Wurde Russland nach der Oktoberrevolution zu einem Rätestaat? Zur Fassadenhaftigkeit des bolschewistischen Regimes

Als die Bolschewiki am 19. Januar 1918 die Verfassunggebende Versammlung mit ihrer nichtbolschewistischen Mehrheit gewaltsam auseinandergejagt hatten, begründeten sie diesen Willkürakt folgendermaßen: „Jeder Verzicht auf die uneingeschränkte Macht der Sowjets … zugunsten des bürgerlichen Parlamentarismus … wäre jetzt ein Schritt rückwärts, würde den Zusammenbruch der ganzen Oktoberrevolution der Arbeiter und Bauern bedeuten“.
Verfügten die Sowjets im bolschewistischen Staat aber wirklich über eine „uneingeschränkte Macht“?


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Die Partei „neuen Typs“

Als die Bolschewiki im Oktober 1917 die Provisorische Regierung stürzten und der im Februar 1917 errichteten „ersten“ russischen Demokratie ein Ende bereiteten, taten sie dies im Namen der Sowjets – also im Namen einer Einrichtung, die von Lenin zwar als die höchste Form der Volksherrschaft öffentlich verklärt wurde, der er aber zugleich außerordentlich misstraute. Bei den Sowjets handelte es sich um eine Institution, die den gesellschaftlichen Ungehorsam, den emanzipatorischen Impetus der russischen Unterschichten, ihre Auflehnung gegen überkommene Macht- und Besitzverhältnisse geradezu verkörperte. Die Sowjets stellten zwar ein äußerst effektives Vehikel der Zerstörung des bestehenden „bürgerlichen“ Staates dar, sie waren aber aufgrund ihrer diffusen und amorphen Struktur kaum dazu geeignet, den Herrschaftsapparat eines neuen, diesmal „proletarischen“ Staates aufzubauen. Dieser gigantischen Aufgabe war Lenins Ansicht nach nur die bolschewistische Partei gewachsen.

Bereits in seiner programmatischen Schrift „Was tun?“ vom Jahre 1902, also ein Jahr vor der Gründung der bolschewistischen Partei, hatte Lenin seinen berühmt gewordenen Satz formuliert „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären und wir werden Russland aus den Angeln heben“. Die bolschewistische Partei wurde von Lenin bewusst als Partei neuen Typs konzipiert, als zentralisierte, straff disziplinierte Avangarde der Arbeiterklasse. Die für Marx und Engels typische Verklärung des Proletariats war Lenin relativ fremd. Ein sozialdemokratisches Bewusstsein, also das Streben nach der Erschaffung einer neuen, nie dagewesenen Gesellschaft ohne Ausbeutung und Klassenunterschiede, könne die Arbeiterschaft nur von außen empfangen, führte Lenin aus, nur die Avantgarde der theoretisch und politisch geschulten Berufsrevolutionäre könne den Proletariern das sozialistische Gedankengut vermitteln. Aus eigener Kraft gelange die proletarische Masse lediglich zum trade-unionistischen Bewusstsein. So wurde für Lenin nicht das Proletariat, sondern die Partei zum eigentlichen Subjekt der Geschichte, zu einem Demiurgen, der die neue Welt erschaffen sollte. Angesichts dieses Paradigmenwechsels spielte die Frage nach den jeweiligen Produktionsverhältnissen oder Klassenverhältnissen, die für die orthodoxen Marxisten so wichtig gewesen war, eher eine sekundäre Rolle. Die Beschlüsse der Partei erhielten nun absolute Priorität. Die Partei entschied, ob das jeweilige Land reif für eine proletarische Revolution sei oder nicht.

Man muss hier freilich hinzufügen, dass es Lenin weder vor der Oktoberrevolution noch unmittelbar danach gelang, sein Parteiideal zu verwirklichen. Die Entwicklung der bolschewistischen Partei wurde seit ihrer Entstehung von ununterbrochenen inneren Auseinandersetzungen und Spaltungen begleitet. Der für die revolutionäre russische Intelligenzija charakteristische Hang zur politischen Polemik, und zwar in den schärfsten Formen, erstreckte sich auch auf die „Partei neuen Typs“. Auch während der umwälzenden Ereignisse von 1917/18 waren die Bolschewiki weit davon entfernt, ein organisatorischer Monolith zu sein. Zersplittert und uneinheitlich waren nicht nur die Parteiorganisationen auf der regionalen Ebene, sondern auch die Führungsgremien der Bolschewiki. Heftige Auseinandersetzungen im Zentralkomitee der Partei am Vorabend des bolschewistischen Staatsstreiches vom 25. Oktober 1917, die nach dem erfolgreichen Putsch an Schärfe nur noch zunahmen, sind ein anschauliches Beispiel dafür.

