Feinstaubtheater ohne Ende oder …

Von nationalen Alleingängen, einen Grenzwert just in dem Moment anzuzweifeln, in dem klar wird, dass man ihn verfehlt, hält Kolumnist Henning Hirsch überhaupt nichts


Feinstaubtheater ohne Ende oder …

… weshalb ein Grenzwert ein Grenzwert ist

Werden wir alle an einem Lungenkarzinom elend zugrunde gehen, wenn die jährliche Durchschnittsmenge Stickoxide (NOx) in der Luft statt wie bisher 40 demnächst 50 Mikrogramm/ m3 betragen darf? Schnelle Antwort: nein, werden wir nicht. Ist der Wert 40 eh maßlos niedrig angesetzt und könnte ohne Probleme auf beispielsweise 100 oder gar 200 erhöht werden? Wiederum schnelle Antwort: hier streiten die Gelehrten.

Völlig losgelöst von den Fragen, ob:

(a) wir nun 40, 50, 100, 200 oder vielleicht doch nur 20 Mikrogramm Stickoxide gefahrlos inhalieren können
(b) 100, 1000, 6000 oder 50.000 Menschen (in D, pro Jahr) an den direkten Folgen NOx-induzierter Krankheiten sterben
(c) man in Büros und Produktionsstätten bedenkenlos weitaus höheren Konzentrationen ausgesetzt sein darf als auf Bürgersteig und Straße,

wollen wir uns in dieser Kolumne primär mit dem deutschen Wunsch nach Korrektur des Wertes just in dem Moment, in dem man bemerkt, dass er nicht einzuhalten ist, beschäftigen.

Zahl 40 seit 1999 bekannt und einstimmig beschlossen

Springen wir kurz zwanzig Jahre zurück. 1999 legte die EU-Kommission den Mitgliedsstaaten einen Luftreinhalteplan vor, der einen Jahresdurchschnittswert von 40 µg/m3 und 18malige Spitzen – die nicht länger als eine Stunde andauern dürfen – von 200 Mikrogramm vorsah. Dieser Vorschlag wurde von den Mitgliedern akzeptiert, beschlossen, 2008 von der EU bestätigt und im Anschluss von allen Ländern in nationales Recht überführt. Die beiden Werte 40 und 200 basieren wiederum auf Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation, die begleitend mehrere Studien durchgeführt hatte.

Warum also hat man nicht bereits vor zwanzig Jahren laut „Stopp!“ gerufen, wenn man angeblich immer schon an der Sinnhaftigkeit der Zahl 40 zweifelte? Weshalb stimmte die deutsche Delegation der Verschärfung der Grenzwerte ohne Murren zu und meldete nicht etwa Bedenken an oder legte gar ein Veto ein? Womit das ambitionierte Saubere-Luft-in-Europa-Vorhaben damals auf den Fluren des Berlaymonts beerdigt worden wäre und man es bei den zuvor geltenden höheren Limits belassen hätte. Stattdessen hat man sich im Immissionsschutzgesetz verpflichtet, die neue Vorgabe bis spätestens 2015 umzusetzen. Warum ließ man sich auf dieses riskante Spiel ein? Es kann dafür nur zwei Antworten geben: zum einen waren die Verantwortlichen 1999 von der Gefährlichkeit dauerhaft zu hoher Feinstaubbelastung durchaus überzeugt, zum anderen spekulierten sie darauf, dass die Einhaltung des ambitionierteren Maximums durchaus machbar sei. Die dritte Möglichkeit – nämlich: die deutschen Vertreter ließen sich von ihren europäischen Partnern über den Tisch ziehen – will ich hier als außerhalb meiner Vorstellungskraft liegend unberücksichtigt lassen; sie sei der guten Ordnung halber aber doch erwähnt.

Warum nicht mit Tempo 100 durchs Wohngebiet?

Nun kann man sich über die konkrete Bezifferung eines Grenzwerts prima zanken. Wer will ernsthaft bestreiten, dass es sich auch mit 0.8 Promille noch halbwegs passabel Auto fahren lässt? Warum warnen Experten vor schädlichen Folgen des Alkohols, wenn man über einen längeren Zeitraum mehr als ein Glas Wein am Abend konsumiert? Ich meine, wer von uns verträgt nicht ebenfalls problemlos eine halbe Pulle Wodka? Tempo 50 innerorts – lachhaft. Gute Autofahrer können blind mit 100 km/h durch Spielstraßen kurven, ohne großen Schaden anzurichten. Kalorien- und Zuckerwarnungen – wozu? Lasst die Leute doch so viel in sich reinstopfen, wie sie wollen. Wer sagt, dass Fettleibigkeit zwingend krank macht? Ich kenne so viele glückliche Dicke. Antibiotika in Lebensmitteln, Pestizide im Garten – weswegen sich darüber aufregen und Limits beschließen? Der Herr Müller von nebenan wäre sowieso an Leukämie gestorben, als ob das irgendwas mit dem von ihm heißgeliebten und im Sommer hektoliterweise versprühten Unkraut-ex-und-hopp zu tun gehabt hätte. Und wer kann schon seriös nachweisen, dass Tabakdunst im Restaurant nicht nur die Lunge des Rauchers, sondern ebenfalls die Gesundheit des Tischnachbarn negativ beeinträchtigt? Das einzige, was man halbwegs sicher weiß, ist, dass eine Kugel aus dem Lauf einer Beretta 92, gerichtet auf den Kopf eines Menschen, tödliche Konsequenzen haben wird. D.h. der Grenzwert von Pistolen sollte vernünftigerweise 0 lauten. Aber auch bei Schüssen frontal in die Stirn gibt’s natürlich Überlebende, weshalb Waffenfreaks die Null seit jeher anzweifeln.

