Fiktion der Nichteinreise

Im Zusammenhang mit den von Horst Seehofer Transitzentren genannten Abschiebeeinrichtungen fiel immer wieder der Begriff der Fiktion der Nichteinreise. Was ist das eigentlich?


Wenn ich im Rechtskundeunterricht zu ersten Mal das Wort Fiktion verwende, dann kichern die pubertierenden Schüler ähnlich, wie wenn im Matheunterricht vom gleichschenkligen Dreieck gesprochen wird. Wenn ich dann noch erläutere, dass das nichts mit Ficken zu tun hat, sondern vom lateinischen fingere stammt, wird das Gekichere nicht leiser. Nun ja, ich gönne denen ihren Spaß.

Als Fiktion bezeichnet man in der Rechtswissenschaft eine gesetzliche Anordnung, wonach tatsächliche oder rechtliche Umstände als gegeben zu behandeln sind, die in Wirklichkeit gar nicht vorliegen.

Gesetzliche Fiktionen

Wird jemand von einem anderen adoptiert, so wird er künftig rechtlich als Kind des adoptierenden Menschen behandelt. Das vorher bestehende Verwandschaftsverhältnis zu den leiblichen Eltern erlischt, obwohl sich biologisch überhaupt nichts geändert hat. Wie auch?

Erwirbt ein Geschäftsunfähiger, also jemand der wirksam gar keine Geschäfte abschließen kann, mit geringen Mitteln ein Eis oder kauft er eine Zeitung, zahlt gleich und bekommt die Ware sofort dann greift die Fiktion des § 105a BGB.

§ 105a Geschäfte des täglichen Lebens

Tätigt ein volljähriger Geschäftsunfähiger ein Geschäft des täglichen Lebens, das mit geringwertigen Mitteln bewirkt werden kann, so gilt der von ihm geschlossene Vertrag in Ansehung von Leistung und, soweit vereinbart, Gegenleistung als wirksam, sobald Leistung und Gegenleistung bewirkt sind. Satz 1 gilt nicht bei einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des Geschäftsunfähigen.

Ein unwirksamer Vertrag wird also rechtlich als wirksam angesehen, obwohl der Geschäftsunfähige gar keine wirksamen Verträge abschließen kann. Das ist eine kluge Regelung, weil der Geschäftsunfähige ansonsten nicht mal ein Brötchen kaufen könnte.

Eine weitere Fiktion betrifft den sogenannten Nasciturus. Das ist ein ungeborener bzw. genauer einer, der noch geboren werden wird. Stirbt dessen Erzeuger, während der Fötus noch im Bauch der Mutter weilt, also noch nicht geboren ist, dann könnte er eigentlich seinen Vater nicht beerben, da das Erbrecht nur lebende Menschen betrifft. Und als Mensch sieht das BGB jemanden erst ab seiner Geburt an. Um hier auch dem Gezeugten aber erst später Geborenen zu einem Erbrecht zu verhelfen, hat der Gesetzgeber in § 1923 Abs. 2 BGB dessen vorherige Geburt fingiert.

§ 1923 Erbfähigkeit

(1) Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.

(2) Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.

Auch im Handelsrecht gibt es die Fiktion des Schweigens als Zustimmung. Jemand der schweigt stimmt selbstverständlich nicht wirklich zu, weil er sich ja ggar nicht äußert, aber das Gesetz bestimmt dies für den Kaufmann – und nur für diesen in

§ 362 Handelsgesetzbuch

(1) Geht einem Kaufmanne, dessen Gewerbebetrieb die Besorgung von Geschäften für andere mit sich bringt, ein Antrag über die Besorgung solcher Geschäfte von jemand zu, mit dem er in Geschäftsverbindung steht, so ist er verpflichtet, unverzüglich zu antworten; sein Schweigen gilt als Annahme des Antrags. Das gleiche gilt, wenn einem Kaufmann ein Antrag über die Besorgung von Geschäften von jemand zugeht, dem gegenüber er sich zur Besorgung solcher Geschäfte erboten hat.

