Ist Russland eine „europäische Macht“? – Anmerkungen zu einer Kontroverse

Gehört Russland zu Europa? Diese Frage wird seit Generationen sowohl in Russland als auch im Westen kontrovers diskutiert.


Die Zugehörigkeit Russlands zu Europa wird im Westen nicht selten in Frage gestellt. Dabei wird der Begriff „Europa“ oft nur mit dem Westen gleichgesetzt und dadurch stark verkürzt. Die Tatsache, dass Europa auch einen orthodoxen Osten hat, wird unterschätzt.

So entsteht die paradoxe Situation, dass solche Schriftsteller wie Tolstoi, Dostojewski oder Tschechow oder solche Maler wie Kandinsky oder Malewitsch, welche die europäische Kultur als solche außerordentlich bereichert haben, quasi aus dem gemeinsamen „europäischen Haus“ ver­bannt werden. Und diese Verbannung müsste sich eigentlich auch auf viele westliche Künstler und Schriftsteller erstrecken, deren Werke entscheidend durch die russische Malerei, Musik oder Literatur inspiriert wurden.

Andererseits wären Dostojewski und Tolstoi ohne Cervantes, Rousseau oder Goethe unvorstellbar. So schließt sich der Kreis, und es wird offensichtlich, dass beide Teile Europas geradezu essentiell aufeinander angewiesen sind und dass ihre Trennung schmerzliche Folgen für den Kontinent als solchen nach sich ziehen kann.

Aber nicht nur im Westen, auch in Russland selbst wird die Zugehörigkeit des Landes zu Europa von vielen Autoren und ideologischen Gruppierungen massiv in Frage gestellt. Darüber werden dort seit Generationen heftige Kontroversen geführt. Ausgelöst wurden sie durch die petrinische Umwälzung, die vor etwa 300 Jahren stattgefunden hatte. Damals beschritt Russland als erstes nichtabendländisches Land den Weg der Europäisierung.

Moskau als das „Dritte Rom“

Keine andere Revolution in Russland erschütterte die bestehenden Wertvorstellungen im Lande zuvor so radikal wie petrinische. Bis dahin war in Russland das Gefühl von der eigenen Auserwähltheit stark verankert. Symbolisiert wurde dieses Überlegenheitsgefühl durch die Theorie von Moskau als dem „dritten Rom“. Nach dem Fall des alten Rom und von Byzanz, dem „zweiten Rom“, galt Moskau in den Augen vieler orthodoxer Christen als das dritte, unvergängliche Rom.

Anders als oft vermutet hatte die Theorie von Moskau als dem dritten Rom eher einen defensiven Charakter. Ursprünglich von Mönch Filofej zu Beginn des 16. Jahrhunderts formuliert, stellte sie einen Appell an den damals in Moskau herrschenden Großfürsten Wassili III. dar, die Reinheit der Orthodoxie zu schützen und zu bewahren. Den Fall von Konstantinopel führte der Mönch auf die Abkehr des byzantinischen Kaiserreiches von der reinen Lehre der Kirche und auf den moralischen Verfall zurück. Nach dem Untergang von Byzanz im Jahre 1453 blieb Russland als der einzige unabhängige Staat übrig (1480 hat sich Russlands endgültig vom „Tatarenjoch“ befreit), in dem noch der orthodoxe Glaube herrschte. Deshalb musste es sich in eine unangreifbare Festung der Orthodoxie verwandeln. Der Moskauer Staat wurde nun von manchen politischen Denkern Russlands als eine Art Abbild des Himmelreiches auf Erden betrachtet, als ein Staat, der auf Wahrheit beruhte (gossudarstwo prawdy). Die technologische und wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem Westen rief im Lande keine Minderwertigkeitskomplexe hervor, denn die Leistungen des Abendlandes galten im Wesentlichen als irrelevant, da es keinen richtigen Glauben besaß.