Trotz dieser inneren Zerrissenheit waren aber die Bolschewiki wohl besser organisiert als alle anderen politischen Gruppierungen im damaligen Russland. Nicht zuletzt deshalb endeten alle Versuche der politischen Gegner – und dies war beinahe die gesamte politische Klasse des Landes – den Siegeszug der bolschewistischen Partei aufzuhalten, mit einem Fiasko, und zwar sowohl vor als auch nach dem Staatsstreich vom Oktober 1917. Angesichts der tiefgreifenden Auflösungsprozesse im Lande, die beinahe alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen erfassten, wurde die bolschewistische Partei trotz ihrer Inhomogenität zu einem Kristallisationspunkt für den Aufbau der neuen russischen Staatlichkeit. So begannen die Bolschewiki in der Stunde, in der sie meinten, einen völligen Bruch mit dem vorrevolutionären Russland vollzogen zu haben, unbewusst an bestimmte Entwicklungsstränge der russischen Geschichte wieder anzuknüpfen, nicht zuletzt an diejenige der uneingeschränkten zarischen Autokratie. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew erklärt Lenins Erfolge vor allem dadurch, dass dieser sowohl die in der russischen Geschichte tief verwurzelte Tradition des revolutionären antistaatlichen Maximalismus als auch diejenige der staatlichen Despotie in sich verkörperte. In der Tat, die Leninsche Konzeption der Partei, in der die Massen als unreife Mündel betrachtet wurden, die von der „reifen“ Avantgarde zum „richtigen“ Bewusstsein herangezogen werden sollten, erinnert an paternalistische Konzepte der Verfechter der uneingeschränkten zarischen Autokratie, die ebenfalls von der Unmündigkeit der Untertanen ausgegangen waren. Allerdings verband Lenin die Geringschätzung der Massen mit der Fähigkeit, sich von ihrem Willen bisweilen treiben zu lassen. Gerade diese Fähigkeit erleichterte ihm sowohl die Machtergreifung als auch die Machtbehauptung außergewöhnlich.

Zwischen Ideologie und Staatsräson

Der russische Philosoph Fjodor Stepun schreibt, Lenin habe 1917 verstanden, dass ein Führer, sich in gewissen Situationen dem Willen der Massen beugen müsse, um zu siegen. Obwohl er ein Mensch von ungewöhnlicher Willenskraft gewesen sei, sei er gehorsam in die von den Massen gewählte Richtung gegangen. Die ersten Dekrete der Sowjetmacht unmittelbar nach dem bolschewistischen Staatsstreich zeugen in einer anschaulichen Weise von der Fähigkeit Lenins, sich vom Willen der einfachen Volksschichten tragen zu lassen. Bereits am 26. Oktober 1917 auf dem II. Allrussischen Sowjetkongress, der die Errichtung der Sowjetmacht in Russland verkündete, wurden die Dekrete über den Frieden und über Grund und Boden proklamiert. Mit dem ersten Dekret, mit dem die Bolschewiki die kriegführenden Staaten zum sofortigen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen aufforderten, kamen sie der tief ausgeprägten Friedenssehnsucht der russischen Unterschichten entgegen, mit dem zweiten Dekret, das die entschädigungslose Enteignung des Großgrundbesitzes anordnete, erfüllten sie den generationenalten Wunsch der russischen Bauernschaft nach der gerechten Verteilung des Bodens, nach der „Schwarzen Umverteilung“.

