Hitlers Machtergreifung aus der Sicht eines kommunistischen Dissidenten

Die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, die vor 85 Jahren erfolgte, stellte für viele Beobachter von damals eine gänzliche Überraschung dar. Die durchschlagenden politischen Erfolge der NSDAP in den 1930er Jahren waren eng mit der Fehleinschätzung dieser politischen Kraft sowohl durch ihre Gegner als auch durch ihre Verbündeten verknüpft. Zu den wenigen Analytikern der damaligen Zeit, die das Ausmaß der nationalsozialistischen Gefahr rechtzeitig erkannten, gehörte der kommunistische Dissident und unbeugsame Widersacher Hitlers – Lew Trotzki. Seinen Warnungen und Prognosen ist diese Kolumne gewidmet.


Die Warnung vor der nationalsozialistischen Gefahr

Trotzki – neben Lenin zweifellos der bedeutendste Akteur der bolschewistischen Revolution – beobachtete aus seinem Exil auf der türkischen Insel Prinkipo, wie konsequent die Nationalsozialisten die Machtergreifung in Deutschland anstrebten. Verärgert über seine Ohnmacht musste Trotzki zusehen, wie die Gegner der Nationalsozialisten die gleichen Fehler begingen, die die Gegner der Bolschewiki im Jahre 1917 begangen hatten.

Die Nationalsozialisten waren tatsächlich in der Ausnützung der Ohnmacht des demokratischen Staates und der Kopflosigkeit ihrer Konkurrenten den Bolschewiki ebenbürtig. Auch die demagogischen Erfolge der Nationalsozialisten waren nicht geringer als die der Bolschewiki im Jahre 1917.

Ein anderes Element der nationalsozialistischen Taktik, das an die bolschewistische Taktik des Jahres 1917 in gewisser Weise erinnerte, war die eigentümliche Mischung legaler und illegaler Mittel im Kampfe um die Macht. Diese Tatsache beunruhigte Trotzki aufs Äußerste. Nicht nur die SPD, sondern auch die KPD vertrauten auf die verfassungsmäßige Ordnung und glaubten, Hitler werde den Machtkampf nur auf legalem Wege fortsetzen. Demgegenüber war Trotzki davon überzeugt, dass Hitler früher oder später das Schwergewicht seines Kampfes um die Macht auf die außerparlamentarische Ebene verlagern werde.

Die Nationalsozialisten würden bei den Wahlen niemals eine absolute Mehrheit erreichen, sagt Trotzki im Dezember 1931 voraus. Es sei auch unvorstellbar, dass ihre Wählerzahl ununterbrochen wachsen würde. Früher oder später müsse sich ihr soziales Reservoir erschöpfen. Auf demokratischem Weg werde also der Nationalsozialismus nicht imstande sein, an die Macht zu kommen. Deshalb werde Hitler sicher versuchen, durch einen Staatsstreich die Regierungsgewalt an sich zu reißen. Hitlers demokratische Reden seien nur eine Kriegslist. Er wolle damit seine Gegner einschläfern, um ihnen im entscheidenden Moment den Todesstoß zu versetzen.

Trotzki hat allerdings die Möglichkeit eines nationalsozialistischen Staatsstreiches auch für den Fall vorausgesagt, dass die herrschenden Gruppierungen der NSDAP die Regierungsverantwortung freiwillig überlassen würden. Der Staatsstreich werde in diesem Fall lediglich zeitlich verschoben werden und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme stattfinden. Die NSDAP könne nicht mit dem Parlament und im Rahmen der Verfassung regieren. Die Vernichtung aller anderen politischen Parteien, in erster Linie aber aller Arbeiterorganisationen, sei unerlässliche Voraussetzung einer nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland.

Man kann Trotzki vieles vorwerfen, eines aber nicht: Er hat den Nationalsozialismus nicht unterschätzt.

Kritik an der Taktik der Komintern und der KPD

Die theoretischen und taktischen Fehler der Stalinisten in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wurden von Trotzki mit außerordentlicher Schärfe verurteilt. Besonders heftig wandte er sich in den Jahren 1930-33 gegen die Verharmlosung des Nationalsozialismus durch die Kominternführung. Diese Verharmlosung könne katastrophale Folgen für die Kommunisten haben, hob Trotzki immer wieder hervor.

