Die russische Intelligenzija – Triumph oder Scheitern?

Einige Betrachtungen zum „Orden“ der russischen Intelligenzija anlässlich des 100. Jahrestages der russischen Revolution.


Die russische Revolution, deren Ausbruch sich demnächst zum 100. Mal jährt, hat sich sehr lange angebahnt: „Hundert Jahre lang hatte die russische Gesellschaft der Zarenmonarchie mit einer Revolution gedroht“, schrieb 1927 der russische Schriftsteller Mark Aldanow. Eine eminent wichtige Rolle spielte bei der Genese dieser Revolution die revolutionäre russische Intelligenzija.

Ein unübersetzbarer Begriff

Kaum eine andere gesellschaftliche Formation Russlands wurde im innerrussischen Diskurs zum Gegenstand so vieler emotionaler Kontroversen wie die im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts entstandene revolutionäre Intelligenzija. Aber auch für viele westliche Autoren stellte die Intelligenzija ein Faszinosum dar, und zwar sowohl im positiven als auch im negativen Sinne. Die Tatsache, dass der Begriff „Intelligenzija“ in westliche Sprachen nicht übersetzbar ist und dort lediglich als Terminus technicus verwendet wird, zeigt, dass es sich bei der Intelligenzija um ein spezifisch russisches Phänomen handelt.

Da die Intelligenzija bei der Entstehungsgeschichte der russischen Revolution, deren Ausbruch sich nun zum 100. Mal jährt, eine eminent wichtige Rolle spielte, muss man bei der Analyse dieses epochalen Ereignisses auch der Intelligenzija einige Aufmerksamkeit widmen. Nicht zuletzt deshalb, weil es dieser zahlenmäßig recht unbedeutenden Gruppe gelang, eine gewaltige Monarchie in ihren Grundfesten zu erschüttern und erheblich zu ihrem Sturz beizutragen. Dies un-geachtet der Tatsache, dass sie keinen Einfluss auf den Machtapparat und auch keine allzu starke Verwurzelung innerhalb der Bevölkerung besaß, da sie die Entfremdung schlechthin verkörperte.

Die historische Forschung hatte schon immer Schwierigkeiten mit der Definition des Begriffs „Intelligenzija“, denn es handelte sich bei ihr weder um eine soziale Schicht noch um eine politische Partei. Sie rekrutierte sich aus vielen gesellschaftlichen Gruppen, politisch waren hier höchst unterschiedliche Orientierungen vertreten. Die Klammer, die alle verband, bestand lediglich in der radikalen Ablehnung der bestehenden Verhältnisse und im Glauben an die heilende Kraft der Revolution. In Anlehnung an solche russische Denker wie Semen Frank oder Georgij Fedotow kann man die Intelligenzija als eine Art „Orden“ bezeichnen. Seine Regeln waren zwar ungeschrieben, dennoch standen sie in ihre Rigidität den katholischen Mönchsorden kaum nach. Die Aufnahme in die „Gesellschaft der Eingeweihten“ war mit vielen Auflagen verbunden, die Abtrünnigkeit wurde mit öffentlicher Ächtung bestraft.

Ost-westliche Asymmetrien

Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu bemerken, wie grundlegend sich die Entwicklung Russlands seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts von derjenigen des Westens unterschied, wie asynchron sich diese beiden Teile des Kontinents von nun an bewegten. So erlebten die westlichen Gesellschaften seit dem Scheitern der Revolution von 1848 einen immer stärkeren Integrations- und Konsolidierungsprozess. Die nationalistische Ideologie wurde dabei zu einer Klammer, die immer breitere Bevölkerungsschichten von den inneren Konflikten ablenkte. Sogar die Arbeiterparteien, die sich am längsten gegen den nationalistischen „Bazillus“ wehrten, gaben letztendlich, wie bekannt, ihren prinzipiellen Widerstand gegen dieses „bürgerliche Vorurteil“ auf und begannen 1914 mit dem Strom zu schwimmen. Durch die Einreihung der Arbeiterschaft in die jeweiligen „nationale Front“ (Italien gehörte hier zu den wenigen Ausnahmen) wurden die wichtigsten Voraussetzungen für die Entfesselung eines „Kriegs der Völker“ geschaffen.