Mit dem ursprünglichen bolschewistischen Programm hatten diese Dekrete wenig gemeinsam, so z.B. das Dekret über den Frieden. Lenins Ziel war keineswegs die Beendigung des Weltkrieges, sondern seine Verwandlung in einen weltweiten Bürgerkrieg. Er betonte wiederholt, dass nur auf diese Weise die Hauptursache aller Kriege – das aggressive und expansionistische Weltkapital – ausgeschaltet werden könne. Kurz nach dem Ausbruch des Weltkrieges nannte Lenin diesen Krieg „den größten Regisseur der Weltgeschichte“. Einige Monate später schrieb er: die Epoche des Bajonetts sei angebrochen. Dies bedeute, dass man mit dieser Waffe auch kämpfen müsse. All das zeigt, dass die pazifistischen Parolen, die die Bolschewiki 1917 mit einem solch durchschlagenden Erfolg verbreiteten, den langfristigen Zielen der Partei widersprachen. Sie entsprachen aber den Erwartungen der russischen Volksmassen, die letztendlich über die politische Zukunft des Landes entschieden. Deshalb hielt Lenin es für opportun, sich dieser Stimmung vorübergehend anzupassen.

Auch die radikale Bodenreform, die den Großgrundbesitz enteignete und den bäuerlichen Kleinbesitz stärkte, widersprach in eklatanter Weise den Vorstellungen der orthodoxen Marxisten, d.h. auch der Bolschewiki, die von der Vergesellschaftung bzw. der Nationalisierung der Landwirtschaft träumten. Rosa Luxemburg, die den marxistischen Glauben mit einer besonderen Leidenschaft vertrat, kritisierte im September 1918 die Agrarpolitik der Bolschewiki als einen Verrat am Marxismus:

Die Besitzergreifung der Ländereien durch die Bauern … führte einfach zur plötzlichen, chaotischen Überführung des Großgrundbesitzes in bäuerlichen Grundbesitz. Was geschaffen wurde, ist nicht gesellschaftliches Eigentum, sondern neues Privateigentum, und zwar Zerschlagung des großen Eigentums …, des relativ fortgeschrittenen Großbetriebes in primitiven Kleinbetrieb, der technisch mit den Mitteln aus der Zeit der Pharaonen arbeitet.

Lenin selbst gab wiederholt zu, dass die Bolschewiki mit ihrem „Dekret über Grund und Boden“ nicht ihr eigenes Programm, sondern das Programm ihrer politischen Gegner – der Sozialrevolutionäre – verwirklichten. Denn anders als die russischen Marxisten verknüpften die Sozialrevolutionäre ihre revolutionären Hoffnungen in erster Linie mit der Bauernschaft und nicht mit dem Industrieproletariat und setzten sich mit besonderer Vehemenz für die Belange der russischen Landbevölkerung ein. Anders als die Bolschewiki aber wollten sie mit der Verkündung der radikalen Bodenreform bis zur Einberufung der Verfassunggebenden Versammlung warten. Lenin hatte diese Bedenken nicht und schuf mit dem Dekret über Grund und Boden vollendete Tatsachen, ohne sich dabei um das Plazet der künftigen Konstituante zu kümmern. Damit nahm Lenin den Sozialrevolutionären, die aufgrund ihrer Verankerung bei der Landbevölkerung für die Bolschewiki äußerst gefährlich hätten werden können, die stärksten Trümpfe aus der Hand.

So waren die Bolschewiki keineswegs nur weltfremde Doktrinäre, wie ihre Gegner ihnen dies oft vorwarfen. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätten sie ihre atemberaubenden Erfolge nicht erzielen können. Das Erfolgsgeheimnis der Bolschewiki bestand darin, dass sie imstande waren, die dogmatische Intransigenz mit einem erstaunlichen Realitätssinn zu verbinden. Sie waren durchaus fähig, ihren Kurs radikal zu ändern, wenn die Umstände dies erforderten, wenn von einer solchen Kursänderung ihr Überleben abhing. Nicht zuletzt deshalb neigen viele Autoren dazu, den Pragmatismus der Bolschewiki zu bewundern. Aber auch diese Beobachter unterliegen einer Täuschung. Sie unterschätzen wiederum die dogmatische Seite des Bolschewismus, denn auch in den Zeiten, in denen die bolschewistische Partei einen pragmatischen Kurs verfolgte, gab sie niemals ihr Ziel auf, die marxistische Utopie, natürlich in ihrer bolschewistischen Interpretation, zu verwirklichen.

Eine neue „Doppelherrschaft“?

