Istanbul- ewiger Hotspot

Gastkolumist Ekrem Kuş über das bunte Leben im Hotspot Istanbul


Als Heinrich Schmitz mir vorschlug eine Gastkolumne für ‘DieKolumnisten’ zu schreiben, habe ich schnell ‘Ja’ gesagt. Früher, als ich noch Familie hatte, hätte ich sie bei einer solchen Entscheidung um ihre Meinung gebeten. Die Familie war wichtig.  Meine Mutter hätte gesagt ‘Räum lieber deine Wohnung auf’, mein Vater: ‘Das kennt doch kein Mensch. Wieso schreibst du nicht in einer ordentlichen türkischen Zeitung?’, meine Ex-Frau hätte gesagt: ‘Angeber. Du kannst doch keine DIN A4 Seite ohne Rechtschreibfehler schreiben’, meine Jungs: ‘Mann, das interessiert uns jetzt nicht’.

Nicht ohne die Familie

So ganz alleine darf man da nichts entscheiden, man hat nicht mal die Gelegenheit, sich seine Fehler selbst auszusuchen. Die Familie entscheidet mit und man nimmt dann das, was sie entscheidet.

Ich habe lange in Deutschland gelebt, lebe aber seit einigen Jahren wieder in Istanbul. In der Türkei sagt man ‘Istanbuls Berge und Steine sind aus Gold’. Hier ist das Geld, hier kann man Geschäfte machen und reich werden. Wo sonst?

Seit Menschengedenken ist das ehemalige Konstantinopel das El Dorado  für Handel und Bildung. Als London im Mittelalter noch als größte europäische Stadt gerade mal 10.000 Einwohner hatte, war Konstantinopel bereits eine Welt-Metropole mit 500.000 Einwohnern. Im Mittelalter war sie die einzige Weltstadt Europas und nach der Eroberung durch die Osmanen wieder die einzige Weltstadt.

Konstantinopel war nicht nur die Endstation für den legendären Orient Express, hier war auch der Hauptumschlagsplatz für die Seidenstrasse – nicht Buchara oder Semarkant. Venezianische Händler kamen nach Konstantinopel um Handel zu treiben.

Hier war auch der Hauptumschlagsplatz für Geschichten aus aller Welt, vorgetragen von Händlern der Seidenstrasse. Manche Wissenschaftler behaupten sogar, dass Marco Polo gar nicht über die Seidenstrasse bis nach China gelangte, sondern nur bis Konstantinopel kam und seine Reisekenntnisse von Händlern der Seidenstrasse abschrieb.

In Zeiten von Byzanz, schon im 9. Jahrhundert, kamen Wikinger, die Waräger, nach Konstantinopel und traten in die Dienste des Kaisers als Söldner. Sie schützten den Kaiser, der sich auf seine eigenen Leute nicht verlassen wollte. Zeitweise haben über 7000 Waräger ihre Dienste als Söldner des Kaisers verrichtet. Fremde Menschen ist Istanbul gewöhnt.

Damals war Konstantinopel, genauso wie Istanbul heute, das kulturelle und wirtschaftliche Zentrum des byzantinischen Reiches. Byzantinische Bauern schickten vor allem ihre Söhne zu den höheren Schulen in Konstantinopel, damit sie in die begehrten Staatsdienste kommen konnten.

Heute ist das auch nicht viel anders. Die meisten Bewohner Istanbuls kommen aus den Hochländern Anatoliens, um zu studieren, zu arbeiten oder Geschäfte zu machen.

Vor wenigen Wochen habe ich zwei meiner Cousinen und die Tochter von einer der beiden kennen gelernt. Wir haben uns zum ersten Mal gesehen. Gefunden haben wir uns übrigens aufgrund der Namensgleichheit im Facebook.  Junge und, wie ich dachte, moderne Frauen um die dreißig. Sie leben jetzt in der Nähe von Istanbul und besuchten mich am Bosporus, wo ich sie etwas herumführte. Wir haben Fotos gemacht, gegessen und geplaudert.

