Der Tritt ins Gemächt

MC5s legendäres Debüt „Kick Out The Jams“ wird 50 Jahre alt. Sowohl für gängige Hörgewohnheiten als auch für Rassismus und Nationalismus war es ein Tritt ins Gemächt. Die aktuelle Hörmal-Kolumne von Ulf Kubanke


Detroit am 31.10. 1968: Der Grande Ballroom ist bis zum Bersten gefüllt. Noch fiel kein Ton. Doch die Anspannung in deren Schlepptau frohe Erwartung sich bereits zur Ekstase empor schraubt, macht dieser Halloween-Nacht schon jetzt alle Ehre. Die Setlist gehört an diesem Abend ganz und gar den Lokalmatadoren MC5. Der Saal ist nicht weniger als ihr Wohnzimmer. In etlichen „Battle of the Bands“-Gigs schlug man in der Gunst des Publikums bereits aufstrebende Acts wie Led Zeppelin und verwies sogar die Supergroup Cream in ihre Schranken. Dieser Abend steht nun von Beginn an in ihrem Zeichen. Der Mitschnitt des Konzerts erscheint im Februar 1969 als eines der außergewöhnlichsten und einflussreichsten Alben der populären Musikgeschichte. Auch ein halbes Jahrhundert nach Veröffentlichng klingt nichts hieran auch nur im Geringsten angestaubt.

Sänger Rob Tyner betritt die Bühne. Zur Einstimmung hält er dem aufgeputschten Publikum in wenigen Sätzen eine kurze Ansprache, deren Inbrunst einer schamanischen Predigt gleicht. Sie wirkt wie die Lunte zur Detonation. „Brüder und Schwestern, die Zeit ist gekommen, auf das ihr entscheidet, ob ihr Teil des Problems oder der Lösung sein wollt. Seid ihr bereit, Zeugnis abzulegen? Ich gebe euch ein Bekenntnis.“ Noch bevor das letzte Wort verklingt, bricht die Hölle los.

Ohrenbetäubender Donner, gemacht aus rotzigstem Garagenrock, schroffstem Blues, noisy Freejazz, psychedelischen Melodiebögen plus wilder Leidenschaft, umfängt die enthemmte Masse. Wer den ebenso mitreißenden wie bahnbrechenden Schock dieses Erleblisses nachempfinden möchte, vergegenwärtige sich dieses Soundgewitter aus Sicht der damaligen Gegenwart. Heavy Metal? Noch nicht auf der Welt! Harte Rabauken wie die Rolling Stones oder The Who klingen daneben fast handzahm. Hardrock der Marke „Born To Be Wild“ tönt im direkten Vergleich brav. Die Doors wirken mit ihren filigranen Kabinettstückchen wie Musterschüler in Ansehung dieser Letzte-Ausfahrt-Schrottplatz-Klangorgie. Sogar der ungezähmte Jimi Hendrix erscheint trotz aller Eruptionen aufgeräumt. Nur zwei Bands agieren in etwa auf ihrem Level an Rohheit: The Velvet Underground, mit denen MC5 auch auftraten, sowie die aus der Nachbarschaft stammenden Stooges um Iggy Pop. Doch während erstere bereits im Chaos der Trennung versinken und deren John Cale das Stooges-Debüt erst im Verlauf des Jahres 1969 produzieren wird, kommen MC5 über die Crowd wie ein Wirbelsturm aus glühendem Stahl, Fabrikgeruch und geronnenem Motorenöl.

