Volkes Wille oder Sündenfall?

War es das wert, fragt heute Henning Hirsch, wenn er Soll & Haben des gestrigen parlamentarischen Theaterdonners bilanziert. Eine Sündenfall-Kolumne.

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Nach dem Spektakel, das gestern zur besten Sendezeit im Deutschen Bundestag geboten wurde, fragt man sich als Otto-Normalwähler am Tag danach Zweierlei:

(A) War es das wert?
(B) Wie wird es jetzt weitergehen?

War es das wert?

Ein, nach der Mordtat von Aschaffenburg in Windeseile zusammengestellter (oder bis vor wenigen Tagen als geheime Verschlusssache im Safe des Konrad-Adenauer-Hauses verborgen gehaltener) 5-Punkte-Katalog, der gemäß Auffassung der Unionsspitze das Problem der „illegalen“ Migration lösen wird, soll mit der Brechstange als sog. Entschließungsantrag durch den Bundestag gepeitscht werden. Darin enthalten als TOP 1 dauerhafte Grenzkontrollen und TOP 2 ausnahmslose Zurückweisung sämtlicher Flüchtlinge, die ohne gültige Ausweispapiere nach Deutschland einreisen wollen. TOP 1 bedeutet das faktische Ende der Schengen-Freizügigkeit, TOP 2 hebelt Art. 16a GG (Asylrecht) weitgehend aus. Der Antrag sei kompromisslos und nicht verhandelbar, erklärt CDU-Chef und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz und erbittet die vollumfängliche Zustimmung von SPD und Grünen, die ihm – wen wundert’s bei dieser harschen Einleitung? – prompt verweigert wird. Um den Forderungskatalog dennoch durchs Parlament zu hieven, ist die Union in der Konsequenz zwingend auf die Stimmen von FDP und AfD angewiesen. Beide Fraktionen signalisieren ihre Bereitschaft, CDU/CSU tatkräftig unter die Arme zu greifen. SPD und Grüne warnen vor dem Dammbruch und werben für eine abgespeckte Variante. Der Kanzlerkandidat der Union schürzt die Lippen, pfeift den altbekannten Martin-Luther-Refrain, „Hier stehe ich und kann nicht anders“, und pfeift des Weiteren auf vorherige Absprachen (keine gemeinsame Sache mit der AfD machen). Das Ergebnis ist bekannt: Forderungskatalog wird mit hauchdünner Mehrheit angenommen, die potenziellen Koalitionspartner SDP & Grüne sind arg vergrätzt, dem Unions-Spitzenkandidaten ist der eigene Erfolg spürbar unangenehm, die AfD („Wir tun es für Deutschland“) feiert.

Und über allem schwebt die Frage aller Fragen: Was zur Hölle bewirkt eigentlich ein Entschließungsantrag? Was ist das? So ne Art unverbindliche Absichtserklärung? Ja, es ist eine unverbindliche Absichtserklärung. Rechtlich nicht bindend für das zukünftige Regierungshandeln. Fällt in dieselbe Kategorie wie der Silvester-Schwur eines Alkoholikers, am Neujahrsmorgen mit dem Trinken aufzuhören. Woran er sich bereits am Abend des 1. Januar nicht mehr erinnert, und auch seine Umgebung hat das zwei Tage danach schon wieder vergessen. Rubrik: Schaulaufen für die Galerie.

Der einzig plausible Grund, ohne zeitliche Not solch 1 Riesenbombe im Parlament hochgehen zu lassen, liegt in der Hoffnung, unentschlossene Wähler mittels angekündigter Nahezu-Asylrecht-Verunmöglichung davon abzuhalten, ihr Kreuz bei der AfD zu setzen und stattdessen in den Schoß der Union zurückzukehren. Ob diese Hoffnung auf valider Prognose beruht oder sich als reines Wunschdenken entpuppt, bleibt abzuwarten. Der aktuelle Trend sieht eher ein Schmelzen des schwarzen bei gleichzeitigem Anstieg des blauen Balkens.

Wie wird es jetzt weitergehen?

Das In-Bewegung-setzen der Abrissbirne muss nicht zwangsläufig dazu führen, dass die Brandmauer in Bälde einstürzt. Noch wirken die Maschinisten erschrocken und geloben feierlich, dass der gestrige Tabubruch ein einmaliger Vorgang gewesen sei und sich so schnell nicht wiederholt. Ob dieses Gelöbnis mehr wert ist als der Schwur unseres Alkoholikers, ab morgen abstinent zu leben, werden die kommenden Wochen und Monate zeigen. Schon am morgigen Freitag wird ein weiterer Vorschlag der Union im Bundestag debattiert und entschieden, das sog. ZustrombegrenzungsG. Können CDU/CSU dann der Versuchung des schnellen Erfolgs widerstehen, falls es erneut nur mittels Unterstützung durch die AfD funktionieren sollte?

