Solidarisch – aber wer mit wem?

Deutschland fordert in der Flüchtlingsfrage Solidarität von den osteuropäischen EU-Partnern. Aber mit welchem Recht eigentlich. Nicht jedes Problem eines EU-Landes ist auch ein europäisches Problem.


Es klingt so plausibel: Europa kann seine Probleme nur vereint lösen. Wir müssen als Werte- und Solidargemeinschaft in der Europäischen Union zusammenstehen. Aber nicht alles, was plausibel klingt, ist richtig. Genauer – plausible Sätze mögen abstrakt wahr sein, aber wenn es konkret wird, werden sie nichtssagend oder falsch.

Die Anwendung der beiden obigen Einstiegssätze auf das Feld der Flüchtlingspolitik lässt sich, wenn man denen folgt, die sie immer wieder gebetsartig wiederholen, mit einem Wort zusammenfassen: Quotenregelung. Alle Mitgliedsstaaten der EU sollen sich die Aufnahme und Versorgung der ankommenden Flüchtlinge teilen, nach festen Anteilen, die aus der Bevölkerungszahl oder der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit berechnet oder sonst irgendwie politisch ausgehandelt werden.

Das lehnt eine Reihe von Regierungen ab, allen voran die vier Länder, die in der Visegrád-Gruppe zusammenarbeiten, – weshalb sie von den anderen als unsolidarisch gescholten werden – wahlweise als unsolidarisch mit den Flüchtlingen, oder mit den anderen EU-Ländern, vorzugsweise Deutschland.

Solidarität mit Deutschland, das ist allerdings sicherlich nicht vorrangige Regierungsaufgabe in Tschechien, Ungarn oder Polen. Es lohnt sich, einmal die Perspektive der dortigen politischen Entscheider einzunehmen, dann wird schnell klar, dass die Sache nicht ganz so einfach ist.

Aber der Reihe nach. Schauen wir uns erst einmal an, was das Flüchtlingsproblem eigentlich ist.

Flucht als Problem

Am Anfang ist die Flucht weder ein Problem der EU oder eines einzelnen EU-Landes, sondern derer, die flüchten. Sie wollen weg aus dem Land, in dem sie wohnen, aus der Gegend, die ihre Heimat ist. Sie haben dafür gute Gründe. Ich wäre auch ein Flüchtling, wenn ich in Syrien, in Afghanistan, oder in einem Land südlich der Sahara aufgewachsen wäre.

Für die Flüchtlinge gibt es keine EU, es gibt nicht Europa als Ziel. Für einige mag das Flüchtlingslager gleich hinter der Grenze ein Ziel sein, aber für viele, und das kann ich gut verstehen, ist dieses Lager nur der Ort für eine kurze Verschnaufpause. Für viele Flüchtlinge ist das Ziel eines von einer Handvoll, vielleicht einem Dutzend Ländern auf dieser Welt. Deutschland gehört dazu, und es dürfte ziemlich weit oben auf der Liste stehen. Ungarn, Polen, Tschechien, Estland, Litauen – sie alle gehören nicht dazu. Somit ist es auch nicht ihr Problem.

Das Flüchtlingsproblem ist ein Problem der Länder, die das Ziel und die Hoffnung der Flüchtlinge sind. Es ist ein gewisses Problem für die Länder, durch die die Flüchtlinge auf ihrem Weg hindurchwandern. Die Länder auf der so genannten Balkan-Route haben guten Grund, von denen, die das Ziel der Flüchtenden sind, Beistand, Hilfe und Solidarität zu erwarten – und nicht umgekehrt.

Natürlich sagen wir hier in Deutschland gern, dass die Menschen aus Syrien nach Europa wollen. Damit versuchen wir, alle anderen „mit ins Boot“ zu holen, und wenn die dann sagen: Stopp mal, die Flüchtlinge sind bei uns nur auf der Durchreise, keiner von denen will sich bei uns lange aufhalten, dann antworten wir: Nun seid mal solidarisch! Solidarisch müssen aber wir sein: nicht nur mit den Flüchtlingen, sondern auch mit den Ländern, in denen diese Menschen zuerst ankommen und die weder organisatorisch, noch logistisch oder finanziell in der Lage sind, diese Ankunft für ganz Europa zu organisieren.

Wem nutzt die Quote?

Was nützt es, wenn wir tatsächlich Flüchtlinge per Quotenregelung nach Polen oder Tschechien schicken, die dann dort weder halbwegs versorgt werden können, noch wenigstens einigermaßen freundlich empfangen sind, weil jeder Tscheche und jeder Pole sich doch sagt: Warum müssen wir hier Menschen versorgen, die gar nicht zu uns wollten? Und werden diese Menschen sich nicht bald wieder auf den Weg machen? Wie sollten die Länder Osteuropas die Leute daran hindern, sich bald erneut auf den Weg zu machen in ein Land, in dem sie ihr Glück zu finden hoffen? Sollen sie sie einsperren?

Vielleicht wird man jetzt einwenden: Aber das sind doch Kriegsflüchtlinge, die fliehen vor Bomben und Schlachtengetümel, die werden doch froh sein, wenn sie irgendwo ein Zelt und ein hartes Stück Brot bekommen, und mal in Ruhe ausschlafen können! Ganz so einfach ist es eben aber nicht, denn diese Menschen fliehen zwar vor dem Krieg, aber sie sind auf der Suche nach dem guten Leben für sich und ihre Familien. Niemand kann ihnen das verübeln. Und dieses Leben suchen sie nicht in Ost- sondern in Mitteleuropa.

Erst wenn Deutschland und die anderen reichen EU-Länder eingestehen, dass das Flüchtlingsproblem zuerst ihr Problem ist, und dass die anderen Länder gebeten werden müssen, zu helfen, und dass wir hier in der Pflicht sind, diesen Ländern zu helfen, dann kann man nach einer gemeinsamen Lösung in der EU suchen.

Man kann sich diesen Staatenbund gut als eine Familie vorstellen. Wenn da einer aus der Familie, der durch Glück oder Fleiß zu mehr Wohlstand gekommen ist als die anderen, sich nun der Bitten um Hilfe von Fremden kaum erwehren kann, dann wird der auch nicht zu seinen Geschwistern sagen können „Lasst uns hier mal als Familie das Problem gemeinsam lösen“. Er wird sich etwas ausdenken müssen, damit seine Brüder und Schwestern ihn unterstützen.

Die Ruhe vor dem nächsten Sturm

Im Moment ist hier in Deutschland einigermaßen Ruhe eingekehrt. Wir haben ein paar Schecks unterschrieben, damit andere unsere Probleme lösen. Wie lange das so geht, weiß keiner. Bulgarien weist zurecht darauf hin, dass es die Grenzsicherung, die eigentlich unsere deutsche Grenze sichert, nicht mehr lange allein leisten kann. Ob die Unterstützung durch die Türkei nicht viel zu teuer bezahlt ist, weiß auch keiner. Und in Italien hat man derzeit eigentlich andere Probleme als die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu retten.

Wir sollten schnell eingestehen, dass es wirklich zuallererst unser Problem ist. Den osteuropäischen Ländern Vorwürfe zu machen, dass sie Flüchtlinge nicht aufnehmen wollen, die gar nicht nach Osteuropa wollten, wird nicht gerade zu einer guten Kooperation in der EU führen. Es wird auch auf lange Sicht kein Problem lösen.

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Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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