Defensiv und alternativlos? Moskaus außenpolitisches Handeln aus der Sicht Gerhard Schröders und Gregor Schöllgens

Das vor kurzem erschienene Buch des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder und des Erlanger Historikers Gregor Schöllgen „Letzte Chance. Warum wir jetzt eine neue Weltordnung brauchen“ hat bereits ein lebhaftes mediales Echo hervorgerufen. Einige Rezensenten konzentrieren ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die radikale Amerika-Kritik der beiden Autoren, andere stören sich an dem Russlandbild, das Schröder und Schöllgen vermitteln. Mit dem letzteren Thema wird sich auch diese Kolumne befassen.


Die EU und die NATO auf der Suche nach Orientierung

In ihrem Buch „Letzte Chance“ schlagen Gerhard Schröder und der Erlanger Historiker Gregor Schöllgen Alarm. Sie sind der Meinung, dass die Europäische Union seit der Beendigung des Ost-Konflikts vor dreißig Jahren keine adäquate Antwort auf die neuen politischen Herausforderungen gefunden habe. Die Frage: „Wer sind wir, und wo stehen wir?“ sei unbeantwortet geblieben. Mit dem Vertrag von Maastricht, der für die Autoren einen „faulen Kompromiss“ verkörpert, habe „die Stagnation und mit der Stagnation die Vergreisung Europas (begonnen)“. Diesen unerfreulichen Zustand der EU führen Schröder und Schöllgen nicht zuletzt auf folgenden Umstand zurück: „Seit die Sowjetunion und ihr Imperium von der weltpolitischen Bühne abgetreten sind, fehlt ein entscheidendes, wenn nicht sogar das entscheidende Bindemittel“.

Auch die NATO befinde sich seit der Auflösung der UdSSR und des Warschauer Paktes unter einem andauernden Rechtfertigungsdruck, setzen die Autoren ihre Ausführungen fort: „Eine bizarre Situation: Weil Deutschland unter Beobachtung bleiben musste, hatte die NATO weiterzuleben, obgleich sie 1991 ihr Ziel erreicht … hatte; weil die NATO bestehen bleiben musste, hatte Russland weiter den Gegner abzugeben, der die Sowjetunion einmal gewesen war“. Dabei besteht für die beiden Autoren kein Zweifel daran, dass es sich bei der heutigen russischen Außenpolitik, ähnlich übrigens wie bei der Außenpolitik der Sowjetunion, in erster Linie um Reaktionen auf die Bedrohungen von außen handele bzw. handelte. Auf einige Aspekte dieser Argumentation möchte ich nun eingehen.

Handelte es sich bei der Stalinschen Kollektivierung der Landwirtschaft um eine Reaktion auf die außenpolitische Bedrohung der UdSSR?

Im Herbst 1929 begann in der Sowjetunion bekanntlich der Prozess der gänzlichen Enteignung der sowjetischen Bauern, die Stalin 1929 als die „letzte kapitalistische Klasse“ der UdSSR bezeichnete. Zu den tragischsten Folgen dieser beispiellosen „Revolution von oben“ gehörte die größte Hungersnot in der Geschichte des Landes, der mehr als sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen (auch andere Zahlen werden genannt). Diese Hungerkatastrophe, so Schröder und Schöllgen, sei „auch eine Folge des Verkaufs ukrainischen Getreides in den Westen gewesen…Stalin brauchte das Geld, um die Rote Armee auf Vordermann zu bringen. Dazu wiederum gab es keine Alternative, weil die Sowjetunion sich unmittelbar bedroht fühlte“.

