Woran scheitern Demokratien?

Vor 98 Jahren begann die bolschewistische Revolution in Russland. Damit scheiterte die „erste“ russische Demokratie. Das wird oft auf die „Unreife“ der russischen Zivilgesellschaft und auf Spezifika der politischen Kultur Russlands zurückgeführt. In Wirklichkeit war Russland anderen europäischen Ländern nur um einige Jahre voraus.


Angst vor den „Bauern in Uniform“

Vor 98 Jahren beseitigten die Bolschewiki ein System, das Lenin noch einige Monate zuvor, in seinen „April-Thesen“, als die „freieste (Herrschaftsordnung) der Welt unter allen kriegführenden Staaten“ bezeichnet hatte. Es handelte sich dabei um die nach dem Sturz des letzten russischen Zaren infolge der Februarrevolution von 1917 errichtete „erste“ russische Demokratie. Sie wurde kurz nach ihrer Gründung von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung euphorisch begrüßt. Acht Monate später hatte sie indes so gut wie keine Verteidiger mehr. Wie konnte es dazu kommen? Eine der Ursachen dafür bestand darin, dass die Februarrevolution aus zwei verschiedenen, ja entgegengesetzten Revolutionen bestand. Erstens aus einer Revolution der Bildungsschichten, die Russland in eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster verwandeln wollten. Ganz andere Vorstellungen verbanden die russischen Unterschichten mit der Februarrevolution. Sie erwarteten von ihr die Verwirklichung ihrer alten Gerechtigkeitsideale, die in erster Linie egalitaristische Komponenten enthielten.

Die Kluft zwischen oben und unten, die in Russland ohnehin seit Generationen außerordentlich tief gewesen war, erreichte nun Dimensionen, die für das damalige Europa beispiellos waren. Diese Kluft wurde seit den ersten Tagen der Revolution auch institutionalisiert. Die bürgerlich-liberalen Kreise fühlten sich durch die Anfang März 1917 errichtete Provisorische Regierung repräsentiert, die Unterschichten hingegen durch den basisdemokratischen Petrograder Rat (Sowjet) der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der zur gleichen Zeit entstand (Kalendarische Angaben beziehen sich in diesem Text in der Regel auf den Julianischen Kalender, der in Russland bis zum 1. Februar 1918 galt. Der Rückstand zwischen dem Julianischen und dem Gregorianischen Kalender betrug damals 13 Tage). Bei den Sowjets handelte es sich um Klassenorganisationen der Unterschichten, die sich von den bürgerlichen Einrichtungen abzugrenzen suchten. Nur sozialistische Parteien bzw. Parteien, die sich zum Prinzip der „revolutionären Demokratie“ bekannten, waren hier vertreten. Da die Sowjets die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung repräsentierten, die nun eindeutig die „sozialistische Wahl“ traf, wird von vielen Beobachtern wiederholt die Frage aufgeworfen, warum die Führung des Petrograder Sowjets nicht von Anfang an danach strebte, die ganze Macht im Lande zu übernehmen. Warum war sie zunächst bereit, die Provisorische Regierung, der kaum Machtmittel zur Verfügung standen, zu unterstützen? Immer wieder wird die These angeführt, dass die gemäßigten Sozialisten, die im Petrograder Sowjet etwa bis Sommer 1917 dominierten, nicht bereit waren, die Führung in einer „bürgerlichen Revolution“ – und die Februarrevolution galt ihnen als solche – zu übernehmen.

Die Angst vor der Übernahme der Verantwortung in einer „bürgerlichen Revolution“ spielte in der Tat bei vielen gemäßigten Sozialisten eine wichtige Rolle. Aber nicht weniger groß war bei ihnen die Angst vor der anarchischen Woge, die Russland nach der Auflösung der bisherigen Kontrollmechanismen zu überfluten drohte, vor einer grausamen Bauernrevolte, die die Errungenschaften der Februarrevolution hätte zunichte machen können. Russland war das klassische Land der gewaltigen Bauernaufstände, die immer wieder den russischen Staat in seinen Grundfesten zu erschüttern drohten. 1917 bahnte sich aber in Russland eine ganz neue Form der Bauernrevolte an. Der unzufriedenen russischen Bauernschaft, die eine radikale Lösung der Agrarfrage anstrebte, wurden nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges Waffen in die Hand gegeben. Zu Beginn der Februarrevolution zählten die russischen Streitkräfte etwa 9 Millionen Soldaten, und es handelte sich bei ihnen in der Regel um „Bauern in Uniform“, um den bewaffneten Arm der russischen Landbevölkerung.