Die prometheische Sehnsucht der neuzeitlichen abendländischen Kultur, die sich die radikale Veränderung der Welt zum Ziel setzte, war Russland zunächst fremd. Seine Kultur blieb – ähnlich wie die des Westens im Mittelalter – vorwiegend kontemplativ. Das religiöse Moment bestimmte auch die weltlichen Handlungen und Betrachtungen. Nur die Berührung mit dem Transzendenten gab dem Weltlichen seinen eigentlichen Sinn. Losgelöst von der religiösen Dimension galten weltliche Beschäftigungen wie etwa Wissenschaft, Literatur oder Kunst als unseriöse Spielereien, so der russische Historiker Wassili Kljutschewski.

Die Entzauberung des „Dritten Roms“ durch die petrinische Umwälzung

Erst der umwälzende Gewaltakt Peters des Großen erschütterte diese Wertehierarchie. Ein beispielloser Paradigmenwechsel fand statt – der zum Himmel gerichtete Blick des russischen Menschen wurde nun in Richtung Erde gelenkt.

Der Versuch Peters des Großen, Russland an die europäische „Normalität“ anzupassen, geriet in einen eklatanten Widerspruch zu dem im Lande tief verwurzelten Glauben an die Auserwähltheit der russischen Nation, der „heiligen Rus´“. Und nicht zuletzt aufgrund dieses Glaubens ist es den Nachfolgern Peters niemals gelungen, Russland in ein „normales“ europäisches Land umzuwandeln. Aber auch die Widersacher Peters des Großen waren nie imstande, die Folgen seines Werks ungeschehen zu machen. Die Restauration der vorpetrinischen Zustände war nicht mehr möglich.

Radikale Kritiker der petrinischen Ideen, so die Slawophilen oder die Verfechter der 1921 im russischen Exil entstandenen Eurasierbewegung vertraten die Meinung, Peter I. habe das Fundament, auf dem die innere Stärke Russlands ruhte, vernichtet. Kein fremder Eroberer wäre in der Lage gewesen, die nationale russische Kultur in einem solchen Ausmaß zu zerstören, wie dies Peter I. tat, so der Vordenker der Eurasierbewegung, Nikolaj Trubetzkoj. Dass dieses von den Eurasiern so verklärte vorpetrinische Russland aufgrund seiner Autarkie und seiner Selbstzufriedenheit allmählich in eine immer tiefer werdende kulturelle Stagnation geraten war, wird von den Kritikern der petrinischen Umwälzung indes kaum beachtet. Um diese Stagnation zu überwinden, benötigte Russland dringend kulturelle Anregungen von außen. Und woher konnten diese sonst kommen, wenn nicht aus dem Westen?

Es sei kein Zufall gewesen, dass Peter der Große das Fenster nicht nach Osten oder Süden, sondern nach Westen geöffnet habe, so der Kulturhistoriker Wladimir Weidlé. Intuitiv habe er den für die russische Kultur fruchtbarsten Weg gewählt. Die beispiellosen kulturellen Leistungen des Petersburger Russland seien die Folge der petrinischen Umwälzung gewesen. Weidlé sieht keine Alternative zum petrinischen Programm. Die Abwendung von Europa sei für Russland unmöglich, weil es infolge seiner Christianisierung zum unverzichtbaren Bestandteil Europas geworden sei. Aber auch für den Westen könne der Verlust Russlands unabsehbare Folgen haben, denn Russland verkörpere nach dem Untergang von Byzanz die Tradition des östlichen Christentums, von dem der Westen immer wieder Impulse für seine Erneuerung erhalte, setzt Weidlé seine Ausführungen fort.

