Ein schauriges Spiel

Wie groß die Distanz zwischen Politik und Volk in Deutschland wirklich ist, kann man live erleben – beim Besuch einer Plenarsitzung im Bundestag.


Die Entfernung zwischen Politik und Alltag, zwischen Politikern und Bürgern, wird oft beklagt, aber zumeist bleibt diese Klage abstrakt. Wir werfen den Abgeordneten und den Regierungsmitgliedern vor, keine Ahnung von unserem Leben und unseren Problemen zu haben – aber das bleibt im Ungefähren. Hier und da lässt sich so eine Behauptung, wenn sie mal konkret gemacht wird, auch auf einfache Weise widerlegen. Das beste Beispiel ist das Interview von Angela Merkel bei Anne Will. Da konnte die Kanzlerin auf den Vorwurf, sie wüsste vielleicht nicht, wie die Probleme vor Ort wirklich aussehen, schlicht erwidern, dass sie da schon im Bilde sei – wer wollte da streiten?

Die Distanz zwischen Bürgern und Politik lässt sich aber auch ganz konkret erleben, und zwar ausgerechnet an einer Stelle, an der die Menschen von der Straße dem politischen Geschehen ganz nahe kommen sollen: Beim Besuch einer Plenarsitzung im Bundestag.

Personalien und Sicherheitscheck

Im Plenarsaal im Bundestag sind oben so genannte Zuschauertribünen installiert, von denen aus man die Debatten der Abgeordneten sozusagen hautnah erleben können soll. Man kann von oben auf die Politiker herab sehen, aber selten führt eine Redewendung so sehr in die Irre. Umso näher man den Politikern kommt, desto mehr Entfernung wird nämlich aufgebaut.

Es beginnt schon mit der Planung des Besuchs. Glauben Sie nicht, liebe Leser, dass Sie bei einem Besuch der Hauptstadt spontan mal zu Ihren Freunden sagen können: „Lasst uns doch mal einen Blick in den Bundestag werfen und den Politikern beim Debattieren zusehen!“ – Weit gefehlt: Schon Monate vorher müssen Sie Ihren Besuch beim Besucherdienst des Bundestages anmelden – und zwar mit genauer Teilnahmeliste einschließlich der Personalien und Personalausweisnummern aller Teilnehmer.

Benehmen Sie sich!

Wenn Sie sich dazu entschlossen haben, bekommen Sie eine genaue Vorgabe, zu welchem Zeitpunkt Sie sich mit Ihrer Gruppe am Bundestag einzufinden haben. Aber Sie können da nicht so einfach reinspazieren. Bereits im gehörigen Abstand vor dem Gebäude sind Container für den Sicherheitscheck aufgebaut. Dort werden Sie kontrolliert wie vor einem Interkontinentalflug am Frankfurter Flughafen. Personalien werden abgeglichen, gleichzeitig werden Sie darauf vorbereitet, dass von hier ab alles nur noch hochgradig diszipliniert weitergeht. „Stellen Sie sich dort auf!“, „Sammeln Sie sich da!“, „Warten Sie dort, bis Sie abgeholt werden!“

Unter straffer Führung mit klaren Kommandos gelangen Sie auf die Zuschauerebene. Dort müssen Sie natürlich alles Gepäck, das Sie dabei haben, sowie Ihre Mäntel und Jacken abgeben – auch wenn gerade alles kontrolliert worden ist. Nun kommt der Höhepunkt der Prozedur: Sie erhalten eine Einweisung, wie Sie sich von dem Moment an zu benehmen haben, in dem Sie die Zuschauertribüne betreten. „Handys aus! Und wenn ich sage, aus, dann meine ich aus. Nicht lautlos, nicht Flugmodus, sondern AUS! Wenn Sie die Tribüne betreten, setzen Sie sich zügig auf die Plätze. Nicht reden, nicht lachen, nicht herumlaufen! Und nicht einschlafen! Denken Sie daran, dass auch die Zuschauertribünen gefilmt werden, was würde das für einen Eindruck machen, wenn Sie da die Augen geschlossen haben?“

Der Einlass auf die Tribüne erfolgt immer zur vollen Stunde, verbunden mit der Anweisung, dass Sie bis zehn Minuten vor der nächsten vollen Stunde sitzen zu bleiben haben und sich dann „selbständig zu erheben haben und die Tribüne wieder verlassen“.