Radikalisierung der Massen

Wie Lenin in den April-Thesen mit Recht sagte, war Russland nach der Februarrevolution „von allen kriegführenden Ländern das freieste Land der Welt“. Wenn man dabei bedenkt, dass Russland vor dem Sturz des Zaren mit besonders strenger Hand regiert worden war, wird die Bedeutung der Zäsur vom Februar 1917 offensichtlich. Das Land befand sich in einem Freiheitsrausch. Den Appellen der „Vernunft“-Sozialisten, die die Bevölkerung zu maßvollem und verantwortungsbewusstem Handeln aufriefen, wurde immer weniger Gehör geschenkt. Warum sollten die Bauern mit der Enteignung der Gutsbesitzer und die Arbeiter mit der Errichtung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben bis zur Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung warten, wenn ihre „Klassengegner“ so wehrlos und so schwach wie nie zuvor waren?

Aber nicht nur die Arbeiter und die Bauern, sondern auch die Soldaten wurden immer ungeduldiger. Über ihre Stimmung schreibt Alexander Kerenski, der zu den zentralen Figuren der Provisorischen Regierung zählte: „Nach drei Jahren bitteren Leidens fragten sich Millionen kriegsmüder Soldaten: Warum muss ich jetzt sterben, wenn in der Heimat ein neues, freieres Leben beginnt?“

Viele politische Denker machten die Beobachtung, dass große Revolutionen unter einem gewissen Zwang stünden, immer radikaler zu werden. Die Bolschewiki waren damals allerdings die einzige bedeutende politische Kraft Russlands, die sich von diesem Radikalisierungsprozess nicht beunruhigen ließ und ihn sogar zu beschleunigen suchte.

Drohte Russland 1917 eine „Gegenrevolution“ von rechts?

Nur wenige Vertreter des gemäßigten sozialistischen Lagers, das zunächst das Rückgrat der „ersten“ russischen Demokratie bildete, erkannten das Wesen der bolschewistischen Gefahr, die die junge russische Demokratie in einer beispiellosen Weise bedrohte. Zu diesen wenigen gehörte einer der Führer der gemäßigten russischen Sozialdemokraten (der Menschewiki), Iraklij Tsereteli.

Tsereteli vertrat die Meinung, dass die größte Gefahr, die die russische Revolution nun bedrohe, nicht von rechts komme, wie viele Vertreter der Sowjetmehrheit annähmen, sondern von links: „Die Konterrevolution kann nur durch ein einziges Tor einfallen, das der Bolschewiki“.

Diese Worte klangen in den Ohren der gemäßigten Sozialisten beinahe blasphemisch. Sie betrachteten die Bolschewiki als einen integralen Bestandteil der „revolutionär-demokratischen“ Front. Demzufolge galt ihnen eine eventuelle Entwaffnung der Bolschewiki als Schwächung des eigenen Lagers, als Verrat an der Sache der Revolution.

Sogar der Versuch der Bolschewiki, während der „Juli-Tage“ (3.-5.Juli 1917) die bestehende Ordnung mit Gewalt zu stürzen, führte nicht zu ihrem Ausschluss aus dem Lager der „revolutionären Demokratie“. Sie wurden weiterhin als integraler Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft angesehen. Nicht zuletzt deshalb lehnten die Vertreter der Sowjetmehrheit ein allzu hartes Vorgehen gegen die Bolschewiki ab. Trotz ihrer Beteiligung am Putschversuch im Juli 1917 wurden sie nicht wegen staatsfeindlicher Tätigkeit angeklagt. Diese Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Feinden wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampfe gegen sie durchaus ausnutzen können: „Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlusskraft zu solchem Vorgehen.“

Das Schicksal der Bolschewiki nach ihrem missglückten Staatsstreichversuch vom Juli 1917 erinnert in verblüffender Weise an das Schicksal Hitlers nach dem gescheiterten Münchener Putsch vom November 1923. Auch der Führer der Nationalsozialisten war von der Milde der Sieger überrascht.

