Rechtsruck in Österreich?

Die erste Runde der Bundespräsidentenwahl in Österreich endete mit einem politischen Erdbeben. Dennoch ist unser Kolumnist Heiko Heinisch der Meinung, dass die These vom Rechtsruck zu kurz greift.


 

Grün oder Blau, Alexander Van der Bellen oder Norbert Hofer, so lautet die Frage für die Stichwahl in knapp 3 ½ Wochen. Eine wesentlich Entscheidung hat das Wahlvolk allerdings bereits getroffen: Den Regierungsparteien wurde nicht nur ein Denkzettel verpasst, das rot-schwarze System[1], über viele Jahre gehegt und gepflegt, ist am Ende. Zum ersten Mal in der Geschichte der Zweiten Republik werden weder SPÖ noch ÖVP den Präsidenten stellen. Ihre Kandidaten schafften es nicht einmal in die Stichwahl.

Abwahl der „Großen“ Koalition

Die durch die Medien, vor allem durch die sozialen Netzwerke geisternde Rede vom Rechtsruck in Österreich greift, wenn man das Wahlergebnis genauer betrachtet, deutlich zu kurz. Augenfällig ist zunächst, dass die beiden Kandidaten der sogenannten großen Koalition österreichweit gerade einmal 22,4%, also nicht einmal ein Viertel der Stimmen auf sich vereinigen konnten. In keinem einzigen Bundesland hat einer der beiden den ersten Platz in der Wählergunst erlangen können. Außer in Wien, das der grüne Kandidat für sich entschied, siegte überall der Kandidat der FPÖ. Im einst tiefschwarzen Niederösterreich hat Andreas Khol (ÖVP) nicht einen einzigen Wahlkreis gewonnen, in vielen landete er mit einem einstelligen Ergebnis auf dem vierten Platz.

Und auch wenn die SPÖ sich damit zu trösten sucht, dass der Kandidat der FPÖ in Wien nicht gewonnen und auch nicht besser abgeschnitten habe als seine Partei bei der letzten Gemeinderatswahl, sollte ihr das Wiener Ergebnis zu denken geben. Der Kandidat der SPÖ konnte in jener Stadt, die seit 70 Jahren sozialdemokratisch regiert wird (derzeit in rot-grüner Koalition), keinen einzigen Bezirk für sich entscheiden. Im Gegenteil: Die einstigen Hochburgen der Sozialdemokraten, die großen Bezirke im Süden und Osten der Stadt gingen klar an Norbert Hofer von der FPÖ, während der Sozialdemokrat Rudolf Hundstorfer hinter Alexander Van der Bellen auf Platz 3 zurückfiel.

Nicht einfach ein Rechtsruck

Die Abwanderung der Wählerinnen und Wähler von den einstigen Großparteien offenbart nicht einfach den vielbeschworenen Rechtsruck. Zum einen kann von einem Ruck keine Rede sein, vielmehr erreichte ein seit vielen Jahren erkennbarer Trend einen neuen Höhepunkt. Die 35,1% für Norbert Hofer sind zwar ein historisches Ergebnis für die FPÖ, aber die 21,3% für den Kandidaten der Grünen sind ebenfalls eines und bemerkenswerte 18,9% haben für die parteiunabhängige ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, Irmgard Griss votiert.

Seit 1987 wird Österreich – mit einer Unterbrechung von sieben Jahren, in der von 2000 bis 2007 eine schwarz-blaue Koalition regierte – von einer SPÖ-ÖVP-Koalition regiert. Vor allem die vergangenen neun Jahre waren von großkoalitionärem Stillstands geprägt. Jede geplante Reform verkam zum Reförmchen, von Pensionen über Bildung bis hin zum Arbeitsmarkt. Die Regierungsparteien erweckten in dieser Zeit vor allem den Eindruck, mehr gegeneinander zu arbeiten als miteinander. Das zeigt nun deutlich, wenn auch seit langem absehbar, Wirkung. Das System Rot-Schwarz ist in dieser Form an seinem Ende angelangt. Vergangenen Sonntag wurde einer Politik, die weniger auf die Bedürfnisse der Wählerinnen und Wähler hin ausgerichtet ist und die offensichtlich in erster Linie dem eigenen Machterhalt diente, eine klare Absage erteilt. Sieht man sich die bisherigen Reaktionen der Verlierer an, stellt sich jedoch die Frage, ob die Botschaft in Parteizentralen und beim politischen Establishment angekommen ist. Entscheidende Fragen scheinen bislang nicht gestellt zu werden.