Die Selbstgenügsamkeit und Selbstzufriedenheit der russischen Gesellschaft gingen mit den Umwälzungen Peters des Großen zu Beginn des 18. Jahrhunderts jäh zu Ende. Für die überwältigende Mehrheit der Russen brach jetzt eine Welt zusammen. Moskau stellte von nun an nicht mehr den Hort des reinen Glaubens, das Abbild des Himmelreiches auf Erden, sondern lediglich ein unterentwickeltes Territorium dar, das erst modernisiert werden musste. Die russischen Herrscher maßen nun das Reich im Wesentlichen mit den abendländischen Kriterien der Effizienz. Das Land begab sich auf eine Aufholjagd, um den Rückstand gegenüber dem wirtschaftlich und technologisch davoneilenden Westen zu beseitigen. Von einem ausgesprochenen Sendungsbewusstsein konnte angesichts dieser Sachverhalte keine Rede mehr sein.

Im 18. Jahrhundert wurden russische Herrscher, vor allem Peter der Große und Katharina II., zu Lieblingen der westlichen Auf­klärer. Ihr Unternehmen – ein aus der Sicht des Westens halbbarbarisches Land der europäischen Kultur anzupassen – wurde allgemein bewundert.

Aber auch Kritiker des petrinischen Werks meldeten sich damals zu Wort. Jean-Jacques Rousseau warf dem Zaren vor, er habe seine Untertanen zu früh europäisiert:

Er sah die Rohheit seines Volkes, sah jedoch nicht, dass es für höhere Gesittung noch nicht reif war; er wollte es zivilisieren, als es erst der Zucht bedurfte.

Und dann entwickelt Rousseau folgende düstere Vision:

Die Tataren, seine Untertanen und Nachbarn, werden seine und unsere Herren werden; diese völlige Umwälzung scheint mir unabwendbar. Alle Könige Europas arbeiten einmütig daran, sie zu beschleunigen.

 

Diese Prognose hatte allerdings mit der politischen Wirklichkeit nur wenig gemeinsam. Die Zarenmonarchie entwickelte sich infolge der petrinischen Umwälzung zu einem gleichberechtigten Mitglied des europäischen Mächtekonzerts, war in der Regel loyaler Verbündeter ihre westlichen Koalitionspartner, und auch beim genauerem Hinsehen konnte man keine Merkmale entdecken, die auf eine unversöhnliche Gegnerschaft des Petersburger Russland zum Abendland hinwiesen. Mehr noch. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts trug Russland entscheidend dazu bei, dass der napoleonische Versuch, das europäische Gleichgewicht zu zerstören, scheiterte.

„Westler“ und „Slawophile“

Erst nach dem Sieg des Zarenreiches über Napoleon sollte sich die Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zu Russland schlagartig ändern. Während der napoleonischen Kriege noch als Befreier Europas von einem Tyrannen gefeiert, wurde Russland kurz danach als Anwärter auf die Nachfolge des geschlagenen Napoleons angesehen.

Aber nicht nur im Westen, sondern auch in den Augen mancher Vertreter der russischen Bildungsschicht galt das Zarenreich im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts als Gefahr für die europäische Zivilisation. Sie identifizierten sich mit den damals im Westen herrschenden antirussischen Ressentiments. Ein besonders anschauliches Beispiel dafür stellt der berühmte Philoso­phi­sche Brief des russischen Denkers Pjotr Tschaadajews aus dem Jahre 1836 dar, der einen völlig neuen Abschnitt in der russischen Ideengeschichte einleitete. Die eigentliche geistige und kulturelle Entwicklung fand für Tschaadajew in den letzten tausend Jahren lediglich im Westen statt. Russland habe sich an diesem großartigen geschichtlichen Schauspiel nicht als Akteur, sondern lediglich als passiver Zuschauer beteiligt:

Einsam stehen wir da in der Welt, haben ihr nichts gegeben, haben sie nichts gelehrt; wir haben keine einzige Idee zur Gesamtheit der menschlichen Ideen beigetragen; wir haben nichts zum Fortschritt des menschlichen Geistes beigesteuert, und alles, was von diesem Fortschritt zu uns kam, haben wir entstellt.