Wie anders verlief die Entwicklung Russlands! Die Revolution von 1848/49 ließ das Land praktisch unberührt, deshalb blieb hier auch die Enttäuschung über die revolutionäre Idee aus. Während viele der früheren Revolutionäre im Westen ihre Heilserwartungen immer stärker mit der Nation verknüpften, begann in Russland erst jetzt das revolutionäre Ideal zur vollen Geltung zu gelangen. Jede Kritik an ihm habe die Intelligenzija als einen Verrat angesehen, schrieb 1924 der bereits erwähnte russische Philosoph Frank. Es habe im vorrevolutionären Russ-land einer ungewöhnlichen Zivilcourage bedurft, um sich offen zur Politik der Kompromisse zu bekennen. Was in diesem Zusammenhang verwundert, ist die Tatsache, dass die Intelligenzija sich ausgerechnet in der Herrschaftsperiode des reformgesinnten Zaren Alexander II. (1855-1881), der als Zar-Befreier in die russische Geschichte einging, besonders stark radikalisierte.

Manichäisches Weltbild

Alexander II. hatte kurz nach dem verlorenen Krimkrieg (1853-1856) ein ehrgeiziges Reformwerk in die Wege geleitet, das an die Petrinischen Reformen des beginnenden 18. Jahrhunderts erinnerte und das man als die zweite Westernisierung bzw. Europäisierung Russlands bezeichnen kann. Die Leibeigenschaft wurde 1861 abgeschafft, die Zensur erheblich gelockert, die Justizreform von 1864 schuf unabhängige Gerichte und verankerte damit die ersten Ansätze der Gewaltenteilung im Lande. Viele der Forderungen, die seit Generationen von den Kritikern der russischen Autokratie aufgestellt worden waren, waren nun eine nach der anderen erfüllt worden. Für die revolutionäre Intelligenzija hatten indes diese Entwicklungen so gut wie keine Relevanz. Im Gegenteil, je liberaler das bestehende System wurde, desto radikaler wurde es von der Intelligenzija bekämpft. Dieses inadäquate, völlig irrationale Verhalten wirkt auf den ersten Blick verblüffend. Gehört aber die inadäquate, irrationale Verhaltensweise nicht zum Wesen des ungeduldigen revolutionären Utopismus, der nach einer gründlichen Zerstörung der bestehenden unvollkommenen Welt trachtet, um auf ihren Ruinen so schnell wie möglich ein soziales Paradies auf Erden aufzubauen? In einer be-sonders radikalen Form trat dieser Menschentyp in Russland auf. Die Unbedingtheit und die Absolutheit, die den revolutionären Glauben der russischen Intelligenzija auszeichneten, seien im Westen praktisch unbekannt gewesen, so der Kölner Historiker Theodor Schieder.
Im Jahre 1869, also in der Zeit, in der das liberale Regiment Alexanders II. Russland gründlich erneuerte, ja, bis zur Unkenntlichkeit veränderte, verfasste einer der radikalsten Regimegegner, Sergej Netschajew, den sogenannten Revolutionskatechismus, in dem Folgendes zu lesen war:

Der Revolutionär ist ein geweihter Mensch. Er hat keine persönlichen Interes-sen, (…) Gefühle oder Neigungen, kein Eigentum, nicht einmal einen Namen. (…) Wenn er in dieser Welt fortlebt, so geschieht es nur, um sie desto sicherer zu vernichten (…) Zwischen ihm und der Gesellschaft herrscht Krieg auf Tod und Leben, offener oder geheimer Kampf, aber stets ununterbrochen und unversöhnlich (…) Jene ganze unflätige Gesellschaft teilt sich in mehrere Kategorien. Die erste besteht aus denen, die unverzüglich dem Tode geweiht sind.

Zu ihnen zählen nach Ansicht Netschajews die intelligentesten und energischsten Vertreter des bestehenden Regimes.

Erlösungsphantasien der Intelligenzija

Die ersten Konturen des künftigen totalitären Charakters – des Urhebers wie auch des Produkts der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts – zeichnen sich anhand dieser Gedankengänge bereits ab. Dieser ist auf totale Konfrontation ausgerichtet. Deshalb sind ihm die „intelligentesten“ Vertreter der bestehenden Regierung, die die menschliche Seite des Regimes verkörpern, besonders verhasst. Denn sie könnten diese unvollkommene, der Zerstörung geweihte Welt in den Augen des Volkes erträglicher machen. Despotische Naturen im Regierungslager sind ihm willkommener, weil sie die sozialen und politischen Gegensätze nicht „künstlich“ abmildern und dadurch eine revolutionäre Explosion beschleunigen können.