Sie kommen ursprünglich aus einem mittelanatolischen Dorf mit circa zwanzig Häusern und wuchsen mit elf Geschwistern auf. Mit dreizehn wurden sie verheiratet und haben bereits Kinder die schon sechzehn Jahre sind.

Hölle, Hölle, Hölle

‘Ekrem wir haben viel von Dir gehört. Du bist ein Mann von Welt, und kein Ochse wie unsere Brüder‘. Das klang ja schmeichelhaft. Aber dann  erzählten sie mir übers Jenseits, das Fegefeuer und die Hölle, in der die Ungläubigen schmoren würden. Immerhin, jeder Ungläubige könne sich noch vor der Hölle retten, falls er sich in letzter Sekunde zum Islam bekenne. Ich war erschrocken.

Sie konnten über das Jenseits minutiös berichten. Ich bin über ein ‘Ja, aber…’ oder ‘Ähmmm…’ nicht hinausgekommen, bekam keine Gelegenheit dazu. Sie waren mit Feuer und Flamme dabei.

Da hatte ich verstanden was die unter ‘Mann von Welt’ verstehen. ‘Wir erklären dem Mann die Welt, wie es uns gefällt’.  Sie betrachteten mich wohl als Höllenkandidaten. Just in dem Moment als sie kurz nach Luft schnappten, habe ich die Gelegenheit genutzt und ihnen eine kindliche Frage gestellt: ‘Mädels, warum ist der Himmel blau’? Darauf waren die überhaupt nicht vorbereitet und wussten es natürlich auch nicht.

Scheinbar können religiöse Menschen das Innenleben des „Himmels“, das sie ja noch niemals gesehen haben, viel besser beschreiben als die Farbe des Himmels, den sie doch täglich sehen. Aufklärung Fehlanzeige.

Freiheit in Istanbul

Mehtap (45) kommt aus Teheran und lebt seit ihrer Scheidung vor 7 Jahren in Istanbul. Hier fühlt sie sich freier und sicherer. Sie ist Kosmetikerin und arbeitet in einem Schönheitssalon, aber ebenso in einem deutsch-türkischen Unternehmen mit Beziehungen zu Iran und als freie Dolmetscherin. So oft es geht besucht sie ihre Heimat. Freunde und Verwandte besuchen sie in Istanbul. Wenn sie Iran besucht, wird ihr ihre Freiheit in Istanbul immer vor Augen geführt.

Mehtap lebt, wie alle vermutlich rund 600.000 Iraner in Istanbul, legal hier. Manche leben illegal und manchen ist ihr Status auch scheißegal. Hauptsache sie leben hier und können irgendwie arbeiten. In Istanbul können sie Freiheit atmen.

Der legale Status ist in Istanbul, wo wahrscheinlich 70% aller Häuser keine Baugenehmigung haben, nebensächlich, solange man sonst mit dem Gesetz nicht in Konflikt kommt.

Pools für das Personal

Attila ist Mitte 50, Ingenieur für Maschinenbau, in Ankara geboren. Er ist der Sohn eines Italienisch-türkischen Ehepaares und und ein erfolgreicher Unternehmer. Er wohnt im nördlichen Bosphorus in einer schicken Neubausiedlung. Die Bewohner der Siedlung sind alles wohlbetuchte Einheimische, das Personal dagegen stammt überwiegend aus Ost-Europa und den baltischen Ländern. Die Siedlung hat Swimmingpools und Tennisplätze, die allerdings fast nur vom Personal benutzt werden. Die Hausherren spielen selten Tennis und schwimmen wenig. Attila ist, wohl auch wegen seiner teilweise italienischen Herkunft, ein sehr guter Tangotänzer. Er ist sogar Tangolehrer. Nach der Arbeit organisiert er Tangoschulungen und Feste.