Um ihren Kurs schnell ändern zu können, wenn die politische Lage es erforderte, benötigte die bolschewistische Partei eine weitgehende Handlungsfreiheit, d.h. die Alleinherrschaft. Rücksichten auf die eventuellen Koalitionspartner mit anderen programmatischen Vorstellungen hätten hier zu erheblichen Verzögerungen führen können. Nicht zuletzt deshalb plädierte Lenin unmittelbar nach dem bolschewistischen Staatsstreich für die Errichtung einer rein bolschewistischen Regierung. Die erste sowjetische Regierung, die auf Vorschlag Trotzkis den Namen „Rat der Volkskommissare“ erhielt und die am 26. Oktober vom II. Allrussischen Kongress des Sowjets bestätigt wurde, war in der Tat rein bolschewistisch. Dieser Sachverhalt war indes für viele Bolschewiki, auch für manche der engsten Gefährten Lenins, nicht akzeptabel. Sie waren der Meinung, die bolschewistische Alleinherrschaft werde das Land unvermeidlich in einen Bürgerkrieg führen und wollten die politische Basis der Regierung wesentlich erweitern. Sie waren Verfechter einer sozialistischen Mehrparteienregierung und vertraten damit die Meinung, die im Lager der sozialistischen Kritiker der Bolschewiki sehr populär war. Für die sozialistische Mehrparteienregierung plädierte auch die mächtige Eisenbahnergewerkschaft, deren Führung (WIKShEL) den Bolschewiki mit einem Generalstreik drohte, falls der Rat der Volkskommissare seinen rein bolschewistischen Charakter bewahren sollte. Nach heftigen Auseinandersetzungen im bolschewistischen ZK setzten sich aber letztendlich am 1. November 1917 die Verfechter des harten Kurses durch, die von Lenin und von Trotzki angeführt wurden. Die Parteiführer, die für eine „weiche“ Linie plädierten – Grigorij Sinowjew, Lew Kamenew, Alexei Rykow u.a. – traten aus dem bolschewistischen ZK bzw. aus dem Rat der Volkskommissare aus. Die bezwungene Opposition gab folgende Erklärung ab:

„Wir sind der Meinung, dass es notwendig ist, eine sozialistische Regierung aus sämtlichen Sowjetparteien zu bilden … Wir glauben, dass es jetzt nur noch eine Alternative gibt: die Beibehaltung einer rein bolschewistischen Regierung auf der Grundlage von politischem Terror. Das ist der Weg, wie er vom Rat der Volkskommissare eingeschlagen wurde. Wir können und wollen diesen Weg nicht gehen. Wir sehen, dass er den Ausschluss der proletarischen Massenorganisationen aus der Führung des politischen Lebens zur Folge hat, die Errichtung eines Regimes, das niemandem verantwortlich ist, und die Vernichtung der Revolution und des Landes. Wir können die Verantwortung für diese Politik nicht übernehmen und bieten deshalb dem ZEK (Zentrales Exekutivkomitee des Sowjets – L.L.) unseren Rücktritt als Volkskommissare an.“

Man darf aber nicht vergessen, dass neben dem Rat der Volkskommissare auch die Sowjets existierten, in deren Namen der Rat der Volkskommissare agierte, deren Kontrolle er unterstand. Zwar verfügten die Bolschewiki seit dem II. Allrussischen Kongress der Sowjets vom 25./26.10.1917 über eine Mehrheit in seinem Zentralorgan – Zentrales Exekutivkomitee (ZEK). Aber auch Vertreter anderer sozialistischer Parteien beteiligten sich aktiv an der Tätigkeit dieser offiziell höchsten Instanz im Staate, deren Kompetenz der II. Allrussische Sowjetkongress folgendermaßen definierte:

Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare sowie das Recht, sie abzusetzen, steht dem Allrussischen Kongress der Sowjets … und seinem Zentralen Exekutivkomitee zu.

Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen dem Sowjet und dem Rat der Volkskommissare drängt sich zunächst der Eindruck auf, dies sei eine Art Gewaltenteilung, wobei die Sowjets die legislative und der Rat der Volkskommissare die exekutive Gewalt verkörperten. Dieser Eindruck täuscht jedoch. Die Bolschewiki hielten die Gewaltenteilung für ein Relikt der bereits überwunden bürgerlichen Vergangenheit. Im 7. Kapitel der Verfassung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik vom 10. Juli 1918 wurde das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee der Räte als „das höchste gesetzgebende, verfügende und kontrollierende Organ der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ bezeichnet. Man fühlt sich hier an die Definition der russischen Selbstherrschaft vor der Verwandlung des Zarenreiches in eine konstitutionelle Monarchie in den Jahren 1905/06 erinnert. So definierte der russische Rechtsgelehrte Michail Speranski 1832 in der Sammlung der russischen Staatsgrundgesetze Russland als eine absolute und uneingeschränkte Monarchie. Der Zar wurde als alleiniger, autokratischer Träger der obersten Gewalt genannt. Ihm allein gehöre die legislative, die exekutive und die juridische Gewalt.

