Lebenslang für Whistleblower?

Julian Assange muss schnellstmöglich auf freien Fuß gesetzt werden, fordert Kolumnist Henning Hirsch


Man muss kein Freund von Julian Assange sein, man muss Enthüllungsplattformen nicht mögen, man kann die Auffassung vertreten, dass die Veröffentlichung kompromittierender Informationen durch WikiLeaks nicht immer nach objektiven Kriterien geschieht, man kann sogar investigativem Journalismus gegenüber skeptisch eingestellt sein, um trotzdem zu erkennen, dass in der Causa Julian A. seit einiger Zeit ne Menge gehörig schiefläuft.

WikiLeaks: innovativ und von Anfang an hochumstritten

Der Reihe nach: Im Herbst 2006 gründete eine Handvoll Internetaktivisten – darunter Assange – eine neue Plattform, die sie WikiLeaks [wiki = schnell (Hawaiisch), leaks = undichte Stellen (Engl.)] tauften. Hier können vertrauliche Dokumente hochgeladen und gespeichert werden. Den Absendern – den geheimnisumwitterten Whistleblowern – wird Anonymität zugesichert. Die Mitarbeiter von WikiLeaks wählen aus der täglich zugesandten Informationsflut die Fundstücke aus, die sie für veröffentlichungswürdig einstufen und präsentieren die auf ihrer Plattform unkommentiert einem weltweiten Publikum. Das können sein: Mails, Mitschriften/ Vermerke, Gutachten, Kontoauszüge oder Videos. Der Kerngedanke von WikiLeaks besteht in der Idee der freien Verfügbarkeit von Material, das öffentliche Angelegenheiten betrifft. Dabei wird ein grundsätzliches Interesse der Allgemeinheit an durch Geheimhaltung in ihrer Zugänglichkeit beschränkten Informationen vorausgesetzt. WikiLeaks sieht sich als Non-Profit-Organisation: für die Nutzung wird keine Gebühr erhoben, es werden kein Umsatz und kein Gewinn erwirtschaftet. Man ist auf freiwillige Spenden angewiesen.

WikiLeaks‘ Publikationen feierten schnell Erfolge. In diesem Zusammenhang exemplarisch zu nennen sind: Die Plünderung Kenias durch Präsident Arap Moi, die Richtlinien der US-Armee für das Gefangenenlager Guantanamo, der Minton-Report über toxische Abfälle in der Elfenbeinküste, das Video Collateral Murder sowie die Afghanistan War Logs und die Iraq War Logs. Nicht alles jedoch lief rund. Auf der Negativseite sind beispielsweise die Datenpanne bei der Veröffentlichung der rund 250.000 internen US-Botschaftsdokumente (sog. Cablegate) sowie das gezielte Inumlaufbringen der Mails von Hillary Clinton, um ihr im Präsidentschaftswahlkampf 2016 zu schaden, zu verbuchen.

An Bemühungen, die Aktivitäten von WikiLeaks zu behindern oder gar ganz zu unterbinden, hat es von Anfang an nicht gemangelt. Die Versuche reichen von Sperrung der Domains über Cyberattacken auf die betriebenen Server bis hin zur Löschung des Paypal-Kontos, das zum Zweck des Spendeneinsammelns diente. Den größten Schaden richtete jedoch der „freiwillige“ Rückzug ihres Gründers ins ecuadorianische Asyl (allerdings nicht in Ecuador selber, sondern in den Räumen von dessen Londoner Botschaft) an. Seitdem Assange im Sommer 2012 hinter den Mauern von 144-146 Kings Cross Road verschwand, wurde es schlagartig ruhig um die weltweit führende Enthüllungsplattform, die zwar weiterhin im Netz präsent ist, allerdings nie mehr die frühere Wirkmächtigkeit erreicht hat.

Sündenfall und Leidensweg des Julian A.