Vor wenigen Tagen fragte mich eine Gruppe junger fröhlicher Schwarzafrikaner, wie man zum Studentenwohnheim der Marmara Universitaet kommt. ‘How many duraks?’ war die Frage nach den Bushaltestellen. Durak ist türkisch und bedeutet Haltestelle. Die Mischung aus Türkisch und Englisch war mir so ganz neu. Aus Deutschland kenne ich noch die Sprache der dort lebenden Migranten. Deutsch gemischt mit Türkisch, Italienisch usw., die ist jetzt auch hier angekommen.

Die Zahl der Schwarzafrikaner ist hier in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Aber niemand fürchtet sie, niemand betrachtet sie als Problem. Sie bereichern Istanbul mit ihrer Bescheidenheit, verbunden mit natürlicher Fröhlichkeit und Witz. Natürlich sind nicht alle Afrikaner Studenten. Etliche junge Leute sind hier einfach irgendwie hingekommen oder gestrandet. Bemerkenswerterweise habe ich in Istanbul noch nie einen Afrikaner betteln sehen. Vielmehr verkaufen sie irgendwelche Imitate wie etwa Uhren aus Taiwan. Keine Ahnung, wer das organisiert. Irgendwo müssen die ja ihre Ware herbekommen. Das ist sicher illegal, aber es kümmert niemanden.

Multikulti

In Istanbul ist irgendwie fast jeder „Ausländer“ und jeder muss sehen, wie er zurechtkommt. Es stört hier auch kaum jemanden, dass die Stadt mehr syrische Flüchtlinge beherbergt als das gesamt übrige Europa. Es werden wohl um die 1,5 Mio. sein. Wer weiß das schon?  Jeder bringt seine Kultur mit hierhin und versucht hier zu (über)leben. Jeder versucht ein Teil der 15 oder 20 Millionen Einwohner Istanbuls zu sein. Und das funktioniert auch irgendwie. Wenn ich Berichte über Istanbul in der deutschen Presse lese, wundere ich mich häufig, dass darüber so wenig und wenn, dann häufig verzerrt berichtet wird.

Ich lebe in einem Land, in dem mit überwiegender Mehrheit sunnitische Moslems leben. In unserer kleinen Gemeinde, die übrigens immer christlich geprägt war, gibt es zwei aktive und eine nicht aktive Kirche. Jeden Sonntag um 10:45 Uhr Ortszeit, höre ich die Glocken der Santa Maria Kirche, die nur zwei Häuser entfernt liegt. In der Nachbargemeinde Yeniköy gibt es eine sehr aktive und bekannte Synagoge, die weitaus weniger Sicherheitsvorkehrung hat als die Synagogen in Deutschland. In Deutschland gleichen die Synagogen ja eher einer Festung. Da war ich auch schon. Antisemitische Schmierereien an den Wänden und Grabstätten sind hier völlig unbekannt. Das Verhältnis zwischen Türken und ihren jüdischen Mitbürgern ist entspannter als in Deutschland zwischen nichtjüdischen und jüdischen Bürgern. Aber das ist eben Istanbul. In Anatolien sieht das noch ganz anders aus mit der Toleranz.
Istanbul ist, was es schon zu allen Zeiten war, der ewige Hotspot der Türkei, ein Schmelztiegel, dem bisher keine Politik und keine Religion wirklich etwas anhaben konnte. Istanbul könnte ein Vorbild sein.

Ekrem Kus

Ekrem Kuş ist 1961 in Ankara geboren und aufgewachsen. Seit 1970 lebte er in Konstanz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Berufspiloten und eine weitere zum Industriekaufmann. 16 Jahre war er in Deutschland als Unternehmensberater tätig. Seit 2009 lebte er wieder in der Türkei und war dort als Unternehmer tätig. Er vertritt deutsche und schweizer Unternehmen in der Türkei. Kuş ist geschieden und wohnt nun wieder in Deutschland.

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