Was hilft gegen Suizide?

Robin Urban hat mehr Kassensitze für Therapeuten gefordert, damit sich in Deutschland nicht mehr jedes Jahr 10.000 Menschen das Leben nehmen. Eine Gegenrede von Jörg Friedrich


Vom deutschen Gesundheitswesen, insbesondere vom Umgang der Krankenkassen mit Menschen, die an Depressionen leiden, wurde in einem Gastbeitrag von Robin Urban vor einigen Tagen hier ein düsteres Bild gezeichnet. Am Ende gewinnt man beim Lesen des Textes den Eindruck, dass die Krankenkassen Jahr für Jahr tausende Menschen geradezu in den Suizid treiben würden. Solche Beiträge erwecken am Ende immer den Eindruck, dass wir in einer unmenschlichen Gesellschaft leben, die den Hilfebedürftigen grundsätzlich nicht beisteht. Anlass für ein paar kritische Nachfragen.

Um es vorweg zu sagen: Was mich an Robin Urbans Text am meisten irritiert, ist nicht das, was drin steht, sondern das, was gerade nicht darin zu finden ist. Die Logik des Schreibens erfordert es, dazu erst am Ende etwas zu sagen. Wem der Text zu lang ist, der sollte gleich zum letzten Abschnitt springen.

Wer mit Zahlen spielt…

Robin Urban führt erschreckende Zahlen ins Feld, und auch wenn Zahlen eigentlich unwichtig sind, wenn es um Menschenleben geht (jedenfalls tun wir gern so, doch dazu später), müssen sich diese Zahlen eine kritische Prüfung gefallen lassen.

Richtig ist wohl, dass sich in Deutschland jährlich etwas mehr als 10.000 Menschen das Leben nehmen. Ist das viel? Insgesamt sterben in Deutschland jährlich fast eine Million Menschen, das ist ganz normal, wir sind ein Volk von 80 Millionen und werden so um die 80 Jahre alt. Nun kann man sagen, dass manche eben zur rechten Zeit sterben und manche viel zu früh, und zum vergleichenden Zahlenspiel taugen natürlich nur die zu früh gestorbenen. Aber da geht das Drama schon los, denn wenn man sich die Todesursachen so ansieht, dann scheinen in Deutschland irgendwie alle Menschen an Krankheiten zu sterben, die man bekämpfen könnte. Und da gibt es offenbar auch eine Reihe von Krankheiten, an viel mehr Menschen sterben als an denen, die Grund für einen Suizid sein können.

Womit wir bei der nächsten Frage sind: Aufgrund welcher Ursachen bringen sich Menschen hierzulande um? Der Beitrag von Robin Urban erweckt den Eindruck, dass 90% der Suizide durch Depression verursacht sind. Exakt gesagt wird das nicht, aber wenn man den Text unkritisch liest, drängt sich diese Zahl auf, wenn man liest: „Und 90% dieser Suizide betreffen Menschen mit psychischen Erkrankungen.“

Woher kommt diese Zahl? Robin Urban selbst verweist auf einen Medienguide der Deutschen Depressionshilfe. Dort steht allerdings etwas anderes:

Suizide erfolgen fast immer im Rahmen einer Depression oder einer anderen psychiatrischen Erkrankung (Alkohol-, Drogen-Abhängigkeit, Schizophrenie). Bei 90 Prozent der Suizidfälle in Deutschland gehen solche Erkrankungen voraus.

Klingt so ähnlich, ist aber nicht das gleiche. Leider gibt die Deutsche Depressionshilfe keine Quelle an. Recherchiert man weiter, findet man eine Metastudie, die weltweit 3275 Suizide erfasst hat und zu dem Ergebnis kommt, dass in 87,3% der Fälle vor dem Tod eine „mentale Störung“ diagnostiziert worden ist. Liest man weiter, erfährt man, dass eine Depression in 467 Fällen diagnostiziert worden ist, das sind 14%. Selbst wenn wir alle affektiven Störungen zusammennehmen, kommen wir nicht auf 90%, sondern auf 36%. Alkohol- und andere Suchtprobleme werden bei etwa genauso vielen Suiziden diagnostiziert – und auch die fallen unter die „mentalen Störungen“. Am Ende kann man es auch umgekehrt sehen und etwas lax sagen: Klar hat fast jeder, der sich umbringt, irgendein mentales Problem, wenn er es nicht hätte, würde er sich ja nicht umbringen. In unserer heutigen Gesellschaft jedenfalls wird der Suizid als etwas angesehen, was sich eigentlich gar nicht anders verstehen lässt als unter der Annahme, dass die betreffende Person irgendein Problem „im Kopf“ hat.

