„Ein Stein allein oder Die Liebe in den Zeiten der Proll-Ära“ – Eine Kolumne für Mick Jagger

Die Hörmal-Kolumne Ulf Kubankes dreht sich diesmal um Mick Jaggers neue Songs, mediale Verwirrung und die Highlights seiner Solo-Karriere.


„Play upon your heart strings to me
I will sing a strange melody“
(Mick Jagger 1993)
Mick Jagger schenkt sich und uns zum 74. Geburtstag zwei neue Songs. Zählt man die Remixe von trendy Musikern der aktuellen Generation hinzu, ist es sogar eine Handvoll Tracks geworden. Allemal ein guter Anlass, neben einer Beleuchtung des neuen Materials ebenso die Solo-Diskografie des Rolling Stones-Bosses in Augenschein zu nehmen.
Erstmals in seinem Solo-Werk singt Jagger explizit politische Zeilen. Entsprechend groß sind Verwirrung und Irritation in Teilen der Medien. Sogar unappetitliche Blogs aus dem Gleisdreieck „Reichsaluhut/AFD-Groupie/trumpy Putinisten“ beeilen sich, einen sumpfigen Polit-Hurentrank aus zu geben, der den Ober-Stein flugs als rassistischen Rechtsausleger vereinnahmen möchte.
Was ist hier passiert?Sir Mick nimmt sich in „Gotta Get A Grip“ und „England Lost“ jener global um sich greifenden Tendenzen an, die man bis vor kurzem exklusiv als lediglich typisch deutsche „German Angst“ deklarierte. Diese Zeiten sind längst passee. Mittlerweile zog das Postfaktische erfolgreich ins Weiße Haus, nationalistische Bullies drücken den Brexit durch und allüberall kriechen Rassisten, Fremdenfeinde und überhaupt alle denkbaren Klappspaten jeder Couleur aus ihrer wurmstichigen Höhle hervor.Jagger schlüpft nun – very british indeed – in die Rolle jener und gibt in Teilen die Ansichten dieser Leute eins zu eins und sehr direkt wieder. Er macht dies sehr clever. Die Methode: Zum einen der gute alte Gegensatz zwischen wörtlicher und wirklicher Bedeutung. Zum anderen nutzt er ergänzend das darstellerische Mitte der sogenannten Überidentifikation. Man kennt derartiges von den Weltmeistern dieser Disziplin, Laibach.Entsprechend ist es kein Wunder, dass ironiefähigere Regionen dieses Planeten Jagger keine Sekunde lang als Sprachrohr neurechter Auswüchse missverstehen. Hierzulande ist das anders. Das teutonische Wesen kann mit sardonischem Sarkasmus gemeinhin wenig anfangen und tendiert mehrheitlich dazu, alles Dargebotene pickelhaubig und wortwörtlich zu interpretieren. Das ist natürlich keine Hilfe im Bereich möglichen Erkenntnisgewinns. Eine Überraschung ist es ebenso wenig. Immerhin hielt man hierzulande Laibach bis vor nicht allzu langer Zeit noch für eine „Naziband“.Und auch sonst spricht nichts dafür, Jagger in solch einer Ecke zu verorten. Die Stones stehen seit jeher für die universelle Weltoffenheit des Rock’n’Roll. Sie arbeiteten schon mit allen Hautfarben und etlichen Kulturen. Schon immer stand bei ihnen das freigeistige Individuum vor jeglicher kollektivistischen Massenideologie. Freunde des Konservativismus waren sie nie. Nicht umsonst hieß es auf dem gelungenen Spätwerk „A Bigger Bang“ (2005) „How can you be so wrong, my sweet neocon?“ Da hätte es Jaggers Klarstellung „Ich mag nichts, das zu offensichtlich ist.“ eigentlich nicht mehr bedurft, so der Exegese-Horizont sich auch nur eine Handbreit über dem Meerespiegel befände. Weiter heißt es: “Ich denke, die Botschaft ist, dass du trotz all der Dinge, die gerade geschehen, dein Leben weiterleben und du selbst sein musst – und dabei versuchen solltest, dein eigenes Schicksal in die Hände zu nehmen.“Dem ist nichts hinzu zu fügen.

Die musikalische Seite der Songs lässt ebenso nichts anbrennen.Während „Gotta Get A Grip“ rotzig, dreckig und modern.rockt, verschreibt sich „England Lost“ einer cleveren Mischung aus Street-Funk, dem Blues-Echo einer vorbeiwehenden Mundharmonika und Trip-Hop.

Die fünf quer durch fast alle Kontinente reisenden Remixe (enthalten auf der EP „Reimagined“) geraten ebenso lohnend. Rapper Skepta passt erwartungsgemäß gut ins trendy Bild. Die Variante des brasilianischen Djs und Produzenten Alok kantet „Gotta Get A Grip“ in Richtung tanzbaren Post-Industrials. Matt Clifford, der seit fast 30 Jahren etliche Stones-Tourneen veredelt, schenkt dem Track einen rhythmischen Drive, der sich gewaschen hat. Und der norwegische Elektro-Tüftler Seeb schiebt die Nummer gen Clubsong.