Der Revolutionär darf nach Ansicht Netschajews keine menschlichen Regungen gegenüber den Feinden haben, die für ihn im Grunde keine menschlichen Wesen sind. So verwandelt sich der von Netschajew geschilderte Regimegegner in eine Art Tötungsmaschine, die aus Liebe zur künftigen idealen Menschheit gegen die Träger der bestehenden unvollkommenen Welt einen erbarmungslosen Zerstörungskampf führt.

Im Sinne Netschajews handelte die 1879 entstandene revolutionäre Verschwörerorganisation Narodnaja wolja (Der „Volkswille“ bzw. die „Volksfreiheit“), deren wichtigstes Ziel die Ermordung Alexanders II. war. Netschajew schrieb:

An erster Stelle müssen (diejenigen) vernichtet werden, die für die revolutionäre Organisation am verderblichsten sind und deren gewaltsamer und plötzlicher Tod am geeignetsten ist, die Regierung zu erschrecken und ihre Macht zu erschüttern.

Der reformgesinnte Zar war für diese Rolle aus der Sicht der Narodnaja wolja geradezu prädestiniert. Die Organisation leitete eine regelrechte Menschenjagd in die Wege. Mehrere Attentatsversuche scheiterten. Am 1.3.1881 hatten die Terroristen schließlich den gewünschten Erfolg. Die Ermordung Alexanders II. geschah ausgerechnet zu der Zeit, in der der Zar gemeinsam mit seinem engsten Mitarbeiter Michail Loris-Melikow ein Dokument verfasste, das Russland eine Art Verfassung in Aussicht stellte.

Die Ermordung des Zaren betrachteten die Mitglieder der Narodnaja wolja als eine Art Erlösungswerk und derartige Erlösungsphantasien gehören neben der Tendenz zur Enthumanisierung des Gegners zu wesentlichsten Bestandteilen des totalitären Charakters. Sein Denken ist manichäisch. Er kennt nur das absolut Böse – im Falle der revolutionären Intelligenzija war es die russische Autokratie – oder das absolut Gute – für die Intelligenzija war dies das einfache russische Volk. Semen Frank schreibt dazu: Die Intelligenzija glaube, dass es möglich sei, das absolute Glück auf Erden zu erreichen, und zwar durch eine bloße mechanische Beseitigung der Feinde des von ihr so vergötterten Volkes. Trotz ihrer Gottlosigkeit bleibe die Intelligenzija in religiösen Denkkategorien verhaftet – ihr „Gott“ sei das Volk, ihr „Teufel“ die zarische Selbstherrschaft.

Lenins „Partei neuen Typs“

Das Erlösungswerk, das der radikale Flügel der russischen Intelligenzija aus dem Lager der „Volkstümler“ (Narodniki) anstrebte, war im Wesentlichen auf Russland beschränkt, es war eher partikular als universal. Es ging den Narodniki in erster Linie um die Befreiung des leidenden russischen Volkes, das sie in die paradiesische, „lichte“ Zukunft führen wollten. Eine besondere Explosivität er-reichte indes diese chiliastische Sehnsucht der russischen Revolutionäre, als sie im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Verbindung mit dem marxistischen Utopismus einging. Das wichtigste Ergebnis dieser Synthese war die 1903 entstandene bolschewistische Partei – die erste totalitäre Partei der Moderne –, die im Westen keine Entsprechung besaß. Diese zentralisierte, straff disziplinierte Organisation von Berufsrevolutionären unterschied sich grundlegend von allen anderen Parteien der 1889 gegründeten Zweiten Internationale. Als Vorbild für diese Partei diente ihrem Gründer, Wladimir Lenin, keineswegs die in der Zweiten Internationale am meisten bewunderte Partei – die SPD. Eine solche Partei konnte sich nur in einem Staat entfalten, in dem die Opposition über gewisse legale Betätigungsmöglichkeiten verfügte. Russland hingegen war zur Zeit der Gründung der bolschewistischen Partei noch eine autokratische Monarchie ohne Parlament und ohne legale politische Parteien. Erst nach der Revolution von 1905 sollte sich das Zarenreich in eine halbkonstitutionelle Monarchie verwandeln. So suchte Lenin nach organisatorischen Vorbildern für seine Partei nicht im Westen, sondern in Russland selbst. Er fand dieses Vorbild in der Organisation der Narodnaja wolja. Als orthodoxer Marxist lehnte Lenin zwar den individuellen Terror ab, die organisatorische Struktur der Narodnaja wolja imponierte ihm aber. Es hatte sich bei ihr um eine disziplinierte und zentralisierte Verschwörerorganisation gehandelt. Eine solche Organisation, aber mit einem marxistischen Programm, wollte nun Lenin gründen: „Gebt uns eine Organisation von Revolutionären, und wir werden Russland aus den Angeln heben!, schrieb Lenin 1902 in seiner programmatischen Schrift Was tun?. 15 Jahre später vermochte er mit Hilfe seiner Partei das erste totalitäre Regime der Moderne zu errichten und damit die Geschichte des 20. Jahrhunderts in neue Bahnen zu lenken.

