Trigger-Alarm: notwendig oder Zeitgeistmarotte?

Standardisierte Inhaltswarnungen vor Romanen und Filmen sind nichts anderes als betreute/s Lesen & Kinobesuche, sagt Kolumnist Henning Hirsch

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Seit einiger Zeit zeigt mir Amazon Prime, wenn ich mir dort einen ü18-Film aussuche, diese Textzeile: „Achtung: Rauchen, Drogenkonsum, Alkohol, Nacktheit, Schimpfwörter, sexuelle Inhalte, Gewalt.“

Boh!, dachte ich beim ersten Mal. Das ist aber wirklich klug von den Amazon-Leuten, wie sie diese kritischen Inhalte aus dem Film extrahieren; da steckt bestimmt ne superschlaue K.I. dahinter. Als ich den identischen Hinweis zum fünften Mal sah, begriff ich, dass es sich um eine Standard-Textzeile handelt. Und spätestens beim zehnten Mal habe ich es gar nicht mehr gelesen.

Warnhinweise: inflationsartige Vermehrung

Solche Warnungen gibt’s ja mittlerweile inflationsartig: als Nachspann „Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“ zu Baldriantropfen, Reizdarm-Blockern und Schmerzsalben im TV, auf Zigarettenpackungen, die mit drastischen Sätzen zzgl Ekelbildern garniert sind, als Nutri-Score bei hochkalorischen Lebensmitteln und ebenfalls in Audio-Form: „Bitte achten Sie beim Ausstieg auf den Abstand zwischen Zug und Bahnsteig!“ (im engl. Original etwas knackiger: „Mind the gap!“) , sobald man die U-Bahn verlässt. Gebrauchsanleitungen enthalten seitenlange Vorspänne, worauf man alles achten muss, wenn man ein IKEA-Regal zusammenschraubt oder eine Batterie in eine Fernbedienung einlegt. Und man fragt sich als älterer Mensch manchmal, wie das früher ohne diese Hinweise funktioniert hat. Da sind anscheinend zig Millionen Menschen weltweit gestorben, weil sie die Schrauben und die Batterien runtergeschluckt haben, anstatt sie in die Regale einzubauen bzw. in die Fernbedienungen reinzutun.

Jetzt ist ja gegen Warnungen auf Zigarettenpackungen und bei überzuckerten Lebensmitteln prinzipiell nichts einzuwenden; obwohl man sich hin und wieder fragt, weshalb dasselbe nicht ebenfalls beim Alkohol und den Sozialen Medien praktiziert wird. Und die Alterseinschränkungen ü18 und ü16 sind ebenfalls nicht verkehrt, auch wenn die nicht immer stringent angewendet werden. Mancher Zombie-Film, der als „für Jugendliche tauglich“ eingestuft ist, müsste eigentlich den Hinweis „Frühestens mit 40 und nur, wenn Sie über einen robusten Magen verfügen“ versehen werden. Während einige lauwarme ü18-Erotikstreifen sicher ebenfalls für frühreife Teenager geeignet wären. Aber vom Grundsatz her ist die FSK-Einsortierung schon okay.

Nun reichen Alterseinstufungen, Beipackzettel in Medikamentenpackungen, Warnungen vor Nikotin und Lebensmittelampeln jedoch bei weitem nicht aus, um den postmodernen Hinweishunger zu stillen. Gemäß dem Motto „Der Trigger lauert immer und überall“ werden wir mittlerweile von einer wahren Springflut an Warnungen überschwemmt. Als neues Betätigungsfeld haben die Hinweis-Pädagogen Bücher entdeckt; und hier erst mal den Teilbereich „Belletristik“. Nun gab’s auch bei Romanen schon lange die Alterseinschränkung, manche durften nur unter dem Ladentisch verkauft werden und einige durften sogar überhaupt nicht verkauft werden. Mütter wussten, dass „Die Geschichte der O“ kein altersadäquates Geburtstagspräsent für die 14-jährige Tochter ist, Väter ahnten, dass sie Pornohefte besser heimlich alleine durchblättern, als sie mit der gesamten Familie zu teilen. Und notfalls konnte man sich beim vielbelesenen Bürokollegen erkundigen, ob Millers „Opus Pistorum“ als Mitbringsel für eine Grillparty beim Nachbarn taugt. Diese informelle Try-& Error-Vorgehensweise hat jahrhundertelang ganz gut funktioniert.