Aber jeder ist doch einer zu viel!

Nun kann man sagen, dass diese Zahlenspielereien doch ganz unwichtig sind, denn jeder Tote ist doch einer zu viel, also muss man doch etwas dagegen tun! Generell formulieren wir diesen Anspruch ja gern, aber konkret, wenn es an die Krankenkassenbeiträge geht, die wir zu zahlen haben, dann sieht die Sache irgendwie anders aus. Denn alle Leistungen, die die Kassen erbringen, müssen bezahlt werden. Wenn die Kassen durch die von Robin Urban geforderten zusätzlichen Kassensitze dafür sorgen würde, dass jede Person, die vermutet, an einer Depression zu leiden, umgehend einen Therapeuten aufsuchen kann, schnellstmöglich auch einen zweiten oder einen dritten, dann müssen die Kassen dafür auch zusätzliches Geld in die Hand nehmen. Dafür müssen sie dann eben woanders sparen oder die Beiträge erhöhen.

Jeder, der nach dem Lesen des Beitrags von Robin Urban entrüstet ist über die Unmenschlichkeit der Krankenkassen, sollte innehalten und sich selbst fragen, wo das Geld, was da zusätzlich gebraucht wird, denn gespart werden soll: Bei der Brustkrebsvorsorge? Bei Aufklärungsprogrammen zum Drogen- und Alkoholkonsum? Bei der Ausstattung der Unfallchirurgien? Bei der Weiterbildung der Haus- und Fachärzte? Dazu sollte man dann auch bedenken, dass es gerade im Gesundheitswesen viele Forderungen und viel Kritik gibt, an den verschiedensten Stellen. Die Behebung jedes Schwachpunktes würde Geld kosten. Welchen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge sind wir, in Form von Sozialbeiträgen, zu zahlen bereit?

Was fehlt: Die Alternativen

Und damit komme ich zu dem Punkt, der mich am Meisten an Robin Urbans Text gestört hat: Mit keinem Wort wird darin die Gemeinschaft erwähnt, die soziale Umgebung, die Menschen im Umfeld, die helfen könnten und gern unterstützen würden. Der depressive Mensch ist bei Robin Urban allein und auf sich gestellt, der einzige, der helfen kann und helfen soll, ist der Staat oder die Krankenkasse als anonyme Behörde, die staatlicherseits zu zusätzlichen Leistungen gezwungen werden müsste.

Aber was ist mit den anderen Menschen? Was ist mit Freunden und der Familie? Sie existieren bei Robin Urban gar nicht. Das ist merkwürdig, denn gleichzeitig wendet sie sich doch an andere, an uns Leser nämlich, damit wir uns gemeinsam mit ihr über die Missstände in den Institutionen empören. Die Solidarität, die in solchen Texten erwarten wird, ist keine praktische, in der wir konkret unterstützen könnten, sondern eine fordernde, die den Staat dazu bringen soll, etwas zu tun.

Natürlich kann ein einfühlsames Gespräch unter Freunden für einen Menschen, der an einer Depression leidet, nicht den professionellen Therapeuten ersetzen. Aber Robin Urban schreibt ja auch von den Schwierigkeiten, die ein depressiver Mensch hat, bei der Suche nach dem richtigen Therapeuten durchzuhalten. Wäre es nicht eine naheliegende Forderung an die Menschen in der Umgebung, dabei zu helfen? Sollten wir nicht vor allem dafür sensibel werden, da unsere Verantwortung für den kranken Menschen in der Familie, im Freundeskreis oder unter den Kollegen wahrzunehmen, statt abstrakte Forderungen an Krankenkassen zu stellen?

Schließlich: Auch wenn Freunde und Verwandte den Ausbruch einer Depression vielleicht nicht verhindern können, so können sie doch Gründe liefern, am Leben zu bleiben. Indem sie den Wert des Lebens erlebbar machen, indem sie den Depressiven nicht allein lassen, indem sie ihn beharrlich in ihrer Mitte halten. Indem sie einfach da sind.

Nachdem wir Texte wie den von Robin Urban gelesen haben, schimpfen wir vielleicht über die unmenschlichen Krankenkassen, wir fordern vom Staat, dass er sich kümmert, dass er mehr tut für die Betroffenen. Damit meinen wir, haben wir genug getan. Aber in Wahrheit haben wir damit nichts getan.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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