Gewagte Vergleiche

Lassen sich Parallelen zwischen der heutigen Identitätskrise Europas und der Krise der 1930er Jahre ziehen? „Es liegt etwas Ähnliches in der Luft“, sagte vor kurzem die amerikanische Historikerin und Publizistin, Anne Applebaum, im „Tages-Anzeiger“, als sie die heutige Identitätskrise des Westens mit der Situation der 1930er Jahre verglich. Hat sie Recht?


In der gegenwärtigen westlichen Publizistik wird oft die These vertreten, Europa erlebe jetzt eine Art Neuauflage der Krise, die den Kontinent in den 1930er Jahren erschüttert hatte. Dieses Analogiedenken lässt die grundlegenden Unterschiede zwischen der beispiellosen Erosion der europäischen Demokratien, die vor 80-85 Jahren stattgefunden hatte, und der heutigen Identitätskrise Europas weitgehend außer Acht. Ich möchte deshalb auf einige Spezifika der damaligen Krise eingehen. Hier knüpfe ich an Argumente an, die ich bereits vor etwa zwei Jahren in meiner Auseinandersetzung mit dem „ZEIT“-Publizisten Bernd Ulrich formuliert habe, als dieser im September 2014 die These vertrat: „So schwach wie heute war (der Westen) noch nie“.

„Die goldenen zwanziger Jahre?“

Die Krise der 1930er Jahre brach nicht über Nacht aus. Sie bahnte sich schon vorher an und ihre Symptome waren bereits in den 1920er Jahren sichtbar. Besonders sensibel reagierten auf diese Vorboten der Krise russische Emigranten. Sie begriffen, dass die bolschewistische Revolution und der durch sie ausgelöste russische Bürgerkrieg von 1918-1921 lediglich den ersten Akt eines allgemein europäischen Zivilisationsbruchs darstellte, und versuchten die Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Gastländern vor der sich anbahnenden Katastrophe zu warnen.

Der russische Philosoph Semjon Frank, der 1922 auf dem sogenannten „Philosophenschiff“ sein Heimatland verlassen musste, schrieb 1923 in seinem Berliner Exil Folgendes:

Auch Europa raucht und schwelt und (vermag nicht) dieses unterirdische Glimmen zu löschen … Wie wenig Anzeichen gibt es inmitten dieses allgemeinen Chaos und Verfalls für ein geistiges Verständnis des Lebens und ein Streben nach wirklich geistiger Erneuerung.

Ähnlich pessimistisch klangen die Worte des Exilhistorikers Georgij Fedotow. Im Jahre 1928  – die „goldenen zwanziger Jahre“ waren  damals noch in voller Blüte – schrieb er voller Sorge über die Tatsache, dass der moderne Europäer den Wert der Freiheit immer weniger schätze:

 Er verrät die Freiheit auf Schritt und Tritt – in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, in der Religion. Die Freiheit stellt für ihn einen diskreditierten Begriff dar, ein Symbol der Ohnmacht und der bürgerlichen Anarchie.

Welche anderen Eigenschaften des modernen Europäers fielen Fedotow in seiner Abhandlung von 1928 auf? Dies war vor allem sein Hang zum Kollektivismus:

Jede Organisation verlangt vom jeweiligen Individuum eine totale Identifikation mit ihr, wie mit seinem Stamm, seiner Familie oder seiner Nation … Von jedem Mitglied fordert sie Treue und Gehorsam – die Disziplin eines Soldaten. Nur keine Zweifel haben …, nur in geschlossenen Reihen im Gleichschritt marschieren! … Die Führer werden vom Kollektiv auserkoren, und dann gelten sie in den Augen der Massen als Übermenschen.

Wenn man bedenkt, dass Fedotow diese Worte über die neuen totalitären Tendenzen in Europa im Jahre 1928 schrieb, als diese Entwicklungen sich lediglich in zwei europäischen Ländern durchsetzten  – in Russland und in Italien – erstaunt seine Hellsichtigkeit umso mehr.

„Die morsch gewordenen Gegenmächte hatten den Glauben an sich selbst verloren“

Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und nach der immer tiefer werdenden Krise der Weimarer Republik wurde die von Fedotow und von anderen Analytikern der damaligen Zeit beschriebene Brüchigkeit der europäischen Nachkriegsordnung nun für alle sichtbar. Mit größter Sorge schrieb Fedotow 1931 über die Erosion der politischen Mitte im Parteienspektrum Europas. Der Liberalismus spiele in den europäischen Ländern so gut wie keine Rolle mehr, hob er hervor. Die Sozialdemokraten, die nach dem Niedergang des Liberalismus zur wichtigsten Stütze der offenen Gesellschaft geworden seien, verlören in ihrer Auseinandersetzung mit dem linken und rechten Extremismus die politische Initiative.