(2) Auch wenn der Kaufmann den Antrag ablehnt, hat er die mitgesendeten Waren auf Kosten des Antragstellers, soweit er für diese Kosten gedeckt ist und soweit es ohne Nachteil für ihn geschehen kann, einstweilen vor Schaden zu bewahren.

Gesetzliche Fiktionen sind also nichts Ungewöhnliches und vielleicht hat sich der Innenminister deshalb gedacht, man könne sich das leidige Problem von einreisenden Asylbewerbern ganz einfach mit einer weiteren gesetzlichen Fiktion erleichtern, der Fiktion der Nichteinreise.

Jeder Staat hat ein Staatsgebiet und auf diesem Staatsgebiet gilt das Recht des Staates. Das bedeutet, dass dieses Recht für jeden gilt, der dieses Staatsgebiet betreten hat. Jeder, der sich auf dem Gebiet Deutschlands befindet, unterliegt dem Schutz des Grundgesetzes. Damit sind eine ganze Reihe von Vorteilen verbunden. Wegen Art. 1 GG ist z.B. mit dem Ankömmling menschenwürdig umzugehen. Wenn jemand ihn wieder wegschicken will, warum auch immer, steht ihm wegen der Rechtswegsgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG der Rechtsweg offen.

Art 19

(1) Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muß das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muß das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.

(2) In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

(3) Die Grundrechte gelten auch für inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind.

(4) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen. Soweit eine andere Zuständigkeit nicht begründet ist, ist der ordentliche Rechtsweg gegeben. Artikel 10 Abs. 2 Satz 2 bleibt unberührt.

Das ist natürlich misslich, wenn man die Leute schnell wieder loswerden möchte. Und so kam die Idee der Fiktion der Nichteinreise ins Spiel.

Ich seh Dich einfach nicht

So wie kleine Kinder denken, es würde niemand sie sehen und als wäre niemand anders mehr da, wenn sie die Hände vor die Augen halten, so möchte man das auch mit dem Einreisewilligen tun. Er soll – obwohl er körperlich unzweifelhaft bereits da ist – fiktiv verschwinden, bis man ihn dann offiziell in das Land reinlässt oder auch nicht.

Um diese Fiktion dem Bürger irgendwie als etwas Normales zu verkaufen, wurde der Begriff des Transitzentrums erfunden. Das erinnert an die bekannten Transitbereiche an den Flughäfen und Überseehäfen in aller Welt. Ein Transitbereich ist bei internationalen Flughäfen der Bereich, von dem aus ein Umstieg auf ein weiteres Flugzeug zur Weiterreise in einen anderen Staat möglich ist, ohne dass man zuvor einer Einreisekontrolle in dem Staat unterworfen wird, in dem der Flughafen liegt.

Es wird im Transitbereich also gerade nicht kontrolliert, der normale Passagier – der ja auch gar nicht in den Staat des Flughafens einreisen, sondern gleich weiterfliegen möchte – soll nicht unnütz mit überflüssigen Kontrollen behelligt werden, da er ja gar nicht ins Land will.

An einem Flughafen ist das also eine sinnvolle Fiktion, die dem Reisenden dient. Aber natürlich wird er auch in der Transitzone z.B. ärztlich versorgt, wenn das nötig ist.

Auch im Asylrecht spielen diese Transitbereiche im Rahmen des sogenannten Flughafenverfahrens bereits seit längerer Zeit eine Rolle. Dieses Verfahren wird zur Zeit an den Flughäfen Frankfurt am Main, Hamburg, Berlin-Schönefeld, Düsseldorf und München durchgeführt und beruht auf § 18a Asylgesetz.