Paradigmenwechsel im „Orden“ der Intelligenzija

In der Zeit, als Lenin seine Schrift veröffentlichte, bahnte sich indes innerhalb des Intelligenzija-„Ordens“ ein Paradigmenwechsel an. Eine Reihe seiner Mit-glieder begann sich, nicht zuletzt unter dem Einfluss der damals in Europa verbreiteten Fin-de-Siècle-Stimmung, vom revolutionären Credo zu distanzieren und sich immer stärker für philosophische bzw. religiöse Fragen zu interessieren. Bis dahin galten solche Beschäftigungen innerhalb des „Ordens“ als reine Zeitverschwendung: „Diejenigen, die sich in philosophische Probleme vertieften, wurden der Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen der Bauern und der Arbeiter verdächtigt“, so der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew.

Auf die russischen Unterschichten hatte sich diese Tendenzwende indes kaum ausgewirkt. Sie waren damals, nicht zuletzt infolge der unermüdlichen „Aufklärungsarbeit“ der Intelligenzija, gerade erst in Bewegung geraten. Auch bei den Unterschichten wurde allmählich die Verehrung des Zaren durch den bedingungslosen Glauben an die Revolution ersetzt. Nicht zuletzt deshalb wurde die Februarrevolution von 1917, die zum Sturz des letzten russischen Zaren geführt hatte, von ihnen euphorisch begrüßt. Ähnliches konnte man damals auch über beinahe alle politischen Gruppierungen im Lande sagen: „In jenen Tagen waren alle, von den Sozialisten bis zu den Schwarzen Hundertschaften (rechtsradikale Gruppierungen – L.L.), Revolutionäre und Demokraten“, schrieb einige Jahre später der russische Philosoph und Akteur der damaligen Ereignisse, Fjodor Stepun.

Solschenizyns umstrittene These

Warum hatte aber die im Februar 1917 errichtete „erste“ russische Demokratie etwa acht Monate später so gut wie keine Verteidiger mehr? Wodurch lässt sich das Scheitern dieses wohl freiheitlichsten Systems in der neuesten Geschichte Russlands, wenn man vielleicht von den ersten Jahren der im August 1991 entstandenen „zweiten“ russischen Demokratie absieht, erklären? Alexander Solschenizyn führt in seinem umstrittenen Buch über die Geschichte des russisch-jüdischen Verhältnisses („Zweihundert Jahre zusammen“) dieses Scheitern auf das aus seiner Sicht verhängnisvolle Wirken des wohl mächtigsten Organs der Revolution – des Exekutivkomitees des Petrograder Sowjets bzw. des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets – zurück. Die Führung des Sowjets und die Parteien, aus denen sie sich zusammensetzte, hätten angeblich da-nach gestrebt, die Revolution in immer radikalere Bahnen zu lenken. Diesen für Russland schädlichen Radikalismus des Exekutivkomitees erklärt Solschenizyn durch die vorwiegend nichtrussische Zusammensetzung dieses Gremiums, dem die Interessen Russlands angeblich gleichgültig gewesen seien.