Generationenlang bemühten sich sowohl die europäisierte russische Oberschicht als auch die Herrscher des Landes um den Ruf Russlands als einer europäischen Macht. Nun wurde aber dieser Anspruch sowohl vom Westen als auch von den radikalen russischen Kritikern der russischen Eigen­art, den „Westlern“, massiv in Frage gestellt. Tschaadaejew lässt sich als einer ihrer ersten Vertreter bezeichnen. Sein Frontalangriff auf die russische Eigen­art trug zweifellos dazu bei, dass viele russische Denker begannen, sich auf die eigenen Traditionen neu zu besinnen. Emotionsgeladene, nicht selten unge­rechte Kritik an diesen Traditionen hatte eine nicht weniger emotionale, oft unkritische Apologie zu Folge. Typisch hierfür waren die Gedanken­gänge der sla­wophilen Gegenpartei, die sich im Zuge der Polemik mit den Thesen Tschaadajews und seiner Gesinnungsgenossen entwickelte.

Im Gegensatz zu Tschaadajew betrachteten die Slawophilen die Besonderheit der russischen Entwicklung, die sich von der des Westens unterschied, keines­wegs als eine Abweichung vom Gesunden und Normalen. Im Gegen­teil, diese Eigenart sei ein kostbares Gut, das den eigentlichen Wert der russischen Geschichte ausmache. Und in der Tat übersah Tschaadajew, ähnlich wie andere radikale Westler, die Originalität der vorpetrinischen Kultur, weil er der Orthodoxie, die den Mittelpunkt dieser Kultur bildete, keine besondere Bedeutung beimaß. Die Orthodoxie, so die Slawophilen, postuliere eine völlig andere Gesellschafts- und Staatsordnung als der Katholizismus bzw. Pro­te­stan­tismus. In ihrem Zentrum liege der Gedanke der Harmonie, der organischen Gemeinschaft (sobornost’). Dieser Gedanke söhne das Indi­viduum mit dem Kollektiv, den Herrscher mit den Beherrschten aus. Im Mittelpunkt der westlichen Kultur hingegen stünden Egoismus, Konflikt und Gewalt.

Die petrinischen Reformen, die die abendländischen Prinzipien auf Russ­land übertrugen, wurden von den Slawophilen, wie bereits gesagt, als nationale Katastrophe angesehen. Sie sehnten sich nach der sozialen und geistigen Harmonie zurück, die ihrer Meinung nach im vorpetrinischen Russland verwirklicht gewesen sei.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schienen die Westler den Konflikt mit den Slawophilen und ihren Gesinnungsgenossen endgültig zu ihren Gunsten entschieden zu haben. Russland erlebte damals einen Modernisierungsschub, der seine Strukturen immer stärker an diejenigen des Westens anglich. Das autokratische System verwandelte sich nach 1905 in eine, wenn auch beschränkte, konstitutionelle Monarchie. Einen ähnlichen „Modernisierungsprozess“ erlebte auch die intellektuelle Elite des Landes. Sie wurde damals in gleichem Maße wie die westliche Bildungsschicht von der Fin de Siècle-Stimmung erfasst; die russische Avantgarde stellte einen der wichtigsten Bestandteile der künstlerischen Moderne dar. Die Unterschiede zwischen Ost und West begannen sich zu verwischen. Der russische Dichter Alexander Blok schrieb damals (1908) von

einem „barbarischen“ Streit zwischen Westlern und Slawophilen – einem ausschließlich russischen Streit, der für den Europäer unverständlich und uninteressant ist.