Trigger: reale und eingebildete

Jetzt kann es aber ja durchaus sein, dass zartbesaitete Naturen nach den ersten 50 Seiten von de Sades „Die 120 Tage von Sodom“ erschrocken feststellen, dass in ihrer eigenen schwarzen Seele (bisher nicht verwirklichte) Gewaltfantasien schlummern. Der nicht gefestigte Abstinenzler wird wegen der Lektüre des Kurzgeschichtenbandes „Schlechte Verlierer“ von Bukowski wieder an die Flasche gebracht. Nach 20 Unterrichtseinheiten „Die Leiden des jungen Werthers“ im Deutsch-Grundkurs der 11-ten Klasse schießen die Suchanfragen nach Pistolen im Darknet in die Höhe. Soll heißen: In jedem Roman steckt immer auch was Gefährliches/Gefährdendes drin. Es kann aber auch jedes Mal das komplette Gegenteil eintreten: Nach der letzten Seite „Die 120 Tage von Sodom“ beschließt man, niemals einem anderen Menschen Leid zufügen zu wollen. Bukowskis Schilderungen der Monotonie des Säuferlebens bestärken den trockenen Alkoholiker in seinem Abstinenzwunsch. Die Schüler erkennen, dass Selbstmord aufgrund von Liebeskummer nur ein spontaner Affekt, jedoch keine vernünftige Lösung ist. Merke: Nicht alles, was angeblich triggert, triggert auch tatsächlich.

Als trockenem Alkoholiker ist mir durchaus bewusst, was ein Trigger ist und wie gefährlich so ein äußerer Reiz mitunter werden kann: ein Glas Bier auf dem Tisch beim Skatabend mit den Kumpels, eine Flasche Wodka auf dem Tresen der Hotelbar, das Regal mit den Flachmännern an der Supermarktkasse. Das sind aber allesamt reale Gefahren. Ich kann sie sehen, riechen, anfassen, kaufen und mir die Kehle runterlaufen lassen. Davor gilt es mich zu schützen bzw. sinnvolle Abwehrmechanismen zu entwickeln. Von einem zwischen Buchdeckel eingezwängten Alkohol-Trigger habe ich bisher jedoch noch nie was gehört. Und glauben Sie mir: ich habe in den Jahren meiner Trockenheit schon von vielen Alkohol-Triggern gehört.

Die Existenz und Gefährlichkeit von äußeren Reizen für bestimmte Gruppen sollen also gar nicht in Zweifel gezogen werden. Zu fragen ist jedoch, ob nun jedes kleine emotionale Unwohlsein gleich als lebensgefährdender Zustand eingestuft werden sollte, weshalb derjenige, der sich manchmal unwohl fühlt, per Hinweis vor dem eventuellen Eintreten dieser als negativ empfundenen Gefühlsregung gewarnt werden muss. Bei Heimspielen des Effzeh in etwa so: „Achtung: Von den letzten 10 Heimspielen hat Köln 5 verloren. Sollten Sie ein eingefleischter Effzeh-Fan sein, der zu vegetativem Bluthochdruck neigt, raten wir vor dem Stadionbesuch zu einem Belastungs-EKG bei Ihrem Kardiologen. Ein mittelschweres Unwohlsein im Falle einer Niederlage wird aber auch Ihr Kardiologe nicht verhindern können.“

Zeitgemäße Einordnung, weil wir anscheinend alle im Geschichtsunterricht geschlafen haben

Zurück zu Büchern & Filmen. Heutzutage, wo allen Ernstes davor gewarnt wird, den flüssigen Inhalt von Autobatterien nicht zu trinken, sondern als Giftmüll von einem zertifizierten Fachbetrieb sachgerecht entsorgen zu lassen, reichen Klappentexte bei Romanen nicht mehr. Da muss zusätzlich mit sogenannten „Einordnenden Hinweisen“ auf irgendwas hingewiesen werden. Z.B. dass es in Ovids Metamorphosen streckenweise recht obszön zugeht, Shakespeare seinen Protagonisten  Julius Cäsar am Ende ermorden lässt, Romeo & Julia durch Selbsttötung sterben und die teils drastischen Schilderungen der sozialen Missstände im viktorianischen England in den Geschichten von Charles Dickens verstörend auf Leser mit Armutsphobie wirken könnten. Mein aktueller Liebling: Einordnende Hinweise zu den Romanen und Filmen von der Deutschen drittliebstem Schriftsteller*in (nach Thomas Mann und Rosamunde Pilcher) Karl May. Dass der bei der Zeichnung seiner Figuren mitunter Klischees verwendete, der Wilde Westen nicht so war, wie May ihn gerne gehabt hätte und überhaupt das alles irgendwie mit kolonial geprägtem Rassismus zu tun habe. Oha!, denke ich. Ohne diese Klarstellung wäre ich von selbst nie drauf gekommen, dass Karl May Fiktion und keine naturgetreuen Reisereportagen zu Papier gebracht hatte. Dank also an die fleißigen Hinweis-Geber. Eventuell sollten wir ältere Werke, bei denen uns aufgrund permanenten Schwänzens des Geschichtsunterrichts der Zeitbezug abhandengekommen ist, ohne vorherige Inhaltswarnungen gar nicht mehr in die Hand nehmen.