Der Clou: Alles scheint auf den ersten Blick primitiv, ist es aber nicht. Man hört den 5 Musikern in jeder Sekunde spielerisches wie kreatives Talent an. Hinzu kommt ihre tief verwurzelte Eingespieltheit. Seit 1964 existiert die Band bereits, tüftelt am Plan, alle Rockgesetze zu eliminieren und klingt mittlerweile wie ein einzelner Organismus, ein Leviathan, dessen Einzelteile sich ebenso zu einer größeren Dimension zusammenfügen wie Detroits Fließbandsrücke zu Straßenkreuzern. Man höre nur, wie perfekt etwa Wayne Kramer und Fred Smith ihre Gitarren in konstantem Wechsel von Duett und Duell verflechten. Das Paradoxon: Einerseits gelten sie mit Berechtigung als Urknall des Punk- und Noiserock. Sex Pistols, Black Flag oder zahllose andere spätere Ikonen nehmen direkten Bezug auf sie. Andererseits ist ihre versierte, stilistische Vielfalt und komplexe Verwobenheit den oft amateurhaft schlichten Punkrocksongs ihrer Nachkommen weit überlegen. Schon allein der brillante Schlusspunkt „Starship“ – ein psychedelisches Monster – das Zeilen Sun Ras mit eigener Musik kombiniert – beweist, wie jenseits von jeglicher Schablone MC5 sich bewegten. Mehr grandioser Wahnsinn geht kaum.

Im Gegensatz zu vielen Kollegen des kommerziellen Flower-Power-Segments, war ihre aufbegehrende Positionierung keine leere Pose, sondern couragierte Haltung. Das deutlich hörbare „Motherfucker“ im Titelsong diente keiner ordinären Attitüde, sondern eingeforderter Freiheit des Wortes. Bei mehreren Gigs waren FBI und Cops anwesend, die hierauf lauerten, Konzerte abbrachen und die Künstler wegen „anstößigen Verhaltens in der Öffentlichkeit“ arrestierten. In einer zutiefst von Vietnamkrieg und Bürgerrechtsbewegung gespaltenen Gesellschaft stellte das Quintett sich deutlich auf die Seite von Friedensaktivisten und Afroamerikanern. So spielten sie oft ungenehmigte, bis zu acht Stunden dauernde Marathonsets auf entsprechenden Demonstrationen und zapften dafür den Strom von umherliegenden Imbissbuden ab. Der Dichter John Sinclair, selbst Libertin und Freigeist, führt ihnen den seit Gründung der Nation bestehenden Geburtsfehler vor Augen: Rassismus! Dieser Poet, gleichzeitig ihr Kumpel, Mentor und Manager, gründet mit ihnen die White Panther Party. Jene Partei fungierte als Sprachrohr gegen ethnische sowie religiöse Diskriminierng, Militarismus und Nationalismus. Bemerkenswert wie ethisch weit entwickelt diese Aktivisten waren. Umso mehr eingedenk der traurigen Tatsache, dass hierzulande heutzutage etliche für genau jene reaktionäre Sichtweisen auf die Straße gehen, die überwunden schienen und einem Weltbild anhängen, das exakt jenem Ungeist des selbst ernannten Herrenmenschen huldigt, den MC5 anprangerten.

Mitten im Aufstieg begann der freie Fall. Zwar chartete das Album trotz zahlreicher Händlerboykotte. Doch hinderte besonders die Weigerung der einflussreichen Ladenkette „Hudson’s“ ihre Verbreitung. MC5 reagierten kompromisslos. Sie schalteten eine ganzseitige Zeitungsanzeige mit deftigem „Fuck Hudson’s“. Ihr Label Elektra knickte ein, schnitt das „Motherfucker!“ aus etlichen Auflagen und feuerte die Combo kurzerhand. Ebenso kein Wunder, dass die White Panther sich im Fadenkreuz des FBI befanden. Kurz nach Veröffentlichng der LP fand die Staatsmacht den gewünschten Vorwand, das Kollektiv zu sprengen. Der Besitz von zwei Joints diente als Rechtfertigung für eine drakonische Gefängnisstrafe von 10 Jahren gegen Sinclair. Zwar gaben MC5 Benefizkonzerte, um Geld für Anwälte und Gerichtskosten zu sammeln. Letzteres blieb gleichwohl wirkungslos. Doch die Kunst schlug zurück. John Lennon nebst Gattin Yoko Ono lancierten ein „Free John Sinclair“-Konzert vor Ort, sangen ihren nach ihm benannten Song und machten das Fehlurteil Ende 1971 publik. Drei Tage später war Sinclair frei und rehabilitiert. MC5 jedoch konnten nicht mehr an ihren früheren Erfolg anknüpfen. Nach zwei gelungenen, aber wenig beachteten Studioplatten trennte man sich 1972.

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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