Reagierte aber Stalin mit seiner Kampfansage vom Jahre 1929 an die gesamte sowjetische Bauernschaft, aus der sich übrigens der größte Teil der Soldaten der Roten Armee rekrutierte, wirklich auf eine außenpolitische Bedrohung? Wohl kaum. Der Angriff Japans auf die Mandschurei begann erst zwei Jahre später, die Weimarer Republik mit ihrem Hunderttausend-Mann-Heer arbeitete damals mit der Sowjetunion eng zusammen, die westlichen Siegermächte, die noch während des Russischen Bürgerkrieges von 1918-20 die „weißen“ Gegner der Bolschewiki aktiv unterstützt hatten, gaben nach der endgültigen Niederlage der „Weißen“ im Jahre 1920 ihre Interventionspläne gegen Sowjetrussland auf. Was die unmittelbaren Nachbarn der UdSSR (Polen oder Rumänien) anbetrifft, so waren sie Ende der 1920er Jahre militärisch viel zu schwach, um die Sowjetunion zu gefährden. Diejenigen Historiker, die sich mit den sowjetischen Verteidigungskonzeptionen Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre befassten, weisen eindeutig nach, dass die sowjetische Führung zu Beginn der Kollektivierung der Landwirtschaft keineswegs mit einem baldigen Krieg rechnete. Welche Ziele verfolgte also die Stalinsche Führung, als sie die zahlenmäßig größte Bevölkerungsschicht im Lande in einer beispiellosen Weise herausforderte? Diese Ziele waren eher ideologischer und machtpolitischer Natur. Die Bolschewiki betrachteten bekanntlich die Oktoberrevolution als die größte Revolution in der Geschichte der Menschheit und strebten eine weltweite Verwirklichung solcher marxistischer Postulate wie die Bezwingung des „Weltkapitals“ oder die Abschaffung des Privateigentums an. Nichts dergleichen war ihnen aber in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution weder im internationalen noch im nationalen Rahmen gelungen. Die proletarische Weltrevolution erwies sich als eine Chimäre und auch in Russland musste die sog. proletarische Offensive nach dem Scheitern des „kriegskommunistischen Systems“ (1918-1921) vorübergehend gestoppt werden. Dennoch waren die utopistischen Energien der Bolschewiki in den „weichen“ Jahren der Neuen Ökonomischen Politik, die 1921 das kriegskommunistische System abgelöst hatte, nicht erloschen. An diese Energien appellierte auch Stalin mit seiner Kampfansage sowohl an die wohlhabenden Bauern (Kulaken) als auch an die sogenannten bäuerlichen „Kleineigentümer“ – also beinahe an die gesamte sowjetische Landbevölkerung. Privateigentum und Markt – die zentralen Hassobjekte der orthodoxen Marxisten –, wurden nun weitgehend abgeschafft. Jetzt konnte das Regime das gesamte Wirtschaftspotential des Landes, alle seine materiellen und menschlichen Ressourcen direkt kontrollieren und lenken. Dies war die wichtigste Folge der Kollektivierung der Landwirtschaft und nicht, wie zunächst erhofft, eine Steigerung der Erträge. Da die sowjetische Agrarproduktion sich infolge der Kollektivierung drastisch reduzierte, wurde die Ende der 1920er Jahre begonnene forcierte Industrialisierung des Landes in erster Linie durch die dramatische Senkung des Lebensstandards der Bevölkerung finanziert. Wenn man all das bedenkt, muss man sich fragen, ob es eine Alternative zum brutalen Stalinschen Wirtschaftsprogramm gegeben hätte. Viele Historiker sehen sie durchaus, und zwar im Programm Nikolaj Bucharins, das auf eine Fortsetzung der 1921 verkündeten bauernfreundlichen Neuen Ökonomischen Politik hinzielte. Dieses Programm hätte zwar zu einer langsameren Industrialisierung der UdSSR geführt, dennoch hätte es dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse am ehesten entsprochen. 1928/1929 warnte Bucharin unentwegt vor der abenteuerlichen Politik Stalins. Der sowjetische Staat brauche für seine Sicherheit vor dem äußeren Feind das Vertrauen der Bauern noch mehr als den Aufbau der Schwerindustrie, hob er hervor.