Es lohnt sich, die Vorschrift zu lesen, insbesondere im Hinblick auf die Idee, man könne den Einreisewilligen in Transitbereichen solange festhalten, bis über seinen Antrag entschieden wurde. In Abs. 6 heißt es dazu:

(6) Dem Ausländer ist die Einreise zu gestatten, wenn

1.

das Bundesamt der Grenzbehörde mitteilt, dass es nicht kurzfristig entscheiden kann,

2.

das Bundesamt nicht innerhalb von zwei Tagen nach Stellung des Asylantrags über diesen entschieden hat,

3.

das Gericht nicht innerhalb von vierzehn Tagen über einen Antrag nach Absatz 4 entschieden hat oder

4.

die Grenzbehörde keinen nach § 15 Abs. 6 des Aufenthaltsgesetzes erforderlichen Haftantrag stellt oder der Richter die Anordnung oder die Verlängerung der Haft ablehnt.

Es müsste also recht fix gehen, wenn man mit solchen Transitzentren hantieren will. Ob das möglich ist, wage ich zu bezweifeln. Und eines kann man – obwohl das wohl die Ansicht hinter der ganzen Idee der Fiktion der Nichteinreise zu sein scheint – nicht. Den Grundrechtsschutz der in diesen Zonen befindlichen Menschen komplett ausschalten, indem man rechtlich so tut, als wären sie gar nicht im Lande. Ein rechtliches Niemandsland gibt es nicht und man kann es auch nicht wirksam mit juristischem Abrakadabra herbeizaubern.

Droht dem Abzuweisenden in dem Land, in das er zurückgeschickt werden soll, eine Grundrechtsverletzung, dann muss er das auch geltend machen können. Mit der Fiktion der Nichteinreise kann ihm gerade nicht dieser elementare Schutz des GG entzogen werden. Man kann mit diesem Taschenspielertrick auch weder die Dublin-Verordnung, noch das sonstige europäische Recht außer Kraft setzen.

Nun ist die Fiktion der Nichteinreise auch nicht, wie man vielleicht denken könnte, eine Erfindung von Horst Seehofer, sondern basiert auf einer Vorschrift des Aufenthaltsgesetzes:

Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz – AufenthG)

§ 13 Grenzübertritt

(1) Die Einreise in das Bundesgebiet und die Ausreise aus dem Bundesgebiet sind nur an den zugelassenen Grenzübergangsstellen und innerhalb der festgesetzten Verkehrsstunden zulässig, soweit nicht auf Grund anderer Rechtsvorschriften oder zwischenstaatlicher Vereinbarungen Ausnahmen zugelassen sind. Ausländer sind verpflichtet, bei der Einreise und der Ausreise einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz gemäß § 3 Abs. 1 mitzuführen und sich der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zu unterziehen.

(2) An einer zugelassenen Grenzübergangsstelle ist ein Ausländer erst eingereist, wenn er die Grenze überschritten und die Grenzübergangsstelle passiert hat. Lassen die mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden einen Ausländer vor der Entscheidung über die Zurückweisung (§ 15 dieses Gesetzes, §§ 18, 18a des Asylgesetzes) oder während der Vorbereitung, Sicherung oder Durchführung dieser Maßnahme die Grenzübergangsstelle zu einem bestimmten vorübergehenden Zweck passieren, so liegt keine Einreise im Sinne des Satzes 1 vor, solange ihnen eine Kontrolle des Aufenthalts des Ausländers möglich bleibt. Im Übrigen ist ein Ausländer eingereist, wenn er die Grenze überschritten hat.

Klingt alles ganz simpel. Ist es aber nicht.

Denn da steht: „an einer zugelassenen Grenzübergangsstelle“. Es muss also nicht nur der Wagen eine Zulassung haben, mit dem ich nach Österreich fahre, nein: auch die Grenzübergangsstelle braucht ihre Zulassung. Sie muss im Bundesanzeiger veröffentlicht werden. Und wer da nun die letzten Jahrgänge durchblättert, der stellt fest: gibt’s ja gar nicht. Stimmt: Deutschland hat keine offiziellen Grenzübergangspunkte. Glauben Sie nicht? Ist aber so.