Die Kominternführung sei bisher weder imstande gewesen, etwas vorauszusehen, noch etwas zu verhindern, schreibt Trotzki im November 1931. Nach vielen kleineren Fehlern riskiere nun die Komintern einen Kapitalfehler zu begehen, der sie für unabsehbare Zeit als politischen Faktor ausschalten könne.

Trotzki weist wiederholt darauf hin, dass durch die sinnlose Ausdehnung des Begriffs „Faschismus“ auf beinahe alle nicht­kommunistischen Kräfte in Deutschland, die  Komintern automatisch zu einer Unterschätzung des Nationalsozialismus kommen müsse.

Die gewaltigen Unterschiede zwischen „bürgerlicher“ Demokratie und „faschistischer“ Diktatur, die für die Arbeiterbewegung von existentieller Bedeutung seien, würden von den  Stalinisten als belanglos angesehen. Unzählige Arbeiterorganisationen, die in den demokratischen Ländern legal existierten, würden nach der faschistischen Machtübernahme verboten und vernichtet werden. Dies sei jedoch für die Stalinisten kein ausreichender Beweis für die Kluft, die zwischen einer parlamentarischen Demokratie und einem faschistischen Regime bestehe.

In seiner Schrift „Was nun?“ vom Januar 1932 schreibt Trotzki:

Ob Brüning besser ist als Hitler, …diese Frage interessiert uns …wenig. Es genügt aber, die Liste der Arbeiterorganisationen anzusehen, um zu sagen: in Deutschland hat der Faschismus noch nicht gesiegt.

Eine faschistische Massenbewegung könne nur dann ihr wahres Wesen enthüllen, wenn sie die Kontrolle über den Staatsapparat erlangt habe, betont Trotzki. Diese Entwicklung müsse um jeden Preis verhindert werden. Allerdings seien die Stalinisten, die sowohl den konservativen Staatsapparat wie auch die „faschistischen“ Massenbewegungen in die gleiche Kategorie – „Faschismus“ – einordnen, kaum in der Lage, wirksame Maßnahmen dagegen zu ergreifen.

Mit äußerster Schärfe kritisiert Trotzki die sogenannte „Sozialfaschismus„-Theorie der Stalinisten, die sich in der Komintern bereits Ende der 1920er durchgesetzt hatte. Die Gleichsetzung der Sozialdemokratie mit dem Faschismus sei typisch für den stalinistischen „Vulgärradikalismus“, schreibt Trotzki im Januar 1932. Dies sei eine sinnlose Konstruktion. Ihre einzige Kraft beziehe sich daraus, dass niemand ihr widersprechen dürfe.

Das einzige Mittel, das die nationalsozialistische Machtergreifung verhindern könnte, ist für Trotzki eine gemeinsame Front von KPD und SPD. Die stalinistische Führung erkenne aber nur eine Art der Einheitsfront an – eine solche, in der alle anderen Parteien den Befehlen der Kominternführung bedingungslos gehorchten. Nur eine Ablösung der stalinistischen Führung der Komintern und der KPD könne die Katastrophe in Deutschland abwenden, hebt Trotzki hervor.

Die Kritik an der SPD

Nicht nur die Taktik der Komintern, sondern auch die der SPD unterzieht Trotzki einer schonungslosen Kritik.

Die Kritik, die Trotzki gegen die SPD richtet, ist seiner Kritik an der KPD gerade entgegengesetzt. Während er der Taktik der KPD eine zu starke Radikalität vorwirft, prangert er die Taktik der SPD wegen ihrer übertriebenen Staatsfrömmigkeit an. Die SPD glaube nicht, dass die Faschisten sich entschließen könnten, von Worten zu Taten überzugehen, schreibt er im Januar 1932. Sie schließe aus ihrem eigenen Verhalten auf das Verhalten der Faschisten. Sie habe bisher immer selbst Angst vor entschlossenen Taten gehabt und meine, dass auch den Faschisten eine solche Unentschlossenheit eigen sei. Für den Fall einer wirklichen Gefahr allerdings setze die SPD ihre Hoffnung auf die preußische Polizei, auf die Reichswehr und auf die Verfassungstreue des Reichspräsidenten. Diese Hoffnung sei jedoch trügerisch. Die SPD – eine Millionenpartei – wolle, dass die Beamten des Staates sie vor einer anderen Millionenpartei schützten. Auf diesen Hilferuf der SPD, so Trotzki, würden die deutschen Beamten wahrscheinlich folgendermaßen reagieren:

Hinter der Sozialdemokratie stehen Millionen; in ihren Händen hält sie ungeheure Mittel…, es geht um ihre eigene Haut… und nichtsdestoweniger wenden sich die allmächtigen Herren an mich, den Beamten, sie vor dem Angriff einer anderen Millionenpartei zu retten, deren Führer morgen meine Vorgesetzten werden können: schlecht muss es um die Herren Sozialdemokraten bestellt sein, ganz hoffnungslos …Es ist die Zeit für mich, den Beamten, an meine eigene Haut zu denken.