Entsprach der Hitler-Stalin-Pakt den sowjetischen „Sicherheitsinteressen“?

Strittig sind nicht nur die Thesen der Autoren bezüglich der Stalinschen Kollektivierung der Landwirtschaft, sondern auch in Bezug auf den im August 1939 geschlossenen Hitler-Stalin-Pakt, der bei der Genese des Zweiten Weltkrieges eine äußerst wichtige Rolle spielen sollte.

Zur Genese dieses Krieges gehörte allerdings auch das beispiellose Versagen der westlichen Garanten der europäischen Nachkriegsordnung, die in den Jahren 1933-1938 nicht bereit waren, die rechtsextremen Diktaturen (das Dritte Reich und das faschistische Italien) in ihre Schranken zu weisen, was den letzteren erlaubte, ungestraft einen aggressiven Akt nach dem anderen zu begehen. Die Münchener Konferenz vom September 1938, die es Hitler ermöglichte, mehr als 28000 Quadratkilometer des tschechoslowakischen Territoriums „friedlich“ zu annektieren, stellte wohl den Höhepunkt der westlichen Appeasementpolitik dar. Dazu schreiben die Autoren: „Deutschland (baute) – vom Westen nicht nur nicht gehindert, sondern auf der Münchener Konferenz im Herbst 1938 sogar ausdrücklich unterstützt – seine territoriale Ausgangsbasis für den Angriff auf die Sowjetunion aus. Dass dort sein eigentliches Ziel lag, hatte Hitler deutlich gesagt“.

In der Tat! Warum zeigen die Autoren aber dann Verständnis für Stalin, als er „auf seinen gefährlichsten Gegner (zuging) und mit Hitler am 23. August 1939 einen Pakt (schloss)“ und sagen, dass „Stalin mit dem Pakt nicht zuletzt Zeit gewinnen wollte und wohl auch musste“? Gab es damals dazu wirklich keine andere Alternative? Dazu muss man Folgendes anmerken. Die Annäherung Stalins an Hitler erfolgte ausgerechnet in jenem Moment, in dem die Westmächte sich von ihrer kurzsichtigen und selbstzerstörerischen Appeasementpolitik abwandten und bereiterklärten, gemeinsam mit Moskau die Aggressionsgelüste Hitlers einzudämmen. Die brutale Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler im März 1939 zeigte auch vielen Verfechtern der Appeasementpolitik in den westlichen Hauptstädten, dass Kompromisse mit Hitler keinerlei Sinn hätten. Seit April 1939 führten westliche Diplomaten und Militärs mit Moskau Verhandlungen über die Bekämpfung der nationalsozialistischen Gefahr. Letztendlich verwarf Stalin aber diese prowestliche Option und entschloss sich aus einem kurzsichtigen machiavellistischen Kalkül heraus zu einem Bündnis mit dem wohl gefährlichsten Feind, mit dem die UdSSR je konfrontiert worden war.

Die sowjetische Rückendeckung (dazu zählten auch sowjetische Lieferungen strategisch wichtiger Rohstoffe und Lebensmittel an Deutschland) ermöglichte Hitler nach seinem Überfall auf Polen beispiellose militärische Erfolge. Da er im Osten nichts zu befürchten hatte, unterwarf er innerhalb von etwa 20 Monaten beinahe den gesamten außersowjetischen Teil des europäischen Kontinents. Immense demographische und industrielle Ressourcen standen jetzt dem NS-Staat und seinen Vasallen zur Verfügung. Nun hielt Hitler die Zeit für gekommen, um seinen bereits in „Mein Kampf“ bzw. in seinem 1928 geschriebenen „Zweiten Buch“ entworfenen Plan der „Eroberung des Lebensraums im Osten“ zu realisieren.

Diente die Konsolidierung des Sowjetimperiums nach 1945 nur der Abwehr vor einer außenpolitischen Gefahr?