Was ist eigentlich ein Grenzwert?

Vielleicht sollten wir deshalb mal generell über die Zweckdienlichkeit von Grenzwerten sprechen.
Diese gründen auf zwei Säulen:
(1) Der (Mehrheits-) Meinung von Experten, dass bei Überschreiten dieses Limits Gefahr droht bzw. wir von einem stark abnehmenden Grenznutzen ausgehen müssen, wenn wir bspw. jeden Abend eine Flasche Doppelkorn in uns reinkippen, anstatt es bei der o.g. Empfehlung ein Glas Wein zu belassen
(2) Dem erzieherischen Auftrag: nun ist der Grenzwert da, und deshalb muss er eingehalten werden.

Da (1) nie aufs Komma genau kalkuliert werden kann, und wir von (2) staatlicher Bevormundung aka Erziehungsauftrag ohnehin gar nichts halten, können wir uns Grenzwerte eigentlich ganz schenken. Also munter mit 280 über unsere Autobahnen brettern, gequalmt wird am Arbeitsplatz und in der Kneipe sowieso, 10.000 Kalorien/ Tag sind Kinderportionen, und die 40 Mikrogramm NOx in der Außenluft eh der größte Witz. Sagt ja auch Lungen-Guru Köhler. Alles ab sofort in Eigenverantwortung des mündigen Wählers. Freie Fahrt für freie Bürger kombiniert mit: Möge jeder selbst bestimmen, welches Quantum NOx er sich zutraut.

Ohne Grenzwert kein Fortschritt in Richtung E-Mobilität

Mir persönlich ist weder vor Feinstaub noch vor Passivrauchen sonderlich bange. Sterben werde ich eh und dann vermutlich eher an geplatzter Leber aufgrund früher zu heftigen Alkoholkonsums als an zu viel NOx im linken Lungenflügel. Trotzdem halte ich Grenzwerte für richtig. Denn die Welt besteht nun mal nicht nur aus Menschen wie mir und Ihnen, der Sie ein notorischer Umweltschutzskeptiker sind, sondern ebenfalls aus Kindern, Asthmatikern und Senioren jenseits der 80. Speziell für diese Gruppen ist die Einhaltung der Vorgabe 40 mitunter überlebenswichtig.

So ein Grenzwert kann des Weiteren als Stimulus für die Autoindustrie dienen, sich nach über hundert Jahren Verbrennungsmotor endlich mit anderen Konzepten zu beschäftigen, die Entwicklung umweltschonender Kfz unter Hochdruck voranzutreiben und zur Marktfähigkeit zu bringen. Nach all den aufgeflogenen Tricksereien mit manipulierten Abgaswerten steht es Herstellern und Politik wahrlich nicht gut an, nun von illusorischen Umweltutopien zu faseln. Statt das Limit zu erhöhen und die Messstationen zehn Meter nach rechts und vier Meter nach oben zu verrücken, sollte die Industrie zu schnellen Hardwarenachrüstungen und vermehrten Anstrengungen beim Thema E-Mobilität gezwungen werden.

Was passiert eigentlich, falls die 50 auch nicht ausreicht? Muss dann schrittweise über 60, 70, 80 bis auf 100 oder 200 angehoben werden? Bloß damit die deutschen Produzenten weiterhin am Diesel ohne ausreichend funktionierenden Katalysator festhalten können?

Es bleibt ein schaler Beigeschmack, wenn der große europäische Lehr- und Zuchtmeister plötzlich selbst die Normen brechen möchte, die er vorher mitbeschlossen hat. Fragen sie mal Griechen und Portugiesen, was die von deutschen Finanzkontrolleuren halten, die ihnen jahrelang tagein, tagaus die Wichtigkeit der strikten Beachtung der Maastricht-Kriterien predigten und ihnen gleichzeitig Nachhilfe in Kameralistik und mitteleuropäischer Organisation der Steuerverwaltung erteilten. Wer selbst ständig auf Regeln pocht, darf sich nicht wundern, dass deren Einhaltung auch von ihm selbst gefordert wird.

Fazit

40 sind Beschlusslage und gelten. Wer damit ein Problem hat, muss seinen Einwand in den EU-Gremien zur Diskussion stellen und darf das Limit nicht im nationalen Alleingang aufweichen. Dieselfahrverbote für Innenstädte mögen für die Betroffenen lästig sein, von Enteignung sind sie Lichtjahre entfernt und als Alternative kann man gut den ÖPNV nutzen.

EDIT: der wissenschaftliche Dienst der Kolumnisten macht auf folgenden Umstand aufmerksam: Stickoxide sind Gase, Verbindungen von Stickstoff und Sauerstoff, vor allem Stickstoffmonoxid (NO) und Stickstoffdioxid (NO2).

Feinstaub sind feste Teilchen, die in der Luft schweben, Rauch z.B. Sowohl die Entstehung als auch die Verbreitung und schließlich das Verschwinden aus der Luft verlaufen komplett unterschiedlich. Die einzige Gemeinsamkeit ist, dass bei der Verbrennung von Diesel sowohl Stickoxide als auch Feinstaub entstehen.

Umgangssprachlich werden die zwei Begriffe allerdings oft synonym verwendet.

Der Autor des Beitrags gibt unumwunden zu, dass ihm die strikte Trennung der zwei Phänomene bis dato nicht bekannt war, und er NOx als Teilmenge von Feinstaub ansah. Der Gesundheit abträglich sind eh beide. Und an der Sinnhaftigkeit von Grenzwerten ändert das alles nichts. Von daher kann der Kolumnist weiter mit seiner Kolumne leben

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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