Übersehen wurde von vielen nur die Tatsache, dass die russischen Unterschichten sich an diesen neuen Denkprozessen kaum beteiligten. Erst während der Revolution von 1917 offenbarte sich dieser Sachverhalt in voller Deutlichkeit. Das Ausmaß der Kluft zwischen der europäisierten Oberschicht und dem einfachen Volk wurde für alle sichtbar. Die Debatte zwischen den Westlern und den Slawophilen erlebte nun, diesmal vorwiegend in der russischen Emigration, eine Neuauflage. Erneut wurde die Frage nach der Zugehörigkeit Russlands zu Europa leidenschaftlich diskutiert. In Russland selbst, unter den Bedingungen der bolschewistischen Diktatur, war eine offene Diskussion über diese Fragen nicht mehr möglich. Über den Sinn der russischen Geschichte durfte nun die herrschende Partei allein reflektieren, einen Dialog mit sich ließ sie nicht zu.

Der bolschewistische Isolationismus

Der Sieg der bolschewistischen Revolution lieferte auch der westlichen Diskussion über die Zugehörigkeit Russlands zu Europa zusätzliche Impulse. Der Kultursoziologe Alfred Weber schrieb 1925, die bolschewistische Herrschaft habe die Re-Asiatisierung Russlands zur Folge gehabt. Russland habe nur zeitweise und versehentlich der europäischen Staatengemeinschaft angehört. Sein Wiederausscheiden aus Europa sei seine Rückkehr zu sich selbst.

Als Weber diese Worte schrieb, bahnte sich gerade in Deutsch­land eine Katastrophe an, die den gesamten Kon­tinent in einen noch tieferen Abgrund stürzen sollte, als dies die bolschewistische Revolution getan hatte. Die russische Katastrophe von 1917 stellte also nicht nur ein Symptom der russischen, sondern auch der gesamteuropäischen Krise dar.

Diese deutsch-russischen Parallelen zeigen, dass der Zusammenbruch der nach dem Sturz des Zaren entstandenen „ersten“ russischen Demokratie keineswegs auf den „asiatischen“ Charakter Russlands zurückzuführen war, wie Weber dies angedeutet hatte. Und auch die Bolschewiki selbst waren ihrem Selbstverständnis nach „Europäer.“ Wenn sie von der proletarischen Weltrevolution träumten, dann bezog sich diese ihre Vision in erster Linie auf die hochentwickelten Industrienationen des Westens. Was Russland anbetrifft, so verwandelten sie das von ihnen beherrschte Land in ein Experimentier­feld zur Verwirklichung von Ideen, die sie für die höchste Ausprägung des europäischen Geistes hielten. Ihrem Selbstverständnis nach setzten sie auch das Werk Peters des Großen fort, indem sie die „rückständigen“ russischen Strukturen zu modernisieren suchten.

Die Folgen ihrer Handlungen waren allerdings denjenigen ihres großen Vorgängers geradezu entgegengesetzt. Peter der Große hatte die Kluft zwischen Ost und West, zumindest teilweise, überwunden, die Bolschewiki hingegen schotteten Russland erneut von der Außenwelt ab. Das Land wurde wieder, ähnlich wie der Moskauer Staat im 16. und im 17. Jahrhundert, autark und verlor den Anschluss an die Moderne.

Russlands „Rückkehr nach Europa“?

Umso erstaunlicher waren die Prozesse, die sich auf dem Kontinent in den letzten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts anbahnten. Zwei Teile Europas, die siebzig Jahre lang voneinander getrennt gewesen waren, begannen zusammenzuwachsen. Ein Teil der russischen Eliten wurde nun von der Sehnsucht erfasst, nach Europa zurückzukehren. Und diese Sehnsucht hatte ganz konkrete politische Folgen. Das politische Wunder der friedlichen Revolutionen von 1989, die Überwindung der europäischen Spaltung und die deutsche Einheit wären ohne diese „Sehnsucht“ und ohne den Verzicht des Reformflügels in der Gor­batschow-Equipe auf die Breschnew-Doktrin, die der Idee des „gemeinsa­men europäischen Hauses“ eklatant widersprach, undenkbar gewesen.