Trotzki verurteilt also die Passivität der deutschen Sozialdemokraten und ihre Unfähigkeit, in Krisenzeiten den skrupellosen Gegner ohne Rücksicht auf parlamentarische Gepflogenheiten zu bekämpfen.

Alle diese Eigenschaften, die Trotzki bei den deutschen Sozialdemokraten so scharf anprangert, waren auch für die russischen Sozialdemokraten und Sozial-Revolutionäre charakteristisch gewesen. Dies hatte den Bolschewiki im Jahre 1917 die Machteroberung erleichtert.

Unmittelbar nach dem bolschewistischen Staatsstreich vom Oktober 1917 hatte Trotzki die sozialdemokratischen Gegner der Bolschewiki in einer Rede voller Hohn und Verachtung auf den Kehrichthaufen der Geschichte verwiesen. 13 Jahre später sah er im Bündnis mit einer Bewegung, die er so überheblich von der politischen Bühne Russlands vertrieben hatte, den einzigen Weg für die Kommunisten, einen nationalsozialistischen Sieg zu verhindern.

Diesmal kam die Hilflosigkeit der Sozialdemokraten bei der Konfrontation mit einem rücksichtslosen Gegner nicht den Kommunisten, sondern den Nationalsozialisten zugute.

Nach der Machtergreifung wiederholte Hitler übrigens fast wortwörtlich die Worte Trotzkis über die endgültig ausgespielte Rolle der Sozialdemokratie. Er schloss allerdings in seine Feststellung auch die Kommunisten ein.

Der Glaube an die Kraft des deutschen Proletariats

Obwohl Trotzki die Gefährlichkeit der nationalsozialistischen Bewegung so deutlich erkannt hatte, entging auch er der Tendenz vieler Marxisten zur Fehleinschätzung des Nationalsozialismus nicht. Er bezeichnete die Wähler und die Anhänger der NSDAP als menschlichen Staub, der beim Ausbruch eines Bürgerkrieges von den proletarischen Verbänden mühelos fortgeblasen werden würde.

Die Fehleinschätzung des Nationalsozialismus durch Trotzki ergab sich in erster Linie aus seiner Definition des Nationalsozialismus als einer „kleinbürgerlichen Bewegung“. Kleinbürgerlich war für Trotzki wie für viele andere Marxisten ein Synonym für „widersprüchlich“, „unbeständig“ und „selbstbetrügerisch“.

Im Nationalsozialismus sei alles so widerspruchsvoll und chaotisch wie in einem Fiebertraum, schreibt Trotzki in seinem Artikel „Das deutsche Rätsel“ vom August 1932. Diese Partei nenne sich sozialistisch, führe aber gleichzeitig einen terroristischen Kampf gegen sozialistische Organisationen, sie attackiere das „Kapital“, lasse sich aber von ihm aushalten. Sie verneige sich vor der deutschen Tradition, ahme aber zugleich den lateinischen Cäsarismus nach. Das ganze Universum sei nun in den Köpfen der Kleinbürger eingestürzt, die vollends aus dem Gleichgewicht geraten seien.

Der Glaube Trotzkis an die Kraft des deutschen Proletariats, das im Falle eines Bürgerkrieges die inneren Schwächen der kleinbürgerlichen Hitlerbewegung aufdecken werde, blieb bis zum Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 ungebrochen. Auf diesem Glauben gründete seine illusionäre Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte des bürgerlichen und des proletarischen Lagers in Deutschland. Das Gleichgewicht im Kräfteverhältnis der feindlichen Klassen gebe Staatsapparat und Reichswehr die Rolle eines Schiedsrichters, meint Trotzki. Diese Verselbständigung der Exekutive vergleicht Trotzki mit der des Regimes Louis Bonapartes in Frankreich, wie sie Marx in seinem Traktat „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ beschrieb.