Schlechte Plätze, schlechte Schauspieler, schlechtes Stück

Dann sitzen Sie da. Sie fühlen sich wie auf den schlechtesten Plätzen eines Theaters, in dem ein schlechtes Stück mit schlechten Schauspielern gegeben wird. Ein Redner nach dem andern klettert im Fünf-Minuten-Takt auf die Bühne und hält einen Monolog. Im Falle meines Besuches dort ging es irgendwie um auswärtige Kultur- und Bildungspolitik. Im Parkett des Theaters sitzen ein paar Leute und klatschen hin und wieder. Sie reden miteinander – was Ihnen hier oben streng verboten ist. Sie schauen auf ihre Smartphones, Sie mussten Ihres ausschalten (auch wenn Sie das in einem Anflug von Verwegenheit heimlich doch nicht getan haben). Sie stehen auf, laufen raus, kommen rein, wie es ihnen gefällt – all das ist Ihnen hier oben untersagt worden.

Was lernen Sie bei diesem Besuch? Was macht das mit Ihnen? Und was macht es mit den Politikern da unten, die oben auf den Rängen ein artiges Volk versammelt sehen, das dicht gedrängt in engen Reihen sitzt und gebannt ihren nichtssagenden, schlecht vorgetragenen, langweiligen Reden folgt?

Warum nicht anders?

Stellen wir uns eine Alternative vor. Klar, ein bisschen Sicherheit muss sein. Denken wir uns also, dass wir ganz ohne Anmeldung zum Bundestag hinüberschlendern, für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Besucherandrang groß ist, wird uns eine Wartezeit angezeigt, etwa wie bei großen Attraktionen im Vergnügungspark. Wie passieren den Sicherheitscheck, der gern dem am Flughafen ähneln kann.

Von mir aus könnten ein paar Plakate auf der Zuschauertribüne darauf hinweisen, dass man sich leise verhalten soll und die Handys bitte lautlos sein sollen. Vielleicht so, wie im Theater. Auf der Zuschauertribüne stehen ein paar kräftige Aufpasser, die sich um die paar Störenfriede kümmern, die wirklich zu viel Krach machen.

Auf die Tribüne würden immer nur so viele Leute gelassen werden, wie eben drauf passen. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass sich bei einer normalen Debatte (das Wort ist hier ein unpassender Euphemismus) wirklich jemand mehr als ein paar Minuten dort oben aufhält. Ich jedenfalls hatte nach 15 Minuten, spätestens nach dem dritten Redner, genug gesehen.

Dann würden die Leute da unten auf der Bühne ihr Spiel eben nicht nur vor halbleerem Saal, sondern auch vor halbleeren Rängen aufführen. Das Kommen und Gehen auf der Tribüne würde ihnen zeigen, was das Publikum von der ganzen Inszenierung hält. Und die eine oder andere unmittelbare Unmutsbekundung würde deutlich machen, was das Volk über das ganze Spiel denkt, das da aufgeführt wird.

Nicht „wie in der DDR“

Um das klar zu sagen: Nein, das erinnert mich nicht an DDR-Verhältnisse. Denn als ich da oben saß, wusste ich schon, dass ich darüber schreiben würde, dass ich mir meine Empörung ganz öffentlich und ohne Gefahr von der Seele würde schreiben können. Auf die Idee wäre ich in der DDR im Traum nicht gekommen. Aber die Distanz zwischen politischer Klasse und Volk ist erschreckend – um das ganz live zu erleben, lohnt sich der Besuch des Bundestags.

Lesen Sie auch die letzte Kolumne von Jörg Friedrich über die Freuden des Klimawandels.

Jörg Phil Friedrich

Der Philosoph und IT-Unternehmer Jörg Phil Friedrich schreibt und spricht über die Möglichkeiten und Grenzen des digitalen Denkens. Friedrich ist Diplom-Meteorologe und Master of Arts in Philosophie.

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