Wählerbeschimpfung

Teile der Linken beschwören bereits einen kommenden Faschismus herauf und rufen zum Widerstand auf. „Norbert Hofer verhindern“ ist die Parole des Tages. Eine Analyse, die an diesem Punkt stehen bleibt, übersieht das Wesentliche und wird ihr Ziel nicht nur verfehlen, sondern den Rechten möglicherweise einen Gefallen erweisen.

Wer zum Widerstand gegen Rechts aufruft, sollte sich zunächst fragen, gegen wen er da widerstehen will? Gegen die FPÖ oder gegen das Wahlvolk? Die Beschimpfung der Hofer-Wählerinnen und –Wähler hat bereits eingesetzt. Geradezu mit Häme wurden Wahlanalysen aufgegriffen, die belegen, dass sich unter den Wählern der FPÖ besonders viele Ungebildete finden, was für manche den Schluss nahezulegen scheint, diese Wähler seien schlicht dumm. Es zeugt zunächst nicht unbedingt von Intelligenz, mangelnde Bildung mit Dummheit gleichzusetzen, sondern eher von Überheblichkeit. Wer weiß schon, wie viele der gebildeten FPÖ-Wähler sich einfach nicht trauen, ihre Wahlentscheidung offen zuzugeben? Hinzu kommt: Wer wenig gebildet ist, keine höhere Schule und schon gar keine Universität besucht hat, ist höchst wahrscheinlich in einer der unteren sozialen Schichten aufgewachsen und macht sich berechtigter Weise am meisten Sorgen um Arbeitsplatz und Einkommen und sieht entsprechend in der Zuwanderung am ehesten Konkurrenz und Gefahr. Den anderen Parteien ist es offensichtlich nicht gelungen, den Menschen diese Angst zu nehmen. Sie nach der Wahl, wie es aus manchen linken Kreisen heraus geschieht, als Rassisten, Faschisten, Nazis oder auch einfach als Pack zu beschimpfen, wird eher nicht dazu führen, dass sie ihr Kreuz in Zukunft an anderer Stelle platzieren.

Das soll nicht heißen, dass Menschen für ihre (Wahl-)Entscheidung nicht selbst verantwortlich sind und dafür im gesellschaftlichen Diskurs nicht kritisiert werden dürfen. Aber das in manchen Kreisen, besonders in den sozialen Netzwerken umgehend an den Tag gelegte Unterschichten-Bashing ruft vielleicht bei seinen Protagonisten das wohlige Gefühl hervor, auf der richtigen Seite zu stehen, von Analyse und dem Erfassen gesellschaftlicher Phänomene mit unbekanntem, aber möglicherweise gefährlichem Ausgang, ist es weit entfernt.

Das große Thema

Der Siegeszug der FPÖ verdankt sich, wie auch die Siege neuer rechtspopulistischer Parteien in Deutschland und anderen einst liberalen Ländern Nordeuropas, vor allem einem Themenkomplex: Migration, Integration und Islam. Nicht erst seit der großen Fluchtbewegung im vergangenen Herbst treiben diese Themen die Menschen um. Dennoch halten es die übrigen Parteien nicht für nötig, sie auf ihre Agenda zu setzen. Nicht, dass sie nicht darüber reden, aber ihr Reden erschöpft sich meist in der Abwehr von Kritik. Der Angst vor tausenden Flüchtlingen wird Willkommensfreude entgegengestellt, der Rede vom bösen Flüchtling, der nur kommt, um uns zu schaden, die Rede vom guten Menschen. Inzwischen ist eine besorgniserregende Polarisierung der Gesellschaft eingetreten, die in diesem Ausmaß in der Nachkriegsgeschichte etwas Neues darstellt. Der gesellschaftliche Diskurs scheint sich nur noch zwischen rechtspopulistischer Vereinnahmung auf der einen und Tabuisierung oder Verharmlosung auf der anderen Seite zu bewegen.

