüßt. Dessen ungeachtet waren sogar in der Ende 2003 gewählten vierten Duma noch einige unabhängige Abgeordnete mit Direktmandaten aus dem demokratischen Lager vertreten. Um den Einzug der unabhängigen Abgeordneten ins Parlament zu erschweren, änderte die Regierung 2005 das Wahlgesetz. Ein reines Verhältniswahlrecht wurde eingeführt, das nur Parteilisten zuließ. Dieses neue Wahlgesetzt sowie sonstige Restriktionen, denen demokratische Gruppierungen unterworfen waren, zeigten, dass die Kreml-Führung nicht nur danach strebte, das Parlament in ein Instrument der Herrschenden zu verwandeln, in dem die regierungstreue Mehrheit nach Belieben die Verfassung ändern kann. Denn bereits die 2003 gewählte Duma entsprach all diesen Kriterien. Nein, das herrschende Establishment verfolgte nun noch ehrgeizigere Ziele: Die demokratischen Gruppierungen sollten nun gänzlich aus dem Parlament verbannt werden, was nach der Duma-Wahl vom 2. Dezember 2007 auch geschah. Vor kurzem wurde zwar das Wahlgesetz geändert. Jetzt wird die Hälfte der Abgeordneten direkt gewählt. An der Zusammensetzung des Parlaments hat dieses neue Wahlgesetz indes, wie die Wahlen vom 18. September zeigten, kaum etwas verändert. Regimekritische Gruppierungen sind hier auch weiterhin nicht vertreten.

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Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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