Die allerbeste Figur macht dennoch die Inspiration von Kevin Parker, seines Zeichens Frontman der australischen Psychedelic Rocker Tame Impala. Mit ausgefuchstem Rhythmusgerüst und effektiv eingestreuter Gitarre verdient er sich lässig seine Sporen für den mit Abstand besten Remix.

Highlights aus Mick Jaggers Solo-Katalog:

Auch sonst hat der Katalog von Michael Philip Jagger einiges zu bieten.

Die Non-LP-Tracks:

Da wäre natürlich das weltbekannte „Dancing In The Streets“ mit Kumpel David Bowie; ein Cover des 1964 von Marvin Gaye geschriebenen und von Martha & The Vendellas berühmt gemachten Soulklassikers. Besonders das Video machte 1985 Laune. Ein großer Spaß, zu sehen, wie sich diese beiden höchst unterschiedlichen Typen ergänzen. Jagger zappelt als extrovertierter, knallbunter Derwisch durchs Bild, während Bowie seine Dancemoves lediglich elegant andeutet. Auch die Single „Ruthless People“ aus dem gleichnamigen 1986er Film (deutsch: „Die unglaubliche Entführung der verrückten Mrs. Stone“) lohnt sich durchaus.

Zur Verlinkung und als unverzichtbaren Anspieltipp entscheide ich mich gleichwohl für folgenden Killer: „Too Many Cooks (Spoil The Soup)“ ist weit mehr als ein Cover des Blues-Klassikers von Willie Dixon. Sogar etlichen Stones- und Beatles-Fans ist diese Zusammenarbeit von Jagger und John Lennon unbekannt. Beide treffen sich 1973 in L.A. Und kochen es zum wüsten Funk-Klopper um. Lennon produziert und greift zur Gitarre. Jagger singt. Beide arrangieren. Auch nach über vier Jahrzehnten büßt der Song kein Quentchen seiner Bissigkeit ein.

Die vier LPs

Von den vier LPs fallen zwei eher befriedigend aus. „Primitive Cool“ (1987) und „Goddess In The Doorway“ (2001) strotzen nicht gerade vor Ideenreichtum. Singles wie „Let’s Work“ oder das rockende „God Gave Me Everything“ (mit Lenny Kravitz an der Gitarre) gehen klar. Insgesamt bieten beide Alben jedoch eher routinierte Vorstellungen.

Ganz anders „She’s The Boss“ (1985). Mal hart, mal zart gibt es hier die Blaupause perfekt abgehangenen 80er Rocks. Mit erlesenen Partnern wie Bill Laswell (Bass, Produktion), Jeff Beck (Gitarre) oder Nile Rodgers (Gitarre, Produktion) reiht sich ein Highlight ans andere. Das treibende „Just Another Night“ und die gefühlvolle Ballade „Hard Woman“ wurden verdiente Welthits.

Hier „Just another Night“:

Und hier „Hard Woman“:

Nicht leicht, hiermit auch nur gleich zu ziehen. Doch 1993 gelingt ihm sein insgesamt bestes Album „Wandering Spirit“. Die Gästeliste ist erneut beeindruckend. Lenny Kravitz, Billy Preston oder Flea (Red Hot Chili Peppers) samt Rick Rubin als Producer sind nur einige aus der Besetzungsliste. Hinzu kommt Annie Leibovitz fürs Cover-Foto. Die Bandbreite ist enorm. Rock, Funk, Gospel, Folk, sanfter Pop, Dance-Elemente und ein Hauch von Blues mischen sich zum bunten, sehr schmackhaften Salat. Trotz seiner Vielseitigkeit klingt das Album von A bis Z wie aus einem Guss.

Zwei Lieder haben es mir besonders angetan. „Sweet Thing“ ist einer der souveränsten Ausflüge eines Rockosauriers gen Clubmusic aller Zeiten. Jagger verbindet und kontert neongrelle Dancefloor-Ästhetik mit jenem fordernden, dreckigen, leicht erotomanischen Gesang, den er beherrscht wie kein zweiter auf der Welt. Neben der regulären Singlefassung gibt es etliche extended Varianten, die sich – bis hin zum kongenialen Dub-Mix – durchweg lohnen. Ebenso wie für das obig besprochene „Too Many Cooks“ gilt hier: Auch ein Vierteljahrhundert nach der Aufnahme klingt die Nummer so taufrisch wie am ersten Tag.

Mein absoluter alltime Liebling jedoch ist das nur auf den ersten Blick unscheinbare „Angel In My Heart“. Ich gestehe an dieser Stelle gern meine Zuneigung zum Cembalo. Egal ob bei Bach oder im Einsatz etlicher Rockbands: Mit einem gut gemachten Cembalo-Stück bekommt man mich stets auf ganzer Linie. Man hört hier übrigens erneut Matt Clifford, der obig bereits als Remixer in Erscheinung trat. Jagger serviert hier einen der romantischsten Augenblicke seiner über 50 jährigen Karriere. Kein Song könnte zum Ausklang der Kolumne besser geeignet sein als dieses perfekte Nachtlied.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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