2010 erfolgte die Verlegung der WikiLeaks-Server nach Schweden, weil die Gesetzgebung für Whistleblower dort sehr viel liberaler ist als in den angelsächsischen Ländern. Im Sommer desselben Jahres handelte sich Assange zwei Anzeigen wegen nicht-einvernehmlichem Sex – vulgo: Vergewaltigung – ein. Da bei der schwedischen Justiz von Anfang an Zweifel bestanden, ob die Vorwürfe gerichtsfest sind, durfte Assange unter Auflagen nach Großbritannien zu einer Konferenz ausreisen. Musste sich aber dort ebenfalls den Behörden stellen, wurde in Untersuchungshaft genommen und mit einer elektronischen Fessel am Fußgelenk wieder entlassen. Dem schwedischen Wunsch nach Vernehmung in Uppsala widersetzte er sich, die Auslieferung in die USA befürchtend. Im Sommer 2012 entledigte er sich des Überwachungschips, flüchtete er in die ecuadorianische Botschaft und beantragte Asyl. Diesem Begehren wurde zwei Monate später stattgegeben, Assange jedoch nie nach Ecuador ausgeflogen. Stattdessen verbrachte er geschlagene sieben (!) Jahre als Quasi-Gefangener in den Privaträumen des Gesandten. Im April 2019 zieht der frisch gewählte Präsident, Lenín Moreno, die bisher schützende Hand zurück, und Assange wird der britischen Polizei übergeben. Seitdem sitzt er isoliert in einer Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bei London und verbüßt dort eine 50-wöchige Haftstrafe wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen.

Um es zusammenzufassen – die Vorwürfe gegen Assange lauten:
(A) Vergewaltigung (Schweden)
(B) Verstoß gegen Kautionsauflagen (Großbritannien)
(C) 18 Anklagepunkte, die von Veröffentlichung von Informationen, die die nationale Sicherheit betreffen über unautorisierten Zugang zu einem Computernetzwerk/ Diebstahl von Regierungseigentum bis hin zur Enttarnung (und dadurch Gefährdung) geheimdienstlicher Quellen reichen (USA).

Investigativer Journalismus – gibt’s den überhaupt völlig legal?

An dieser Stelle müssen wir ein paar Fragen stellen: Fällt das, was Assange mit WikiLeaks betrieben hat, in die Kategorie (investigativer) Journalismus? Falls ja: Weshalb sollen dann für ihn strengere Regeln gelten als für andere Berufskollegen? Bspw. der New York Times oder der Washington Post. Hat er bei der Beschaffung der Informationen gegen Gesetze verstoßen? Und schließlich: Stiftet die Art, in der WikiLeaks sensible Texte veröffentlicht, einen Nutzen für uns normale Bürger und Zeitungleser?

mMn lautet die Antwort: 3x JA. Also: wir sprechen bei WikiLeaks über eine Sonderform des investigativen Journalismus. Ja, bei der Beschaffung der Informationen wurde ganz sicher gegen Gesetze verstoßen. Und JA: Die Veröffentlichung dieser brisanten Texte ist durchaus positiv zu sehen. Bleibt mithin als einziger Makel die illegale Besorgung der Dokumente zu nennen. Bloß: auf welchen legalen Wegen sollen solche Verschlusssachen sonst ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden? Investigativer Journalismus funktioniert nicht ohne das Anzapfen interner Quellen. Ohne Deep Throat keine Watergate-Enthüllungen. Ohne Ellsberg keine Pentagon Papers. Ohne Snowden kein Bewusstsein für die Datensammelwut der NSA. Ohne WikiLeaks keine Kenntnis über die behördlichen Folterrichtlinien in Guantanamo. Von daher läuft der Vorwurf der illegalen Beschaffung der Informationen ins Leere; es sei denn, man beabsichtigt, investigativen Journalismus in Gänze unmöglich zu machen.

Die US-amerikanischen Anklagepunkte müssten folglich nach europäischem Rechtsverständnis sämtlich fallengelassen werden. Im Raum stehen dann noch die schwedischen Vorwürfe wegen Vergewaltigung. Das Verfahren wurde allerdings gestern (19. November) von der Stockholmer Staatsanwaltschaft eingestellt. Ob es sich um einvernehmlichen, halb-einvernehmlichen oder komplett einvernehmlichen Sex, ob mit intaktem oder mit geplatztem Kondom handelte – wer will das zehn Jahre später noch richtig beurteilen? Was also bleibt an strafwürdigem Verhalten Assanges nach der zurückgezogenen Anklage wegen sexueller Nötigung übrig? Was wiegt so schwer, dass man ihn weiterhin in Einzelhaft in einem Hochsicherheitsgefängnis verwahren muss? Der Verstoß gegen Kautionsauflagen? Kautionsauflagen für einen ohnehin stets wackligen Vorwurf, der mittlerweile fallengelassen wurde? Oder ging es der britischen Justiz von Anfang an bloß um die Auslieferung in die USA? Weshalb wird dieses Gesuch erst im Februar 2020 verhandelt? Warum muss Assange bis dahin in Isolationshaft oder überhaupt im Gefängnis schmoren?