Totalitäre „Fassaden“

Es bestand indessen ein gravierender Unterschied zwischen der zarischen Selbstherrschaft und der Sowjetmacht. Während der Zar vor der Revolution von 1905 der tatsächliche Alleinherrscher gewesen war, handelte es sich bei der Alleinherrschaft der Sowjets nur um eine Verfassungstheorie, die von der Verfassungswirklichkeit unendlich weit entfernt war. Das Spannungsverhältnis zwischen der bolschewistischen Partei und den Sowjets stellte den roten Faden der ersten Entwicklungsphase des sowjetischen Staates dar. Diese Konflikte endeten in der Regel zugunsten der Bolschewiki, die trotz all ihrer inneren Auseinandersetzungen einen gewaltigen organisatorischen Vorsprung gegenüber den basisdemokratischen, amorphen Sowjets besaßen. Dennoch wurde den Sowjets ein ganz anderes Schicksal beschieden als den übrigen von den Bolschewiki bezwungenen Kontrahenten. Sie wurden nicht beseitigt, sondern im Gegenteil – konserviert und offiziell als oberste Instanz im Staate bezeichnet. Die Partei, die den sowjetischen Staat uneingeschränkt kontrollierte, wurde indes in den beiden ersten sowjetischen Verfassungen (1918, 1924) nicht einmal erwähnt. Warum lehnten die Bolschewiki es ab, die Alleinherrschaft der Partei auch verfassungsmäßig zu verankern? Dieses Verschleiern der wahren Machtverhältnisse war durchaus beabsichtigt. Die Willkür der Herrschenden wurde dadurch keinen formalen Schranken unterworfen. So wurden die Bolschewiki zu den Wegbereitern des ersten totalitären Staates der Moderne, dessen Wesen darin besteht, dass er keine gesetzlichen Schranken kennt, ohne dies aber offen zuzugeben. Daher die Vorliebe der totalitären Regime für fassadenhafte Einrichtungen, die ihre Herrschaft zwar legitimieren, aber in keiner Weise begrenzen. So hielt die nationalsozialistische Führung in Deutschland es nicht für erforderlich, nach der Machtübernahme im Jahre 1933 die Weimarer Verfassung formell abzuschaffen. Die Nationalsozialisten regierten nicht zuletzt mit Hilfe der Notverordnung des Reichpräsidenten „zum Schutz von Volk und Staat“ vom 28. Februar 1933, sie beriefen sich auch auf das vom Reichstag bewilligte Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, das der Reichstag – inzwischen eine Marionette des Regimes – 1937 und 1939 in grotesk anmutenden Zeremonien wiederholt erneuerte. Dies verlieh der neuen Willkürherrschaft zumindest den Anschein der Legalität. Für ähnliche Zwecke benötigten die Bolschewiki die Fassade der Sowjetlegalität. Diese Vorgehensweise wurde von vielen linken Kritikern des bolschewistischen Regimes mit äußerster Schärfe angeprangert, z.B. vom deutschen Kommunisten Arthur Rosenberg in seinem Buch „Geschichte des Bolschewismus“:

Lenin hatte 1917 die Räte dazu verwendet, um den imperialistischen Staatsapparat zu zertrümmern. Dann errichtete er seinen eigenen Staatsapparat im echt bolschewistischen Stil, d.h. als die Herrschaft der kleinen disziplinierten Minderheit der Berufsrevolutionäre über die große und wirre Masse. Aber die Bolschewiki haben nun etwa nicht etwa die Sowjets abgeschafft, was technisch in Russland durchaus möglich gewesen wäre, sondern sie haben die Sowjets als dekoratives Symbol ihrer Herrschaft behalten und ausgenutzt.

von Leonid Luks

3.11. 2017

 

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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