Man muss kein chronischer Pessimist sein (altersbedingt bin ich leider einer geworden), um vorherzusehen, dass Koalitionsverhandlungen zw. Union und SPD seit gestern schwieriger und mit den Grünen weitgehend unmöglich geworden sind. Diente der 5-Punkte-Katalog also nur vordergründig unserer Sicherheit vor Messerattacken & Weihnachtsmarkt-Amokfahrten und soll vielmehr den Weg zu schwarz-blauen Sondierungen ebnen? Weil Rot & Grün aufgrund der großen Unterschiede beim Megathema Asyl auch bei massivem Verbiegen nicht mehr mit Schwarz zusammengehen wollen? Schwarz-Blau vllt mit einem Kanzler Spahn (der diese Farbkombination, im Unterschied zu Friedrich Merz, nie völlig ausgeschlossen hat) und einer Vize Alice Weidel? Ein Schelm, wer so was Böses hinter dem gestrigen Move vermutet? Schau’n wir mal, in welche Richtung sich die vertrackte Gemengelage nach dem 23. Februar entwickeln wird.

2 Sündenfälle

Für mich persönlich besteht der Sündenfall weniger darin, dass sich die Union des brisanten Themas Migration annimmt. Auch die Forderung nach Verschärfung der jetzigen Praxis halte ich für legitim. Nicht jeder ist ein woker Grüner und träumt von Multikulti, nicht jeder freut sich über die Vorstellung, das neue Deutschland solle möglichst bunt sein, nicht jedem ist wohl bei dem Gedanken, dass bei uns Parallelgesellschaften entstehen und es bspw. im früher mondänen Bonn-Bad Godesberg mittlerweile aussieht wie in einem Vorort von Damaskus. Nicht jeder akzeptiert religiös hervorgerufene Gewalt als statistisch bedingte Einzelunfälle, nicht jeder möchte on top zum einheimischen Antisemitismus zusätzlich noch muslimischen Judenhass importieren. „Nicht jeder“ ist dabei ein Euphemismus; in der Realität sieht das die Mehrheit der Deutschen – und zwar parteiübergreifend – so. Daher ist es von CDU/CSU völlig okay, dieses heiße Eisen in die Hand zu nehmen und Lösungen zu präsentieren. Ob die Ideen alle ausgegoren und rechtskonform sind, daran habe ich allerdings gelinde Zweifel. Die Schließung unserer Grenzen kann nicht im Sinne des europäischen Gedankens sein, die Aushebelung des Grundrechts auf Asyl verstößt gegen die Menschenwürde. Weniger (Härte) hätte sicher mehr (Zustimmung von SPD & Grünen) bewirkt. Zudem fragt man sich, weshalb das Thema jetzt, 4 Wochen vor der Wahl, plötzlich so an Bedeutung gewinnt. Warum wurde der Forderungskatalog nicht schon im vergangenen Jahr eingebracht, wieso hat die Erarbeitung von (belastbaren) Vorschlägen nicht Zeit bis nach dem 23. Februar? Weil’s weniger um die konkrete Lösung als vielmehr um schnelle Punkte im Wahlkampf geht? Ein Schelm, der … (ja ja, ich wiederhole mich).

Der Sündenfall besteht auch nicht darin, dass die AfD dem Antrag zugestimmt hat (hat die FDP übrigens ebenfalls); das kann passieren und darf nicht zur alleinigen Richtschnur werden, ob ein Vorhaben sinnvoll ist oder nicht. Andernfalls müsste ja jeder Vorschlag, der auf Sympathie bei den Rechtsaußen stößt, sofort wieder zurückgezogen werden. Das kann der Weisheit letzter Schluss wirklich nicht sein.

Der Sündenfall (genau genommen sind es sogar 2) besteht allerdings darin, sich nicht an eine entsprechende Verabredung vom vergangenen November – keine Mehrheit herbeiführen, für die AfD-Stimmen notwendig sind – gehalten u.v.a. sehenden Auges diese fatale Situation heraufbeschworen zu haben. Denn es war vorher unmissverständlich klar gewesen, dass SPD & Grüne nicht mitziehen und deshalb der Beifall von Rechtsaußen zwingend notwendig wird. Der Zweitgenannte ist dabei der schlimmere Sündenfall.

Fazit = zu wenig

Auf der Sollseite notieren wir mithin: hastig zusammengezimmerte Vorschläge, die zu einem Zeitpunkt präsentiert wurden, an dem sie nicht präsentiert werden mussten plus 1 Sündenfall, dem im Haben einzig die Hoffnung auf zwei, drei zusätzliche Prozentpunkte gegenübersteht (Eintrittswahrscheinlichkeit ungewiss). Unterm Strich ist das (zu) wenig, um als seriöse Politik eingestuft zu werden. Viel Parlamentsgetöse für kein Ergebnis. Rubrik. Vorstellung, die besser nicht gegeben worden wäre.

Für mich als Otto-Normalwähler bleibt nur zu hoffen, dass die Abrissbirne nur 1x gestern zum Einsatz kam und nun erst mal wieder bis auf Weiteres im Geräteschuppen verschwindet.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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