Auf der gegenüberliegenden Seite des Atlantiks drohen dem WikiLeaks-Gründer bei Addition sämtlicher 18 Anklagepunkte bis zu 175 Jahre Knast. Selbst, wenn er nur die Hälfte aufgebrummt bekommt und ihm ein bisschen wegen guter Führung erlassen wird, verbringt er immer noch schlappe achtzig Jahre hinter Gittern. Auf verständnisvolle und gnädige Richter kann er im Land des überbordenden Patriotismus sicher nicht vertrauen. Assange (48), der mittlerweile auf Fotos eher einem Greis denn einem Mann in den besten Jahren ähnelt, wirkt gesundheitlich bereits stark angeschlagen. Die langen Jahre eingesperrt in der Botschaft und nun in Belmarsh haben körperlich ganz augenscheinlich ihre Spuren hinterlassen. D.h. ein Leben in Freiheit wird es für den WikiLeaks-Gründer nach seiner Auslieferung nicht mehr geben. Seinen letzten Seufzer tut irgendwo zwischen New York und L.A. in einem Gefängnishospital.

Beschämendes Schweigen der europäischen Regierungen

Assanges Sündenfälle bestehen im Wesentlichen aus: Den beiden (nicht bewiesenen) Vergewaltigungen in Schweden und seiner Vorzugsbehandlung für Trump im Wahlkampf 2016, als er die Mails von dessen Mitbewerberin Clinton leakte (in der irrigen Annahme, dass Trump ihm diesen Dienst später danken würde). Da Schweden das Verfahren mittlerweile eingestellt hat, und die Parteinahme für den größten aller Präsidenten zwar ein fulminanter Fehler war, jedoch nicht justiziabel ist, fragt man sich, was nun noch aus europäischem Blickwinkel an strafbarer Schuld verbleibt. Schuld, die es gebietet, ihn weiterhin wie einen Topterroristen in Einzelhaft, mit stark reduzierter Besuchs- und Kommunikationserlaubnis in einem Hochsicherheitsgefängnis zu behalten. Geschieht das, weil unsere Regierungen, ohne es öffentlich zuzugeben, die Aktivitäten von WikiLeaks als genauso staatsgefährdend einstufen wie die Amerikaner? Oder treibt uns schlichtweg die Angst vor dem Zorn des großen Bruders in Washington, die uns zu willfährigen Erfüllungsgehilfen für eine Justizfarce werden lässt?

Die Causa Assange hat sich mittlerweile zu einem Skandal in drei Kategorien entwickelt:
(1) Das exorbitant hohe Strafmaß für das Betreiben einer Enthüllungsplattform bzw. die Beschaffung und Veröffentlichung sensibler Informationen
(2) Die übertriebene Härte der britischen Justiz
(3) Das Wegducken der westlichen Demokratien: Aus welchem Grund holt Australien seinen verlorenen Sohn nicht zurück nach Hause? Warum bemühen sich unsere europäischen Außen- und Justizminister nicht um die Freilassung von Assange? Weshalb schweigen sämtliche Regierungen?

Was man aus den beiden ähnlich gelagerten Fällen Assange und Snowden lernen kann, ist das hier:

Wir müssen akzeptieren, dass Whistleblower mutige Menschen sind, die ihren moralischen Kompass über Befehlsketten und dumpfen Gehorsam stellen. Die Informationen beschaffen und veröffentlichen in der ständigen Angst, dass sie aufgespürt, unbarmherzig verfolgt und hart bestraft werden. Allein dafür verdienen sie Respekt und eher Lob als Tadel. Und wir müssen begreifen, dass nicht jede von einer Regierung behauptete Staatsgefährdung tatsächlich eine reale Staatsgefährdung darstellt. Nicht selten geschieht es, dass Administrationen aufgrund der geleakten Texte ins Wanken geraten, weil ihre krummen Touren nun ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Kein Wunder, dass die Exekutive Whistleblower hasst und am liebsten lebenslang wegsperren möchte. Wir als 08/15-Bürger sollten jedoch froh sein, dass es couragierte Zeitgenossen wie Daniel Ellsberg, Mark Felt, Edward Snowden und Chelsea Manning gibt, deren Aktivitäten ausschlaggebend dafür waren, dass Megaskandale aufgedeckt wurden. Andernfalls wäre Nixon immer noch Präsident und würde das Dienst-Handy unserer Kanzlerin weiterhin ungestört vom US-Geheimdienst belauscht.

Und zum Schluss dieser Kolumne: Assange gehört umgehend auf freien Fuß gesetzt! (nein, man muss ihn nach wie vor nicht sympathisch finden, um das zu fordern).

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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