Die Autoren der „Letzten Chance“ sind davon überzeugt, dass der nach 1945 erfolgten „Installierung eines Cordon sanitaire“ durch die Sowjetführung ein „genuin defensives Motiv“ zugrunde lag. Traumatisiert durch das, was in den Jahren 1941 bis 1945 geschehen war, habe die Kreml-Führung nach „geostrategischen Garanten des sowjetischen Überlebens (gesucht)“. Nicht zuletzt deshalb „(taten) Stalin und seine Entourage danach alles und alles tun mussten, um zu verhindern, dass die ein weiteres Mal bis in die Grundfesten erschütterte (UdSSR) erneut in eine derart lebensbedrohliche Lage geriet“.

Handelte aber die Moskauer-Führung bei ihren damaligen Versuchen das „innere“ und das „äußere“ Sowjetimperium (Ostblock) zu konsolidieren in erster Linie aus Angst vor den außenpolitischen Gefahren bzw. vor einem unmittelbar bevorstehenden Krieg? Diese Frage wird von manchen Autoren, die sich mit der Genese des Kalten Krieges befassen, verneint. Sie weisen darauf hin, dass die Verschärfung des Ost-West-Konflikts, die in den ersten Nachkriegsjahren zu beobachten war, in erster Linie der Disziplinierung des jeweiligen ideologischen Lagers galt, und zwar sowohl im Westen als auch im Osten. So reduzierte z.B. die Kremlführung gerade in der Zeit, in der die sowjetische Propaganda den „kapitalistischen Feind“ zunehmend dämonisierte, die sowjetischen Streitkräfte von 11, 4 Millionen Soldaten im Jahre 1945 auf 2, 9 Millionen im Jahre 1948 – also ausgerechnet in der Phase, in der der Kalte Krieg

seinen ersten Höhepunkt erreichte (Berlin-Krise). Erst während des im Juni 1950 ausgebrochenen Korea-Krieges wurde die Truppenstärke der sowjetischen Armee wieder erhöht. Aber auch aus den Dokumenten des amerikanischen Außen- und Verteidigungsministeriums geht hervor, dass die amerikanische Regierung ebensowenig mit einem sofortigen Krieg rechnete. Die Beschwörung der kommunistischen Gefahr diente nach Ansicht einiger amerikanischer Autoren in erster Linie der Eindämmung der isolationistischen Bestrebungen in den USA, der Tendenz, sich aus den europäischen Angelegenheiten, ähnlich wie nach dem Ersten Weltkrieg, zurückzuziehen.

Was die damalige sowjetische Führung anbetrifft, so hatte sie noch ein zusätzliches Motiv, um den außenpolitischen Rivalen zu dämonisieren.

Während des deutsch-sowjetischen Krieges war die stalinistische Führung gezwungen gewesen, die Kontrollmechanismen über die Gesellschaft zu lockern. Ohne die Eigeninitiative der Bevölkerung, ohne die „spontane Entstalinisierung“ (dieser Begriff wurde später vom Moskauer Historiker Michail Gefter geprägt) wäre die Bezwingung des Dritten Reiches nicht möglich gewesen. Kaum jemand habe damit gerechnet, dass eine Rückkehr zur gespenstischen Wirklichkeit der Vorkriegszeit überhaupt möglich sei, sagte in seinen Erinnerungen der polnische Dichter Aleksander Wat, der die Kriegszeit in der Sowjetunion verbracht hatte. Kühne Zukunftsvisionen entwarfen damals sogar derart treue Diener Stalins wie der Schriftsteller Alexei Tolstoi. Am 22. Juli 1943 schrieb er in sein Notizbuch: „Das Volk wird nach dem Krieg vor nichts mehr Angst haben. Es wird neue Forderungen stellen und Eigeninitiative entwickeln… „Die chinesische Mauer zwischen Russland (und der Außenwelt) wird fallen“.