Die wahren Sachverhalte werden durch diese Behauptung im Grunde auf den Kopf gestellt. Denn gerade diese angeblich „unrussische“ Führung des Sowjets bemühte sich in den ersten Monaten der Februarrevolution unentwegt um die Eindämmung der radikal-revolutionären Strömung, die damals die von Solschenizyn derart verklärten russischen Massen erfasste. Um gemeinsam mit den bürgerlich-liberalen Kräften diese anarchische Woge zu kanalisieren, traten ge-mäßigte sozialistische Führer des Sowjets Anfang Mai 1917 sogar in die „bürgerliche“ Provisorische Regierung ein. Und gerade deshalb verlor der Sowjet bei den Massen an Popularität: „Es besteht bei den Massen eine Art instinktiver Furcht, dass die Revolution zu früh ende“, sagt in diesem Zusammenhang der erste Außenminister der Provisorischen Regierung und Historiker Pawel Miljukow: „Sie haben das Gefühl, die Revolution würde fehlschlagen, wenn der Sieg von den gemäßigten Elementen allein davongetragen werde“.
Nicht zuletzt deshalb erzielten solche Parolen Lenins wie „Raubt das Geraubte!“ bei den russischen Bauern eine viel größere Resonanz als Warnungen der gemäßigten Führer des Sowjets vor allzu radikalen Forderungen und Verhaltensweisen.

Das politische Potential der „ersten“ russischen Demokratie

War der Zusammenbruch der „ersten“ russischen Demokratie unvermeidlich? Haben historische Deterministen, nicht zuletzt marxistischer Provenienz, Recht, wenn sie den Sieg der Bolschewiki im Oktober 1917 als den einzig möglichen Ausgang der Krise von 1917 bezeichnen? Diese Interpretation möchte ich zu-mindest partiell in Frage stellen. Denn die russische Demokratie verfügte im Jahre 1917 durchaus über ein politisches Potential, das sie aus welchen Gründen auch immer, nicht ausreichend nutze, was letztendlich ihren totalitären Gegnern zugute kam.

So gab es im Lager der gemäßigten Sozialisten, die das Rückgrat des im Februar errichteten Systems bildeten, durchaus Politiker, die das Wesen der bolschewistischen Gefahr rechtzeitig erkannten. Zu ihnen zählte einer der einflussreichsten Führer des Sowjets Iraklij Tsereteli. Tsereteli vertrat die Meinung, dass die größte Gefahr, die die russische Revolution nun bedrohe, nicht von rechts komme, wie die Mehrheit im Sowjet annehme, sondern von links: „Die Konterrevolution kann nur durch ein einziges Tor einfallen, das der Bolschewiki“, sagte er im Juni 1917.

Diese Worte klangen in den Ohren vieler gemäßigter Sozialisten beinahe blasphemisch. Sie betrachteten die Bolschewiki als einen integralen Bestandteil der „revolutionär-demokratischen“ Front. Die Erinnerung an die gemeinsame Zugehörigkeit zum Intelligenzija-„Orden“ spielte hier wohl eine wichtige Rolle. Demzufolge galt den demokratisch gesinnten Sozialisten eine eventuelle Entwaffnung der Bolschewiki als Schwächung des eigenen Lagers, als Verrat an der Sache der Revolution. Tsereteli setzte sich mit dieser Position unentwegt auseinander. In seinen Erinnerungen schrieb er: Die nichtbolschewistische Mehrheit des Sowjets habe keine Macht gewollt, um nicht gezwungen zu sein, gegen die Bolschewiki nicht nur mit Worten, sondern auch mit Taten vorzugehen.

Diese These Tseretelis bedarf indes einer Korrektur. Im Verlaufe des Jahres 1917 gab es durchaus Situationen, in denen die russische Demokratie sich gegen die linksextreme Herausforderung durchaus zu wehren suchte, und zwar mit Erfolg. Dies vor allem während eines linksradikalen Putschversuches vom 3.-5. Juli 1917 in der russischen Hauptstadt. Die Entschlossenheit, mit der die russischen Demokraten damals bereit waren, die neue Staatsordnung zu schützen, wirkte geradezu lähmend auf die Rebellen. Schon beim ersten Anblick der regierungstreuen Truppen räumten sie das Feld. Etwa 800 Anführer der Juli-Revolte, darunter viele Bolschewiki, wurden verhaftet, probolschewistische Militäreinhei-ten wurden entwaffnet. Um einer Verhaftung zu entgehen, floh Lenin aus der Hauptstadt und lebte bis zum bolschewistischen Staatsstreich vom 25./26. Oktober 1917 in einem Versteck auf finnischem Territorium. Zur Diskreditierung der Bolschewiki trug zusätzlich die Tatsache bei, dass die Regierung eine Reihe von Dokumenten über die Zusammenarbeit der Bolschewiki mit den Deutschen der Öffentlichkeit zugänglich machte. Lenin drohte ein Prozess wegen Hochverrat.