Die Tatsache, dass die nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 entstandene „erste“ russische Demokratie der bolschewistischen Herausforderung nicht Herr werden konnte, führten viele westliche Beobachter auf die demokratische Unreife der russischen Gesellschaft zurück. Einige Jahre später staunten manche russische Exildenker ihrerseits über die Unfähigkeit der mittel- und westeuropäischen Demokraten, die Angriffe ihrer totalitären Gegner abzuwehren – dies ungeachtet der Jahrhunderte alten rechtsstaatlichen Tradition, die dieser Teil Europas im Gegensatz zu Russland besaß. Die deutsche Katastrophe von 1933 führten diese Autoren nicht in erster Linie auf den Willen zur Macht der radikalen Gegner der deutschen Demokratie, sondern auf die Willenslähmung der Demokraten zurück. In seinem Artikel „Deutschland erwachte“, der 1933 in der russischen Exilzeitschrift „Nowyj Grad“ (Neue Burg) erschien, erklärte der deutsch-russische Philosoph Fjodor Stepun das Debakel der deutschen Demokraten dadurch, dass ihnen „der Kampfeswille und der Glaube an den eigenen Sieg fehlten“. Ähnlich argumentierte damals auch der deutsch-russische Publizist Waldemar Gurian. Im November 1934 schrieb er:

Die morsch gewordenen Gegenmächte hatten den Glauben an sich selbst verloren und kapitulierten, um ihr Leben zu retten und merkten nicht, dass sie gerade darum, weil sie letzte Entscheidungen aufschoben, ihr Ende besiegelten.

Noch größere Sorgen vieler Verteidiger der Demokratie rief damals die Tatsache hervor, dass die deutsche Katastrophe es nicht vermochte, die noch übrig gebliebenen europäischen Demokratien wachzurütteln: „Dies ist bereits die dritte Warnung“, schrieb Fedotow kurz nach der nationalsozialistischen Machtübernahme:

Zunächst versank Russland im Abgrund, dann Italien, jetzt Deutschland. … Ein großer Teil Europas befindet sich nun unter dem Wasser, und die Fluten, die auch den äußersten Westen des Kontinents bedrohen, kommen immer näher.

Als Fedotow diese Worte schrieb, gab es in Europa Beschwichtiger unterschiedlichster Art, die meinten, man solle die Zäsur vom 30. Januar 1933 nicht überbewerten. Die konservativen Verbündeten der NSDAP waren davon überzeugt, es würde ihnen gelingen, Hitler zu zähmen: „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt“, sagte damals einer der konservativen Verächter der Weimarer Demokratie, Franz von Papen.

Fedotow war insoweit viel weitblickender. Er war sich bereits einige Monate nach der Zäsur vom Januar 1933 darüber im Klaren, dass Deutschland infolge der nationalsozialistischen Machtübernahme in eine völlig neue Epoche eintrat:

In ein Zeitalter, in dem die Würde des Menschen an der Reinheit des Blutes gemessen wird… Es gibt noch keine Scheiterhaufen, auf denen die Menschen verbrannt werden (man übt das noch an den Büchern). Man wird allerdings nicht allzu lange auf solche Scheiterhaufen warten müssen. Ein großer Teil des Weges ist zurückgelegt worden.

Die Erosion der europäischen Demokratie führt Fedotow nicht zuletzt darauf zurück, dass die demokratische Idee, für die in früheren Epochen so viele auf die Barrikaden gingen, nun kaum jemanden begeistere: „Diese Krise offenbart nicht nur die Defizite der Institutionen, sondern etwas viel Schlimmeres: das Verwelken der demokratischen Kultur.“

Die Appeasement-Politik

Fedotows Diagnose von 1933/34 nahm die Entwicklung der nächsten Jahre gedanklich vorweg. Bald wurde die mangelnde Bereitschaft der westlichen Demokratien, die rechtsextremen Regime in ihre Schranken zu weisen, offensichtlich. Statt kühne Abwehrpläne gegen die aggressive Politik der rechtsextremen Diktaturen zu entwickeln, neigten nun viele Vertreter des westlichen Establishments  in einem immer stärkeren Ausmaß zu einer Appeasement-Politik, die es Hitler erlaubte, eine Aggression nach der  anderen ungestraft zu begehen und die Restriktionen des Versailler Vertrages innerhalb von fünf Jahren beinahe gänzlich zu demontieren. Voraussetzung für die beinahe uneingeschränkte Nachgiebigkeit der Westmächte dem Dritten Reich gegenüber war nicht zuletzt ihre Vorstellung, Hitlers politische Ziele seien begrenzter Natur. Abgesehen davon ließ sie auch Hitlers antikommunistische Rhetorik nicht unbeeindruckt. Sie nahmen die Beteuerungen des deutschen Diktators, das Dritte Reich stelle eine Bastion der abendländischen Zivilisation im Kampfe gegen die bolschewistische Gefahr dar, für bare Münze.

Der bereits erwähnte Waldemar Gurian schrieb kurz nach dem Anschluss Österreichs Folgendes über das Wesen der Appeasement-Politik:

 Das schlimmste, das man jeweils verhüten wollte, war … das „Blutvergießen“, wie man … sagte. Aber indem der also handelnde Mensch seine physische Existenz „rettete“, verlor er die moralische Existenz.