Es war gerade diese Perspektive, die die damalige Kreml-Führung am meisten schreckte. Die Disziplinierung der auf ihren Sieg so stolzen Nation betrachtete die Stalin-Riege nun als ihr wohl wichtigstes Ziel. Sie begann erneut eine Scheinwelt zu erreichten – mit imaginären Volksfeinden und Agenten und mit mächtigen Verschwörerzentren. So hatte die damalige Beschwörung einer Einkreisungs- und Kriegsgefahr durch die sowjetische Führung nicht zuletzt auch eine innenpolitische Komponente, die im Buch von Schröder und Schöllgen eindeutig unterschätzt wird.

Die Radikalisierung der russischen Ukraine-Politik nach dem „Euromaidan“ und ihre Ursachen

Auch in der Radikalisierung der Moskauer Ukraine-Politik nach dem Sieg des „Euromaidan“ sehen Schröder und Schöllgen eine Reaktion auf außenpolitische Bedrohungen. Dazu zählt aus ihrer Sicht in erster Linie die Osterweiterung der EU und der NATO: „Dass zahlreiche vormalige Sowjetrepubliken, … sämtliche ehemaligen Warschauer-Pakt-Verbündeten sowie einige Nachfolgestaaten Jugoslawiens Aufnahme in die Europäische Union und insbesondere in die NATO suchten und fanden, verschlechterte die Lage aus russischer Sicht dramatisch“, schreiben die beiden Autoren und kommen dann zu folgendem Fazit: „Für Putin und seine Entourage waren die Annexion der Krim und die Eröffnung des Krieges in der Ostukraine eine Reaktion auf die westlichen Offensiven vor der russischen Haustür“.

Diese ausschließlich auf außenpolitische Faktoren fixierte Interpretation der Moskauer Ukraine-Politik lässt Folgendes außer Acht. De zunehmende Nervosität, mit der die Kreml-Führung auf den „Euromaidan“ bzw. auf die ukrainische „Revolution der Würde“ reagierte, war nicht nur mit der Angst verbunden, dass demnächst die NATO-Truppen an der russisch-ukrainischen Grenze stehen könnten. Mindestens genauso groß war wohl auch ihre Angst vor einem Nachahmungseffekt, vor einer Ausstrahlung, die die ukrainischen Ereignisse auf Russland haben könnten. Obwohl es den Verfechtern der Putinschen „gelenkten Demokratie“ gelungen war, die zivilgesellschaftlichen Strukturen, die in Russland in der Gorbatschow- bzw. in der Jelzin-Ära aufgebaut worden waren, weitgehend zu demontieren, fühlen sie sich keineswegs als omnipotente Sieger und haben Angst um das „Erreichte“. Deshalb stellte der Sieg des Kiewer Euromaidan für sie einen wahren Schock dar. Sie waren sich darüber im Klaren, dass der demokratische Aufbruch in einem Land, das mit Russland sprachlich und kulturell so eng verwandt ist, an der Grenze der Ukraine nicht stehen bleiben wird. Daher auch ihr Versuch, die Ukraine zu spalten und zu destabilisieren.

Die heutige Krise des europäischen Gedankens

In ihrem Fazit plädieren Schröder und Schöllgen erneut für eine grundlegende Umstrukturierung der EU, die sich seit der Auflösung der Sowjetunion „in einer dreißigjährigen (Phase der) Orientierungslosigkeit“ befinde: “Will Europa eine Zukunft haben, muss es mehr sein als ein gut aufgestellter Binnenmarkt“, setzen die Autoren ihre Gedankengänge fort.

Es ist in der Tat erstaunlich, dass der europäische Gedanke ausgerechnet nach einem seiner größten Erfolge, nämlich nach der Überwindung der europäischen Spaltung, in eine derart tiefe Krise geriet. Der Münchener Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld schrieb vor kurzem Folgendes dazu:

Europa ist das Narrativ ausgegangen. Der Begründungskontext erodiert …Die Erfolgsgeschichte gerät in Vergessenheit…Der Halt ist verloren gegangen.