Man könnte das Problem – unterstellt: es handelt sich überhaupt um eins – auch dadurch zu lösen versuchen, indem man sich vor dem Kauf eines Romans dessen Inhaltsangabe und ein paar Rezensionen durchliest. Dann würde man schnell begreifen, ob das Buch für den persönlichen Gebrauch taugt. Aber das wäre zu old school bzw. zu aufwändig. Deshalb ab sofort die kurzen Warntexte vor dem eigentlichen Text. In der Hoffnung, dass der heutige Homo legens es schafft, mehr als den Hinweis zu lesen, ohne danach abrupt und erschöpft abzubrechen.

Und man fragt sich, welche Sorte Leser braucht solche standardisierten Texttafeln? Weshalb benötigen anscheinend speziell Studenten diese Hinweise? Warum studiert man, wenn man vor jeder universitären Lektüre gewarnt werden muss? Vielleicht ist es dann besser, gar keine Romane mehr zu lesen, anstatt sich ständig vor deren Inhalten zu fürchten. Oder alternativ: keine Geisteswissenschaft belegen, sondern sich für Physik einschreiben. Wobei da dann natürlich die Lehrbücher auf negative Kernkraft-& Wurmloch-Trigger untersucht werden müssten.

Vorbei die Zeiten, in denen man unbegleitet einen Winnetou-Film anschauen konnte. Heute gibt’s dazu eine sogenannte begleitende Berichterstattung, die dann so lautet:

Die Handlung des Films ist frei erfunden und bildet Stereotype ab. Der Film zeichnet deshalb kein authentisches Bild der tatsächlichen Lebensweise indigener Völker in Nordamerika.

Wird in Filmen nicht ganz oft mit Stereotypen gearbeitet, geht es mir durch den Kopf; ist es nicht geradezu ein bestimmendes Merkmal von Fiktion, dass der Autor sich eine Fantasiewelt zurechtzimmert? Die halt nicht 1 zu 1 der Realität entspricht. Manche Autoren übertreiben es zugegebenermaßen mit der Fantasie; aber muss ich als mündiger Leser davor tatsächlich gewarnt werden? Ich handhabe es bspw. so, dass ich einem Roman 30 Seiten gebe, um mich in seinen Bann zu ziehen. Gelingt ihm das, lese ich ihn bis zum Ende. Falls nicht, stelle ich ihn ins Regal zurück. Das mache ich so seit 50 Jahren und brauchte bisher noch nie eine (standardisierte) Inhaltswarnung.

Wo soll die Hinweis-Inflation hinführen?

Inhaltswarnungen alsbald auch vor der Tagesschau?
„Achtung: Hier werden gleich Bilder vom Kriegsgeschehen in der Ukraine ausgestrahlt, die auf Pazifisten und Öffentliche Briefeschreiber verstörend wirken könnten!“

Oder vor dem 21-Uhr-Krimi?
„Im nun folgenden Film werden 3 Menschen ermordet und ein paar Liter (Kunst-) Blut zu sehen sein. Wer Probleme mit Fernseh-Leichen und Kunstblut hat, dem empfehlen wir stattdessen die Doku ‚Wie Achtsamkeit und Nachhaltigkeit zusammenhängen‘ in unserer Mediathek.“

Vor Partyhits?
„Dieses Sauf- & Pufflied geht nüchtern gar nicht. Sie sollten 4 Flaschen Bier intus haben, bevor Sie es anhören und Minimum 1 Pulle Wodka, wenn Sie es mitgrölen.“

An den Anfang von medizinischen Lehrbüchern?
„Hier gibt’s seitenweise Ekelbilder von geplatzten Blinddärmen und Karzinomen im Endstadium zu sehen. Wer so was nicht sehen kann, der sollte schleunigst das Studienfach wechseln.“

Muss ich demnächst vor jeden meiner Texte, „Achtung: Sie betreten nun die als Kolumne getarnte Welt des Schwachsinns!“, schreiben?

Ja, sollte ich tun?
Okay, werde ich ab sofort machen.

Rubrik: Betreutes Lesen & (Film-) Schauen.
+++

PS. Weshalb ich den schreienden Hai als Titelbild ausgewählt habe? Hat keinen tieferen Grund. Einfach nur so, weil der bei der Schlagwortsuche „Trigger“ in der Bildergalerie erschien und mir spontan gut gefiel. Denn auch mir ist manchmal nach Schreien, wenn ich saublöde Warnhinweise lese.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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