Den Bolschewiki und den Nationalsozialisten kam zugute, dass sie von den Kräften, die die Schlüsselpositionen einerseits im revolutionären Russland des Jahres 1917, andererseits in der Weimarer Republik im Wesentlichen kontrollierten, als verirrte Brüder und als Gesinnungsgenossen angesehen wurden. Während die nichtbolschewistische Linke die Bolschewiki als eine Art Reserve der revolutionären Front betrachtete, waren die Nationalsozialisten und ihre Kampfverbände für die deutschen Konservativen eine Art Reserve der nationalen Front, eine Ergänzung zum Hunderttausend-Mann-Heer, das der Versailler Vertrag dem besiegten Deutschland zugestanden hatte. Abgesehen davon kam der NSDAP die übertriebene Angst der deutschen Konservativen vor einer kommunistischen Revolution zugute. Auch hier wird eine verblüffende Parallele zu den Entwicklungen in Russland im Jahre 1917 sichtbar. So wie die gemäßigten russischen Sozialisten in den Bolschewiki, trotz ihres rücksichtslosen Kampfes gegen den demokratischen Staat, Verbündete gegen die „Gegenrevolution“ sahen, betrachteten die Weimarer Konservativen die Nationalsozialisten als eventuelle Partner im Kampfe gegen die Kommunisten.

Dass die Kommunisten nicht imstande waren, die bestehende Ordnung in Deutschland ernsthaft zu gefährden, hat sich während der sogenannten Nachkriegskrise (1918-1923) wiederholt gezeigt. Die kommunistische Bedrohung reduzierte sich damals auf einige schlecht vorbereitete Aufstandsversuche, die jeweils mit einem Debakel endeten (Januar 1919, März 1921, Oktober 1923).

Und wie verhielt es sich mit der „gegenrevolutionären“ Bedrohung im revolutionären Russland vom Jahre 1917? Erforderte die Bekämpfung dieser Gefahr wirklich die Mobilisierung aller linken Kräfte, auch solch militanter Antidemokraten wie die Bolschewiki?

Das klägliche Scheitern des Putsches des Oberbefehlshabers der russischen Streitkräfte, General Kornilow, vom Ende August 1917 zeigte, dass die Armee zum Kampf gegen das eigene Volk nicht mehr geeignet war. So brauchte die russische Demokratie keineswegs die Hilfe der Linksextremisten, um der Gefahr von rechts erfolgreich zu begegnen. Dennoch war die Angst der gemäßigten Sozialisten vor der Gegenrevolution derart überdimensional, dass sie ihre eigenen Kräfte maßlos unterschätzten. Nicht zuletzt deshalb gaben sie den Bolschewiki, die infolge des gescheiterten Juli-Putsches entwaffnet worden waren, erneut die Waffen in die Hand. Dies war vielleicht die verhängnisvollste Folge des Kornilow-Putsches.

Nach der Kornilow-Affäre verloren die Provisorische Regierung und die mit ihr verbündeten gemäßigten Sozialisten weitgehend die politische Initiative. Wie gelähmt beobachteten sie das entschlossene und zielstrebige Vorgehen der Bolschewiki, die nun meisterhaft zeigten, wie man die demokratischen Freiheiten dazu ausnutzt, die Demokratie zu beseitigen. Das Gesetz des Handelns wurde fast vollständig der bolschewistischen Partei überlassen.

