Am Hof des scharlachroten Königs – Eine Kolumne für King Crimson und ihr Meisterwerk „In The Court Of The Crimson King“
Neben vielem Anderen stellt Ulf Kubanke in seiner Hörmal-Kolumne in unregelmäßigen Abständen Klassiker und Meilensteine der populären Musikgeschichte vor. In dieser Folge geht es um King Crimsons 1969 erschienenes Meisterwerk „In The Court Of The Crimson King“.
Bow before the crimson king! Bow…or die!
(Stephen King)
London 1968: Der fröhliche Mann, der auf dem Marktplatz selbstgemachte Flugdrachen, Lampenschirme, Gemälde und allerlei farbenfrohen Krimskrams verkauft, ist echter Bohemien. Er verfügt über ein sonniges, sehr humorvolles Wesen, kam weit in der Welt herum und fühlt eine tiefe Zuneigung zur Musik. Doch weder sein Gesangstalent noch das Spiel auf der Gitarre sind auch nur entfernt bemerkenswert. Die Kombos, in denen er sich versucht erweisen sich bislang allesamt als Rohrkrepierer. Dennoch wird er in naher Zukunft eine musikhistorisch bedeutende Schlüsselfigur werden, ohne die weder King Crimson, der Prog-Rock, noch Genesis, Emerson, Lake & Palmer oder Roxy Music in der heute bekannten Form entstanden wären. Peter John Sinfield ist ein begnadeter Lyriker und schenkt der Rockmusik die Poesie.
Peter, ich muss dir leider sagen, dass deine Band ein hoffnungsloser Fall ist. Aber du schreibst verdammt gute Worte. Wollen wir ein paar Songs zusammen machen?
– so ein Kumpel Sinfields. Dieser enge Freund und Bewunderer des Wörterschmieds ist Ian McDonald, seines Zeichens späterer King Crimson-Multiinstrumentalist. McDonald fügt King Crimson eine soundästhetische Detailfreude hinzu, die bislang im Rockkontext eher unüblich war. Saxophon, Orgel, Klarinette, Mellotron, Flöte oder Vibrafon erhalten ganz selbstverständlich ihre tragende Nebenrolle im großen Mosaik der Klänge. Das Zustoßen zur Proto-KC-Formation „Giles, Giles & Fripp“ setzt den Funken zum baldigen Großbrand.
Sie treffen auf den Drummer Michael Giles sowie den späteren Bandchef Robert Fripp. Besonders der visionäre Gitarrero Fripp macht sich auch außerhalb der Mutterband zukünftig einen Namen als perfekter Partner in Crime. Zu seinen herausragenden Kollaborationen gehören u.A. „Evening Star“ (1975 mit Brian Eno), „Heroes“ (Leadgitarre auf Bowies Kultalbum 1977) oder das großartige „Damage Live“ (1994 mit David Sylvian).
The Voice of Prog
Es fehlt eine echte Stimme. Diese finden sie im mit Fripp befreundeten Sänger und Bassisten Greg Lake. Lakes Charakterorgan gilt später zu recht als „Voice of Prog“. Trotz vieler nachfolgender Glanztaten mit Emerson, Lake & Palmer bleiben vor allem seine wegweisenden Vocals auf „In The Court Of The Crimson King“ Lakes ewiges Markenzeichen im kollektiven Musikgedächtnis.
Genau so verhält es sich mit der gesamten Platte. Fünf Lieder auf 43 Minuten markieren den Urknall des Prog. Dieser scharlachrote König verhält sich zum Genre wie das Necronomicon zum Okkultismus. Der „Crimson King“ steht dabei begrifflich für Satan, Beelzebub, den Herrn der Fliegen als ewigen Verneiner und Antagonisten allen Lichts. So ist es kein Wunder, dass ausgerechnet diese Gestalt bis hin zur Literatur große Kreise zieht. Allen voran outet sich Stephen King als großer Fan von Band und Album. Ohnehin bekannt als Freund der Rockmusik (King gibt Romanfiguren gern Rockstarnamen und ist per „du“ mit Blue Öyster Cult), ehrt er den Longplayer und die zugehörigen Musiker, indem er seinen Romanen (u.A. „Insomnia“ und die letzten drei Bände des „Der Dunkle Turm“-Zyklus) einen machtvollen Dämon implantiert namens „Der scharlachrote König“ („The Crimson King“). Kings liebevolle Hommage orientiert sich besonders an Sinfields Songtext zum Titeltrack. Die Phrase „…in the court of the crimson king….“ taucht in wenigstens vier Büchern auf. Und zuguterletzt erhält sogar der oberste Diener und Stratege des roten Unholds – Randall Flagg – dieselben Initialen wie der Vordenker der Band King Crimson, Robert Fripp.
21st Century Schizoid Man
Doch hüte man sich vor dem Gedanken, solcherlei Lobpreisung sei nur etwas für Fantasy- und Horror-Freaks oder verkopfte Prog-Nerds. Im Gegenteil: Die sinnliche Platte ist zu Recht ein Meilenstein der Musikgeschichte der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Weit über jegliche Genregrenzen hinweg wirkt ihre Magie auch auf Musikfreunde weit jenseits seines Stils. Bereits der hart rockende Opener „21st Century Schizoid Man“ ist seiner Zeit – Oktober 1969 – etliche Längen voraus. Derb verzerrte Vocals, knallharte Proto-Metal-Gitarren sowie Sinfields sarkastischer Antikriegstext machen das Lied zum Urahnen von Bands wie Ministry und co. Der absolute Clou ist dennoch McDonalds rasender Bebop-Einschub in der Mitte. Seine Saxofon-Passage hätte sicherlich sogar Charlie Parker ein anerkennendes Grinsen auf die Lippen gezaubert.