Dabei liegt auf der Hand, dass im Bereich Integration mit Blick auf islamische Organisationen und Communities teils große Probleme bestehen: In den islamischen Gesellschaften ist seit knapp 40 Jahren ein Vormarsch islamistischer Kräfte zu beobachten, die eine Umgestaltung der Gesellschaft nach islamischen Kriterien durchsetzen wollen. Vor allem Saudi-Arabien finanziert weltweit islamistische Propaganda, aber auch Katar und die Türkei unter Erdogan propagieren einen politisierten Islam, der sich in den letzten Jahrzehnten zum Mainstream entwickelt hat. Das färbt selbstverständlich auch auf die islamischen Verbände in Europa ab, die überwiegend ebenfalls einen politisierten Islam repräsentieren. In den vergangenen Jahrzehnten konnten sich verschieden Gruppen des politischen Islam in Europa etablieren und teilweise tief in einzelne Parteien und Institutionen eindringen. Hinzu kommen Moscheegemeinden, in denen immer wieder extremistische Prediger auftreten können, ohne von der jeweiligen Gemeinde daran gehindert zu werden; Kindergärten und Schulen, die von Islamisten geleitet werden; Parallelgesellschaften in einzelnen Stadtteilen; Jugendliche, die als Dschihadisten nach Syrien und in den Irak gehen; islamistische Anschläge in europäischen Metropolen; Zwangsheiraten, Unterdrückung und Gewalt im Namen der Ehre; verstärkter Antisemitismus; Ablehnung von und Hass auf Nicht- und Andersgläubige, sowie eindeutige Segregationsbestrebungen. In diesem Zusammenhang betrachtet haben hunderttausende Menschen, die aus mehrheitlich islamischen Staaten nach Europa flüchten, naturgemäß bereits vorhandene Ängste und Ressentiments weiter verstärkt. Ängste beseitigt man aber nicht dadurch, dass man den Ängstlichen sagt, ihre Ängste seien unbegründet. Parolen wie „wir schaffen das“ nutzen sich schnell ab. Offensichtliche Probleme zu leugnen, weil sie nicht ins Wunschdenken passen, weil sie die schöne Utopie stören, weil es weh tut, weil sie zu kompliziert erscheinen, weil sie den Rechten nutzen könnten oder was immer man sich bewusst oder unbewusst zurecht legt, ist kaum geeignet, Vertrauen in das Handeln der Regierenden aufzubauen.

Zu große Teile des politischen Spektrums und der öffentlichen Meinung haben es sich viel zu lange zur Aufgabe gemacht, zum Thema Integration und Flüchtlinge in erster Linie Beschwichtigungsreden und Schönwetterberichte zu verbreiten. Probleme gelangten meist verspätet und auf Umwegen an die Öffentlichkeit. Ein paar einfache Beispiele: Um den Rechten nicht in die Hände zu spielen, wurde lange kaum über ethnische und religiöse Konflikte in Flüchtlingsunterkünften berichtet oder über Übergriffe meist sunnitischer Muslime auf Nicht- und Andersgläubige oder liberal eingestellte Frauen und Männer. Auch Angriffe auf homosexuelle Flüchtlinge und sexuelle Übergriffe von Flüchtlingen gelangten nur sehr zögerlich an die Öffentlichkeit.

Wenn Menschen erst einmal das Gefühl bekommen, ihnen würden Fakten vorenthalten, sie würden von Politikern und Medien belogen, dann ist jenes Süppchen bereitet, dass die Rechten nur noch aufwärmen müssen. Exemplarisch zeigte sich das nach der Silvesternacht in Köln. Der Umgang von Politik und Medien mit der massenhaften sexuellen Belästigung von Frauen durch vor allem Flüchtlinge aus dem nordafrikanisch-arabischen Raum, hat vermutlich entscheidend zum Wahlsieg der AfD in Deutschland beigetragen. Während in den sozialen Medien längst über die Ereignisse diskutiert wurde und diese immer stärker, gut gewürzt mit rechter Hetze, hochkochten, wurde offiziell nur scheibchenweise zugegeben, was längst bekannt war. Die Folge? Viele Menschen fühlen sich von Politik und Medien für dumm verkauft und ausgerechnet von rechten Plattformen im Internet gut informiert.