Die Heimat der „Diktatur des Proletariats“, das „Mekka“ der Unterdrückten der Erde wurde nun ähnlich „entzaubert“, wie Peter der Große dies vor dreihundert Jahren mit Moskau, dem unvergänglichen „Dritten Rom“ getan hatte. Nach dem petrinischen Verzicht auf den russischen „Sonderweg“ hatte das Land eine Chance erhalten, prägend an der Weiterentwicklung der europäischen Kultur in ihrer Gesamtheit mitzuwirken. Die Gorbatschowsche Umwälzung schien Russland erneut, nach einer etwa siebzigjährigen Trennung vom westlichen Diskurs, diese Chance zu gewähren.

Der europäische „Janus“

Inzwischen ist allerdings die Euphorie der Jahre 1989-91 verflogen. Isolationisti­sche Kräfte sowohl im Westen als auch im Osten, die den europäischen Charakter Russlands in Frage stellen, nehmen an Stärke zu. Die russi­schen „Europäer“, denen der Kontinent die friedliche Überwindung seiner jahrzehntelangen Kluft im Wesentlichen verdankt, stehen zur Zeit mit dem Rücken zur Wand und scheinen ihre Auseinandersetzung mit den radikalen Gegnern des Westens verloren zu haben – dies, vor allem nach der Errichtung der „gelenkten Demokratie“ durch Wladimir Putin. So haben sich z. B. nach einer Umfrage des renommierten Moskauer Lewada-Zentrums vom Februar 2007 71% der befragten Russen als „Nichteuropäer“ definiert. Der patriotische Taumel, der in Russland nach der Annexion der Krim im März 2014 ausbrach, hat diese europaskeptische Stimmung im Lande zusätzlich intensiviert. Aber auch im Westen meldeten sich nun erneut Stimmen zu Wort, die Russlands Zugehörigkeit zu Europa in Frage stellen. Besonders dezidiert vertrat diesen Standpunkt schon vor Jahren der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler in seinem F.A.Z.-Artikel vom 27. Juni 2003. Die angebliche Nichtzugehörigkeit Russlands zu Europa begründet Wehler nicht zuletzt damit, dass das „orthodoxe Christentum sich noch immer zutiefst vom protestantischen und römisch-katholischen Europa (unterscheidet)“.

In der Tat. Das gemeinsame europäische Erbe wird im Osten nicht selten anders interpretiert als im Westen. So kannte z. B. das östliche, von Byzanz dominierte bzw. inspirierte Christentum nicht den Streit zwischen der weltlichen und kirchlichen Macht, der die Frühgeschichte des Abendlandes sehr stark prägte und der zur Entstehung des bis heute vorherrschenden westlichen Pluralismus entscheidend beitrug. Prägend für das östliche Christentum – so für Byzanz und für Russland – war hingegen der Begriff der „Symphonie“, der Eintracht zwischen der weltlichen und der kirchlichen Macht. Dort hat sich das „cäsaropapistische“ System etabliert, in dem sich die Kirche unter die Obhut der weltlichen Herrscher und damit auch in eine weitgehende Abhängigkeit von ihnen begab. Diese Ausgangssituation erschwert im Osten die Durchsetzung eines politischen Pluralismus westlicher Prägung. Die Liste der Unterschiede zwischen Ost und West ließe sich beliebig verlängern. Sind es aber nicht gerade diese Unterschiede, die die gegenseitige Befruchtung ermöglichen? Eine ost-westliche kulturelle Symbiose ist gerade deshalb möglich, weil Europa ein janusköpfiges Gebilde darstellt – mit einem gemeinsamen Fundament und unterschiedlichen Gesichtern. Wäre der Osten nur eine Kopie des Westens oder umgekehrt, so könnten sie voneinander kaum profitieren. Trotz alledem nehmen zurzeit isolationistische Tendenzen sowohl im Osten als auch im Westen an Stärke zu. Die jetzige Entfremdung zwischen den beiden Teilen des Kontinents stellt aber sicherlich nicht das letzte Wort der Geschichte dar.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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