Ein solches bonapartistisches Regime verfüge über keine Massenbasis, besitze keine Mehrheit im Parlament und sei daher gezwungen, sowohl das Parlament als auch die politischen Parteien aus der politischen Mitverantwortung zu verdrängen, schreibt Trotzki. Die Verhinderung eines Bürgerkrieges und die Bewahrung der bestehenden Ordnung seien die Hauptaufgaben des „Bonapartismus“. Das bonapartistische Regime dürfe jedoch nicht mit dem „Faschismus“ gleichgesetzt werden, setzt Trotzki seine Ausführungen fort. Dies sei eine Diktatur im traditionellen Stil, da sie sich nicht auf eine volkstümliche Massenbewegung stütze.

Trotzki glaubt allerdings nicht an die Dauerhaftigkeit eines solchen Regimes in Deutschland. Entweder ein Bürgerkrieg oder – im Falle des Versagens der deutschen Arbeiterparteien – eine friedliche Machtübernahme der Nationalsozialisten würden den deutschen „Bonapartismus“ ablösen. Im Gegensatz zu vielen Beobachtern von damals vertraute Trotzki nicht auf die Allmacht der Reichswehr:  mit hunderttausend Mann könne man eine zerrissene Nation von 65 Millionen nicht regieren, sagte er im August 1932.

Trotzkis Reaktion auf die nationalsozialistische „Machtergreifung“

Anders als die Kominternführung wurde Trotzki von der Machtergreifung Hitlers nicht überrascht. Er hatte sie schon seit Jahren als möglich vorausgesehen. Sogar die Form dieser „Machtergreifung“ – die freiwillige Übergabe der Regierungsverantwortung an Hitler durch die herrschenden Gruppierungen in Deutschland – wurde von Trotzki, wie bereits erwähnt, als politische Eventualität vorausgesagt.

Die weitgehende Widerstandslosigkeit, mit der die deutsche Arbeiterbewegung den Aufstieg Hitlers zur Macht hingenommen hatte, kam für Trotzki allerdings völlig unerwartet.

Die Bolschewiki, die ähnlich wie die Nationalsozialisten relativ leicht die Macht in Russland erobert hatten, mussten später diese Macht in einem dreijährigen zermürbenden Bürgerkrieg verteidigen. Die deutschen Arbeiterparteien dagegen kapitulierten vor Hitler  beinahe kampflos. Diese katastrophale Niederlage empfand Trotzki persönlich als Tragödie. Er nannte sie im Juni 1933 die größte Niederlage in der Geschichte der Arbeiterbewegung.

Das Versprechen der KPD, sie werde den revolutionären Kampf gegen den Faschismus auch in der Illegalität fortsetzen, kommentierte Trotzki im April 1933 folgendermaßen: Die stalinistische KPD, die in der Legalität völlig versagt hätte, werde in der Illegalität genauso versagen.

Nationalsozialistische Außenpolitik

Die außergewöhnliche Gefahr, die nach der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland für die Sowjetunion entstehen werde, sagte Trotzki sehr früh voraus. Auch hier erwies er sich als viel weiterblickend denn die stalinistische Kominternführung.

So hielt er z.B. die damalige Angst der sowjetischen Führung vor Japan für übertrieben. Im Oktober 1931 schrieb er, die Sowjetunion werde von Seiten der Japaner keineswegs akut bedroht. Eine wesentlich größere Gefahr könne sich für die Sowjetunion aus den Entwicklungen in Deutschland ergeben.

Nur ein „faschistisches“ Deutschland könne es wagen, einen Krieg gegen die Sowjetunion anzufangen, um dadurch seine unlösbaren innenpolitischen Probleme zu verdrängen, schrieb Trotzki Mitte 1932. Die demokratischen Westmächte selbst seien nicht bereit, sich in ein solches Abenteuer zu stürzen, die unmittelbaren Nachbarn der Sowjetunion seien zu schwach dafür und das faschistische Italien sei zu weit von der Sowjetunion entfernt. Nur das nationalsozialistische Deutschland könne die sogenannte „Mission der Befreiung der europäischen Zivilisation von der bolschewistischen Barbarei“ übernehmen.

Trotzki rät der sowjetischen Regierung, sofort, nachdem sie die Nachricht von einer nationalsozialistischen Machtergreifung erhalten haben werde, eine Teilmobilmachung der Roten Armee anzuordnen.