Schröder und Schöllgen erklären diese Entwicklung erneut damit, dass die EU ebenso wie die NATO „ein Kind des Kalten Krieges“ sei.

Da der Kalte Krieg nun vorbei ist, plädieren Schröder und Schöllgen für eine Art Neugründung der EU, insbesondere für die Abschüttelung der allzu starken Abhängigkeit der Europäer von den USA, die „mit dem Ende des Kalten Krieges ihre Legitimation verloren hat“.

Es ist allerdings sehr fraglich, ob die Europäer über ausreichende Ressourcen verfügen, um akute Krisen im Alleingang, ohne das geballte Machtpotential der USA zu lösen. Dies konnte man bereits am Beispiel des 1991 ausgebrochenen Krieges in Jugoslawien beobachten. Er zeigte, wie stark die Sicherheitsstruktur des Kontinents von der Aufrechterhaltung der transatlantischen Bindungen abhing. Zunächst war in den europäischen Hauptstädten durchaus die Tendenz vorhanden, den jugoslawischen Konflikt als eine ausschließlich innereuropäische Angelegenheit zu betrachten. Dieser Plan scheiterte jedoch. Der jugoslawische Bürgerkrieg, vor allem in Bosnien, eskalierte unentwegt. So begann man in Europa hoffnungsvoll in Richtung Washington zu blicken und ein amerikanisches Eingreifen in Jugoslawien herbeizusehnen. Dieses Eingreifen trug dann in der Tat dazu bei, dass der Bosnien-Krieg mit dem Friedensvertrag von Dayton im Dezember 1995 sein Ende fand.

Was liegt der Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zugrunde?

In ihrem Fazit gehen Schröder und Schöllgen erneut auf die Beziehungen zwischen der EU und Russland ein, und sagen mit Recht, dass Europa „ohne ein belastbares Verhältnis zu Russland … keine Zukunft (hat). Das beruht auf Gegenseitigkeit“.

Dennoch ist die Erklärung der beiden Autoren für die zunehmende Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nicht überzeugend. Sie führen sie wieder in erster Linie auf die Osterweiterung der NATO und der EU zurück und lassen dabei Folgendes außer Acht. Die Tatsache, dass einige ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes 1999 in die NATO aufgenommen wurden, hinderte die russische Führung 2001 keineswegs daran, der von Washington angeführten Anti-Terror-Allianz beizutreten. Zwar wurde der von den USA 2003 begonnene Irak-Krieg von Russland scharf kritisiert, aber hier befand sich Moskau mit Berlin und Paris in einem Boot.

Auch die Osterweiterung der EU wurde in Moskau zunächst nicht als eine allzu große Gefahr angesehen. Mitte 2004 wurde diese Entwicklung von Putin noch als Vorgang bewertet, der Russland an die EU „nicht nur geografisch, sondern auch wirtschaftlich und geistig näherbringen“ solle.

Dann brach aber Ende 2004 die „Orangene Revolution“ in der Ukraine aus, die eine Art Zäsur im Verhältnis zwischen Moskau und dem Westen darstellen sollte. Die Tatsache, dass die ukrainische Zivilgesellschaft imstande war, auf die Wahlmanipulationen mit Massenprotesten zu reagieren und Neuwahlen zu erzwingen, rief im Kreml erhebliche Ängste hervor. Erst nach dieser Zäsur begann die antiwestliche Rhetorik Moskaus eine ganz neue Dimension anzunehmen, und dies hatte sicherlich in erster Linie mit dem „Primat der Innenpolitik“ zu tun. Vieles spricht dafür, dass nicht die Armeen der NATO, sondern die europäischen Ideen im Kreml die stärksten Ängste hervorrufen. Denn sie könnten der Putinschen „gelenkten Demokratie“, die auf einer weitgehenden Entmündigung der Gesellschaft basiert, noch größere Probleme bereiten, als die wirtschaftlichen Sanktionen des Westens dies ohnehin tun.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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