Das liegt daran, dass Deutschland auch keine Grenzen hat. Jedenfalls keine Grenzen im rechtlichen Sinne. Schon seit 1993 nicht mehr. Denn da hat die EU sich  auf eine gemeinsame Außengrenze geeinigt, um den Schengen-Raum herum, und die Binnengrenzen aufgehoben. Die sind seitdem ungefähr das Gleiche wie die Grenzen zwischen Bundesländern. Ausnahme sind deutsche Flughäfen: Da kann man von außerhalb der EU einreisen, da wird folglich eine EU-Außengrenze überquert. Deshalb gibt’s da ja auch, genau, Transitbereiche.

Im Gegensatz zu den Menschen, die aus einem anderen nichteuropäischen Land mit dem Flieger ankommen, die also die Außengrenze der EU überflogen haben und am Flughafen erstmals EU-Gebiet betreten, kommen diejenigen, die über den Landweg nach Deutschland kommen, über eine Binnengrenze innerhalb des Schengenraums. Ob auf diese Menschen überhaupt eine ähnliche Regelung wie das Flughafenverfahren angewendet werden kann, ist mehr als zweifelhaft. Die Asylverfahrensrichtlinie der EU sieht Transitzonen nämlich nur an Außengrenzen vor. Die Idee, ein einseitiges nationales Grenzregime einzuführen, verkennt, dass Deutschland seit dem Schengen-Abkommen keine Hoheit mehr über die Binnengrenzen hat und solche Grenzkontrollen nur bei ganz eng bestimmten Ausnahmefällen, jedenfalls nicht flächendeckend und regelmäßig zulässig sind. Und da es damit an den Binnengrenzen der EU rechtlich keine Transitzentren geben kann, greift auch die Fiktion der Nichteinreise an den Binnengrenzen nicht.

Das schließt natürlich nicht aus, dass man mit einzelnen Staaten bilaterale Abkommen zur Rücknahme von Personen vereinbaren kann, die bereits ein laufendes Asylverfahren in einem anderen EU-Land haben, aber bis es diese Verträge gibt, kann noch viel Zeit vergehen und solange wird gar nichts geschehen. Sollten Menschen länger als 48 Stunden an den Binnengrenzen festgehalten werden, wird der Europäische Gerichtshof mit hoher Wahrscheinlichkeit zu dem Schluss kommen, dass dies europarechtswidrig ist.

Was auch immer der Innenminister mit seinem koalitionsgefährdenden Gepolter erreichen wollte, er hat unter dem Strich außer einer Schwächung der Koalition und einer Einführung von AfD-Begriffen in das politische Vokabular nichts erreicht. Jetzt könnte er endlich damit beginnen, die notwendigen Verhandlungen mit den EU-Partnern zu beginnen. Die werden seinen üblichen Rücktrittsdrohungen allerdings nur ein müdes Lächeln abgewinnen können. Wer selbst die nationale Karte spielen will, darf sich nicht wundern, wenn die bewunderten Hardliner in anderen Staaten genau das selbe machen.

Des wead nix Gscheids ned!

Sollte es Seehofer und seinen CSU-Kollegen darum gegangen sein, die Wähler in Bayern von der Wirkmächtigkeit ihrer politschen Kraft zu überzeugen, so mag das kurzfristig die Stammtische beeindrucken. Nach kurzer Zeit wird aber auch der Letzte merken, dass die großartigen neuen Masterplankleider des Bayerischen Königs nur die Fiktion von neuen Kleidern waren und er nackt und mit leeren Händen aus dem Kampf um Berlin gekommen ist. Dann werden sie nicht der CSU ihre Stimme geben, sondern gleich den härteren Stoff wählen. Und das darf sich dann das Trio Seehofer, Söder und Dobrindt zu Recht anrechnen lassen.

 

 

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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