Dieses Nicht-darüber-sprechen, dieses Leugnen von Problemen, die sich im Zeitalter der sozialen Medien nicht mehr unterdrücken lassen, hilft alleine der rechten Propaganda. Denn es überlässt Parteien wie der FPÖ ein Thema, das viele Menschen beschäftigt und untergräbt gleichzeitig das Vertrauen in diejenigen, die die Entscheidungen treffen. Der Vorwurf an die FPÖ, sie biete keine Lösungen für die anstehenden Probleme, läuft, so richtig er ist, ins Leere, denn fatalerweise braucht sie keine Lösungen, solange die anderen politischen Fraktionen es ihr so leicht machen, wie bisher. Für ihren Erfolg ist es nämlich ausreichend, Probleme, ob reale oder erdachte, schlicht zu benennen und den Anschein zu erwecken, die vorhandenen Ängste vieler Menschen wahrzunehmen. Die anderen tun genau das nicht.

Vertrauen gewinnen

Um die Menschen dazu zu bewegen, wieder Parteien der demokratischen Mitte zu wählen, müssten diese Parteien zunächst beweisen, dass sie demokratisch denken und handeln. Dazu würde in erster Linie gehören, dass sie die Bevölkerung nicht als zu regierende Masse betrachten, sondern als mündige Bürgerinnen und Bürger, denen die Wahrheit zugemutet werden kann. Auch dann, wenn die Wahrheit unangenehm ist.

Die Diskurshoheit der Rechten wird sich nur brechen lassen – und darum alleine wird es in Zukunft gehen müssen –, wenn die anderen Parteien Themen nicht weiter alleine der Rechten überlassen. Sie müssen die Themen der FPÖ ernst nehmen (nicht deren Argumente!) und diese Themen übernehmen, aber ohne dabei die Positionen der FPÖ zu kopieren. Entwicklungen, die alle Menschen im Land betreffen, Probleme und mögliche Lösungen müssen öffentlich diskutiert werden und nicht hinter verschlossenen Türen. Alles muss ungeschminkt auf den Tisch, denn dort landet es früher oder später ohnehin – im Zeitalter sozialer Medien meistens früher. Aber es ist entscheidend, wer es hinlegt. Informieren und dann reden, reden und nochmals reden – gerade das macht eine Demokratie aus. Die einzige und bemerkenswerte Initiative in diese Richtung, die ich bislang entdecken konnte, wurde von drei Wiener Grünen initiiert. Red ‚ma MITEINANDER, läd zum Gespräch ein.

Wenn die politischen Parteien der demokratischen Mitte nicht anfangen, einen offenen und ehrlichen Diskurs mit den Bürgerinnen und Bürgern über jene Themen zu führen, die die Menschen umtreiben, und eigene Lösungsvorschläge zu präsentieren, ohne sich den Positionen der FPÖ anzupassen, dann war die Wahl vom vergangenen Sonntag nur ein Vorgeplänkel für die nächste Parlamentswahl – dann folgt einem Präsidenten Norbert Hofer vermutlich schon bald ein Kanzler Strache.

[1] Österreichische Farbenlehre für die deutschen Leserinnen und Leser:
Rot: Sozialdemokratische Partei SPÖ
Schwarz: Österreichische Volkspartei ÖVP, konservativ
Blau: Freiheitliche Partei Österreichs FPÖ, rechtspopulistisch
Grün: ist klar.

Heiko Heinisch

Nach Abschluss des Geschichtsstudiums arbeitete Heiko Heinisch u.a. am Ludwig-Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft. Nach längerer freiberuflicher Tätigkeit arbeitet er seit Mai 2016 als Projektleiter am Institut für Islamische Studien der Universität Wien. Nach längerer Beschäftigung mit den Themen Antisemitismus und nationalsozialistische Judenverfolgung wuchs sein Interesse an der Ideengeschichte, mit Schwerpunkt auf der Geschichte der Ideen von individueller Freiheit, Menschenrechten und Demokratie. Er hält Vorträge und veröffentlichte Bücher zu christlicher Judenfeindschaft, nationalsozialistischer Außenpolitik und Judenvernichtung und widmet sich seit einigen Jahren den Problemen, vor die Europa durch die Einwanderung konservativer Bevölkerungsschichten aus mehrheitlich islamischen Ländern gestellt wird. Daraus entstand das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Europa, Menschenrechte und Islam – ein Kulturkampf?“ im Wiener Passagen Verlag (2012). Er ist Mitglied des Expert_Forum Deradikalisierung, Prävention & Demokratiekultur der Stadt Wien. Im März 2019 ist das gemeinsam mit Nina Scholz verfasste Buch „Alles für Allah. Wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“ im Molden Verlag erschienen.

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