Die in Punkto Sound definierende Produktion stammt von King Crimson. Eine große, innovative Leistung, bedenkt man die nach heutigem Maßstab vorsintflutlichen Möglichkeiten sowie die Unerfahrenheit der jungen Musiker auf diesem Terrain. Zuerst versuchten sie es mit Moody Blues-Producer Tony Clarke. Dieser wollte King Crimson jedoch partout den Klang der „Nights In White Satin“-Kollegen aufdrücken und hätte Fripp und co damit zum Zweitaufguss degradiert. So schickten sie ihn kurzerhand in die Wüste und übernahmen das Ruder selbst. Kurioses Detail: Die den Songnamen hinzugefügten Untertitel haben – trotz zahlloser Interpretationsversuche – keinerlei Bedeutung. Es handelt sich bei ihnen um einen Trick der Band gegenüber der Plattenfirma. Das Label bezahlte nämlich nach Anzahl der Songs. Um hier nicht mit lediglich 5 Nummern um die Hälfte des LP-Honorars gebracht zu werden, erdachte Sinfield diese Ergänzungen.
Ein besonderes Kapitel für sich ist das Artwork Barry Godbers. Die Frontseite zeigt den „Schizoid Man“ und mauserte sich im Laufe der Zeit zu einem der berühmtesten und bekanntesten Plattencover überhaupt – neben etwa Velvet Undergrounds berühmter Banane („The Velvet Underground & Nico“ 1967) oder Pink Floyds Prisma („The Dark Side Of The Moon“ 1973). Doch wie wir alle wissen: Mitunter kann das Leben ein echter Drecksack sein, nicht wahr? Godber selbst erlebte die Bugwelle seines Gemäldes tragischerweise nicht. Kurz nach der Veröffentlichung erlag er überraschend einem Herzleiden. „In The Court Of The Crimson King“ blieb sein einziges Werk. Die frühen Genesis pinnten das Bild in ihren Proberaum; zur Ermahnung, wie gut man sein müsse, um es als Musiker so richtig zu bringen. Ein angesäuerter Fripp kaufte das Original des toten Freundes später vom Label zurück. Durch Unaufmerksamkeit hing es dort am denkbar falschesten Platz und drohte vom täglich einfallenden Sonnenlicht komplett ruiniert zu werden.
Tropfkerzenmomente
„I Talk To The Wind“ und „Moonchild“ verkörpern die romantischen Tropfkerzenmomente des Albums. Ersteres stammt noch aus der Zeit kurz vor Bandgründung und allein von Sinfield /McDonald. Trotz seines großen musikalischen Gespürs gab es für das feste Bandmitglied Sinfield aus den obig genannten Gründen keinen instrumentalen Platz. In scherzhaftem Understatement bezeichnete er sich selbst oft als „Maskottchen“ oder „Hippie-Haustier“ King Crimsons, das vor allem wisse, „wo man die abgefahrensten Klamotten bekäme“. Eine große Untertreibung. King Crimsons Cheflyriker war ebenso unsichtbarer wie essentieller Teil jeder Bühnenshow. Er allein übernahm die Lichttechnik im Alleingang und klügelte unverzichtbare optische Effekte aus, welche die Musik bei Gigs visuell deutlich unterstrichen.
Der Improvisationspart in „Moonchild“ ist der einzige Augenblick, in dem die Platte minimale Schwächen aufweist. Fripp selbst fand späterhin den Teil in Ansehung seiner Länge nicht inspiriert genug über die volle Distanz. Für das Re-Release 2009 schnitt er – zusammen mit Steven Wilson (Porcupine Tree) – ungefähr zweieinhalb Minuten heraus. Das Ergebnis kann sich hören lassen und wirkt in der Tat alles andere als verstümmelt, sondern wesentlich pointierter als das ausufernde Original.
Epitaph
„Epitaph“ und das epische Titelstück gehören zum besten, was die 60er hervorbrachten. Sie beerdigen die Dekade musikalisch in großer, weit ausholender Geste und legen simultan den Grundstein für die 70er. Besonders Lakes stimmliche Audruckskraft, verbunden mit den starken Melodien beider Stücke, transportiert hier das atmosphärische Maximum. Sehr nuanciert pendelt Lake in „Epitaph“ zwischen Verhaltenheit und Dramaqueen. Auf diese Weise erzielt er eine hochemotionale, tieftraurige Wirkung ohne den hymnischen Rockkontext aufzugeben. Sehr passend, denn „Epitaph“ verkörpert textlich einen sinistren Abgesang auf alle menschliche Vernunft, Empathie und Harmonie. Das zerstörerisch-brutale Naturell der Bestie Mensch gewinnt in dieser Prophezeihung Oberhand und zieht alles in einen apokalyptischen Abgrund. Kein Schelm, wer hierbei an unsere posthumanistische Gegenwart denken muss.
Das Finale gehört dann ganz und gar dem Hof des scharlachroten Königs. Mit stolzem Gesang, opulentem Chor und surrealer Farbenpracht in den Zeilen erobert diese dunkle Kreatur seine Hörer. McDonalds schnurriges Flötensolo in der Mitte zitiert nebenbei lässig Rimsky-Korsakov („Scheherazade“). Sobald die letzten Töne verebben, staunt man, wie frisch Arrangements, Songwriting und Texte auch nach einem halben Jahrhundert noch immer klingen. Unbedingte Kaufempfehlung für diesen Klassiker der Rockgeschichte.
The yellow jester does not play but gently pulls the strings. And smiles as the puppets dance in the court of the crimson king…
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