Und Stefan Zweig fügte in seinen Erinnerungen hinzu: „Hitler brauchte nur einmal das Wort ´Friede´ auszusprechen, und leidenschaftlich vergaßen die Zeitungen alles Begangene und fragten nicht weiter, wozu eigentlich Deutschland so tollwütig rüste“.

Den Höhepunkt der Appeasement-Politik stellte bekanntlich das Münchner Abkommen vom September 1938 dar, der Verrat der Westmächte an der Tschechoslowakei – ihrem treuesten Verbündeten in Ostmitteleuropa und der einzigen Demokratie in der Region. Unmittelbar nach der Münchner Konferenz, die über das Schicksal der Tschechoslowakei entschied, schrieb Thomas Mann Folgendes:

„(Die) demokratische Festung im Osten, die tschechoslowakische Republik (wurde) vernichtet und bewußt zu einem geistig gebrochenen Anhängsel des Nationalsozialismus gemacht, die kontinentale Hegemonie Hitler-Deutschlands besiegelt, Europa in die Sklaverei verkauft. Das Entgelt war dieser Friede“.

Kein „zweites München“

Nach der Annexion der Krim durch die Russische Föderation im März 2014 wurden von einigen Analytikern wiederholt Analogien zwischen dem Verhalten der Westmächte während der Sudetenkrise von 1938 und demjenigen der EU während der Ukraine-Krise gezogen. Der ehemalige Wirtschaftsberater des russischen Staatspräsidenten, Andrej Illarionow, verglich die am 17. April 2014 getroffenen Genfer Vereinbarungen zur Deeskalation der Lage in der Ukraine sogar mit dem Münchner Abkommen von 1938.

Derartige Vergleiche sind jedoch unbegründet. Durch das Münchner Abkommen hatten führende westliche Politiker die Annexion des Sudetenlandes durch das Dritte Reich offiziell legitimiert und den Aggressor, der übrigens mit dem Ergebnis des Münchner Abkommens sehr unzufrieden war, quasi belohnt. Nichts dergleichen ist in Genf geschehen. Die Angliederung der Krim an die Russische Föderation wird in den westlichen Hauptstädten weiterhin als ein völkerrechtswidriger Akt angesehen.

Das Scheitern  der Appeasement-Politik und die westlichen Dilemmata

Nun aber zurück zur europäischen Krise der 1930er Jahre

Die Nachgiebigkeit der westlichen Kabinette stachelte Hitlers Aggressivität nur an. Er hielt die westlichen Politiker für „kleine Würmchen, (die) zu mürbe und zu dekadent (sind), um ernstlich den Krieg zu beginnen“.

Zu den ersten europäischen Regierungen, die sich darüber im Klaren wurden, dass Kompromisse mit Hitler aufgrund der Uferlosigkeit seiner politischen Ziele, wenig Sinn hätten, gehörte das Warschauer Kabinett. Der polnische Außenminister Józef Beck hob am 24. März 1939 hervor: Deutschland habe seine Berechenbarkeit verloren. Hitler müsse mit einer Entschlossenheit konfrontiert werden, die ihm anderswo in Europa bisher nicht begegnet sei.

So distanzierte sich die polnische Führung von ihrer Illusion, die sie in den Jahren 1934-38 noch gehegt hatte, man könne sich mit dem Dritten Reich auf der Basis des Antikommunismus einigen.

Diese späte Einsicht konnte allerdings die sich bereits anbahnende polnische Tragödie nicht abwenden. Am 23. August 1939 schnappte die geopolitische Falle, in der sich Polen seit Jahrhunderten befand, erneut zu, als seine beiden totalitären Nachbarn ihre weltanschaulichen Differenzen vorübergehend ausklammerten und eine Allianz gegen die westlichen Demokratien schlossen.

Die Lage des Westens war nun so bedrohlich wie nie zuvor, dies insbesondere nach dem unerwartet schnellen Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940. Zwei totalitäre Leviathane beherrschten nun beinahe den gesamten europäischen Kontinent. Zu den letzten Verteidigern der europäischen Zivilisationswerte gehörten das einsam kämpfende Großbritannien – unterstützt durch die damals noch neutralen USA – und kleine Widerstandsgruppierungen im besetzten Europa. Damals war der Westen wirklich so schwach wie nie zuvor. Seine Lage war wesentlich prekärer als dies heute der Fall ist – ein zusätzlicher Grund um die eingangs erwähnte These, dass Europa eine Art Neuauflage der Krise der 1930er Jahre erlebe, in Frage zu stellen.

Nur die Auflösung der im August 1939 entstandenen totalitären Allianz konnte die äußerst prekäre Situation des Westens lindern. Die Bezwingung Hitlers war ohne Stalin nicht mehr möglich.

Das damalige Dilemma der Demokratien wurde vom amerikanischen Historiker und Diplomaten George F. Kennan folgendermaßen charakterisiert: Der Westen habe sich so geschwächt, dass er nicht mehr in der Lage gewesen sei, einen der beiden totalitären Gegner ohne die Hilfe des anderen zu bezwingen. Ein moralisch einwandfreier Sieg sei für den Westen nicht mehr möglich gewesen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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