Diese Warnungen Trotzkis wurden von der Führung der Komintern scharf zurückgewiesen. Auf dem 12. Plenum des Exekutivkomitees der Komintern im September 1932 bezeichnete einer der Kominternführer, Otto Kuusinen, derartige Äußerungen Trotzkis als Provokationen. Trotzki wolle, dass die Sowjetunion sich unnötig ins außenpolitische Abenteuer stürze und ihre Sicherheit aufs Spiel setze.

Trotzki „provozierte“ allerdings mit seinen Warnungen nicht nur die stalinistische Führung, sondern auch die Regierungen der Westmächte.

Bereits einige Monate nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ erkannte er nämlich, dass das eigentliche außenpolitische Ziel des Nationalsozialismus nicht der Krieg gegen die Sowjetunion, sondern die Weltherrschaft war. Deshalb, so folgerte er, werde sich Hitler früher oder später auch gegen den Westen wenden.

Trotzki befürchtete, dass Hitler jetzt mit der gleichen Überrumpelungstaktik, die er in Deutschland angewendet hatte, einen Siegesmarsch im weltpolitischen Maßstab beginnen würde.

Die außenpolitischen Gegner Hitlers begingen nun die gleichen Fehler wie ihre deutschen Leidensgenossen, schreibt Trotzki im Juni 1933. Hitler werde auch von ihnen unterschätzt. Den friedfertigen Reden Hitlers werde in Europa ähnlich wie in Deutschland vor 1933 Glauben geschenkt. Hitler benutze indessen seine Friedensangebote lediglich zur Einschläferung seiner Gegner, um sie danach umso leichter überwältigen zu können.

Der Verfasser dieser Zeilen hält sich nicht im geringsten für berufen, vor dem Versailler Vertrag Wache zu stehen“, schreibt Trotzki:  „Europa braucht eine Neuorganisation. Aber wehe ihm, wenn diese Sache dem Faschismus in die Hände fällt.

Die westliche Appeasementpolitik gegenüber Hitler sagte Trotzki sehr früh voraus. Die Westmächte seien dem Trugschluss erlegen, dass die nationalsozialistische Expansion sich vor allem gegen den Osten richten werde. Aus diesem Grunde würden sie die Wiederaufrüstung Deutschlands nicht verhindern.

Trotzki über Hitler

Die Erkenntnis, dass Hitler eine außergewöhnliche Bedrohung für Europa darstellte, war bei Trotzki mit Geringschätzung und Verachtung für Hitler als Person gemischt. Als Marxist verachtete Trotzki die „unwissenschaftliche“, „verworrene“ und „absurde“ Weltanschauung Hitlers. Als ein vielseitig gebildeter Intellektueller teilte Trotzki die Einstellung vieler anderer Intellektueller, die Hitler unterschätzten, weil er ein primitiver und halbgebildeter Autodidakt war.

Es gab allerdings noch einen zusätzlichen Grund für die Geringschätzung, die Trotzki Hitler gegenüber hegte.

Als Held der russischen Revolution, des Bürgerkrieges und der kommunistischen Weltbewegung gehörte Trotzki zu den Persönlichkeiten, die eine Zeitlang so gefeiert wurden, wie nur wenige Menschen seiner Zeit.

Die politische Entwicklung verlief indessen derart, dass Trotzki zunächst von einem primitiven Autodidakten, nämlich Stalin, geschlagen und ins Exil getrieben worden war; anschließend musste er passiv zusehen, wie ein anderer skrupelloser Autodidakt – Hitler – die absolute Macht in dem Lande erreichte, das von Trotzki zum Schlüssel der Weltpolitik und der Weltrevolution erklärt worden war.

Trotzki konnte sich nicht damit abfinden, dass man die erstaunlichen Erfolge Stalins und Hitlers auf die persönlichen Qualitäten dieser beiden Politiker, die er so sehr verachtete, zurückführte. Im Juni 1933 schrieb er Folgendes über Hitler:

Die Erörterungen über die Persönlichkeit Hitlers sind um so hitziger, je mehr man das Geheimnis seines Erfolges in ihm selber sucht. Doch ist es schwerer, eine andere politische Gestalt zu finden, die in einem solchen Maße Knoten unpersönlicher geschichtlicher Kräfte wäre.

Als Trotzki dies schrieb, war Hitler bereits Herrscher über die größte Industriemacht Europas. Trotzdem wollte Trotzki in dem deutschen Diktatoren nicht den Gestalter einschneidender politischer Ereignisse sehen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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