Flucht vor der Verantwortung

Zeitzeugen wie der Menschewik Nikolaj Suchanow meinen, der damalige Militärkommandant von Petrograd wäre durchaus imstande gewesen, mit etwa 500 Offizieren und Kadetten den Sitz des von den Bolschewiki dominierten Petrograder Sowjets zu besetzen und damit die Zentrale des geplanten bolschewistischen Aufstandes lahmzulegen. Andere Autoren meinen auch, dass ein diszipliniertes und regierungstreues Regiment ausreichend gewesen wäre, um den bolschewistischen Putsch vom 25.Oktober / 7. November 1917 zu vereiteln. Leo Trotzki – der neben Lenin wichtigste Urheber des bolschewistischen Staatsstreiches – ist mit dieser These durchaus einverstanden. Dass ein solches Regiment nicht gefunden werden konnte, gibt den Erforschern der damaligen Ereignisse bis heute Rätsel auf. Alexander Kerenski, der seit Juli 1917 an der Spitze der Provisorischen Regierung stand, hatte am Tag des bolschewistischen Staatsstreiches Petrograd heimlich verlassen und sich nach Pskow – das Hauptquartier der russischen Nordfront – begeben. Dort versuchte er den Oberkommandierenden der Front, General Tscheremisow, zu überreden, nach Petrograd zu marschieren – ohne Erfolg. Nur eine kleine Schar von Kosaken war bereit, Kerenski zu folgen. Am 30.Oktober / 12. November 1917 erreichten sie Pulkowo, einen Vorort von Petrograd. Dort wurden sie von den schlechtorganisierten, aber zahlenmäßig erdrückend überlegenen bolschewistischen Truppen zum Rückzug gezwungen. Dies war praktisch das letzte Gefecht der Provisorischen Regierung, die nun die politische Bühne endgültig räumen musste.

Warum nahm der bolschewistische Staatsstreich in Petrograd, gegen den sich beinahe die gesamte politische Klasse Russlands wandte, einen derart reibungslosen Verlauf? Um diese Frage leichter beantworten zu können, sollte man vielleicht eine Parallele zu einem anderen, ebenso folgenschweren Ereignis ziehen – nämlich zur nationalsozialistischen „Machtergreifung“ in Deutschland im Januar 1933. Sie verlief ebenso problemlos wie der bolschewistische Staatsstreich, vielleicht noch problemloser. Denn die Nationalsozialisten hatten, im Gegensatz zu den Bolschewiki, mächtige Verbündete – die deutschen Konservativen, die viele Schlüsselpositionen im Weimarer Staat unangefochten kontrollierten und die der NSDAP die Macht praktisch übergaben. Sie lieferten also den Staat, den sie verteidigen sollten, seinen unversöhnlichsten Feinden aus. Der Sozialdemokrat Konrad Heiden spricht im Zusammenhang mit dem nationalsozialistischen Triumph von einer Flucht der politischen Klassen Deutschlands vor der Verantwortung, vom „Zeitalter der Verantwortungslosigkeit“. Aber auch im Zusammenhang mit dem bolschewistischen Triumph in Russland kann man von einer Flucht vor der politischen Verantwortung – diesmal der russischen politischen Eliten –, von einer Art Desertion sprechen. Die demütigende Suche des letzten demokratischen Ministerpräsidenten des Landes nach Truppen, die bereit gewesen wären, die russische Demokratie vor ihren radikalen Feinden zu verteidigen, veranschaulicht diese Desertion besonders deutlich.

Die Lehren der Geschichte

Welche Lehren zog die 1949 entstandene „zweite“ deutsche Demokratie aus dem Scheitern ihrer Weimarer Vorgängerin? Sie bestanden nicht zuletzt in der Überzeugung, dass die Stabilität der „offenen Gesellschaft“ davon abhänge, ob sie imstande sei, sich gegen ihre radikalen Feinde zu wehren. Einer der SPD-Führer, Carlo Schmid, forderte im September 1948 „Mut zur Intoleranz denen gegenüber …, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen“.

Hat die im August 1991 entstandene „zweite“ russische Demokratie ebenfalls Lehren aus dem Scheitern ihrer Vorgängerin gezogen? Auf den ersten Blick schien dies durchaus der Fall zu sein. Die KPdSU wurde verboten, es wurde im damaligen Diskurs der russischen Demokraten auch wiederholt vor den „Weimarer Verhältnissen“ in Russland gewarnt. Indes stellte es sich zur allgemeinen Überraschung heraus, dass die größte Gefahr für die „zweite“ russische Demokratie nicht die Extremisten von links und von rechts, sondern die „Machtvertikale“ darstellte. Insbesondere nach dem im Jahre 2000 erfolgten Machtwechsel, als Wladmir Putin das Amt des russischen Staatspräsidenten übernahm, begann sich die „zweite“ russische Demokratie in eine „gelenkte Demokratie“ zu verwandeln.

Lesen Sie auch die Kolumne von Leonid Luks über Stalins Popularität im heutigen Russland.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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