Das Gespenst der „Gegenrevolution“

Warum gelangten dann die Bolschewiki, trotz dieses verheerenden Rückschlags, einige Monate später an die Macht? Dies hatte in erster Linie mit der damaligen Haltung der Mehrheit der nichtbolschewistischen Linken zu tun. Die Tatsache, dass die Bolschewiki während der Juli-Ereignisse versucht hatten, die bestehende Ordnung mit Gewalt zu stürzen, führte keineswegs zu ihrem Ausschluss aus dem Lager der „revolutionären Demokratie“. Sie wurden von ihren sozialistischen Widersachern weiterhin als integraler Bestandteil der sozialistischen Solidargemeinschaft angesehen. Nicht zuletzt deshalb lehnten die Vertreter der Sowjetmehrheit ein allzu hartes Vorgehen gegen die Bolschewiki ab. Die-se Milde des demokratischen Staates gegenüber seinen extremen Gegnern wurde von den Bolschewiki als Schwäche interpretiert. Später sagte Lenin, die Bolschewiki hätten im Juli 1917 eine Reihe von Fehlern gemacht. Ihre Gegner hätten dies im Kampf gegen sie durchaus ausnutzen können: „Zum Glück besaßen unsere Feinde damals weder die Konsequenz noch die Entschlossenheit zu einem solchen Vorgehen“.

Die Bolschewiki profitierten auch von der Tatsache, dass die gemäßigten Sozialisten panische Angst vor einer „Gegenrevolution“ hatten und die Bolschewiki als potentielle Verbündete gegen die Gefahr von rechts betrachteten. Erforderte aber die Bekämpfung der gegenrevolutionären Gefahr wirklich die Mobilisierung aller linken Kräfte, auch solch militanter Antidemokraten wie die Bolschewiki? Das klägliche Scheitern des Putschversuchs von General Kornilow (Ende August 1917) zeigte, dass die Armee zum Kampf gegen die eigene Bevölkerung nicht mehr geeignet war. So brauchte die russische Demokratie keineswegs die Hilfe der Linksextremisten, um der Gefahr von rechts erfolgreich zu begegnen. Dennoch war die Angst der gemäßigten Sozialisten vor der Gegenrevolution derart überdimensional, dass sie ihre eignen Kräfte maßlos unterschätzen. Nicht zuletzt deshalb gaben sie den Bolschewiki, die infolge des gescheiterten Putschversuchs vom Juli entwaffnet worden waren, erneut die Waffen in die Hand. Dies war wohl die verhängnisvollste Folge der Kornilow-Affäre.

Nach dem Scheitern des Kornilow-Putsches verloren die Provisorische Regierung und die mit ihr verbündeten gemäßigten Sozialisten weitgehend die politische Initiative. Wie gelähmt beobachteten sie das entschlossene und zielstrebige Vorgehen der Bolschewiki, die nun meisterhaft zeigten, wie man die demokratischen Freiheiten dazu ausnutzt, die Demokratie zu beseitigen. Nicht zuletzt des-halb konnten sie praktisch im Alleingang, gegen den Willen der wichtigsten politischen Gruppierungen im Lande, die Alleinherrschaft in Russland erobern.
Das Scheitern der „ersten“ russischen Demokratie wird oft auf die Eigenart der russischen Mentalität oder auf den geschichtlichen „Sonderweg“ Russlands zurückgeführt, der sich vom Weg des Westens grundlegend unterschied. All das spielte bei den Ereignissen von 1917 sicherlich eine wichtige Rolle, allerdings keineswegs eine ausschließliche. Denn das Scheitern des nach der Februarrevolution errichteten Systems hatte auch Ursache allgemeiner Art, die weit über das spezifisch Russische hinausgingen. So fand im damaligen Russland die erste Konfrontation eines demokratischen Gemeinwesens mit einer totalitären Partei statt, die skrupellos alle Freiheiten der Demokratie ausnutzte, um diese zu zerstören. Man darf nicht vergessen, dass etwa fünf Jahre später die italienische und fünfzehn Jahre später die Weimarer Demokratie, trotz völlig unterschiedlicher Konstellationen, an vergleichbaren Herausforderungen scheitern sollten, und zwar mitten im Frieden und nicht im vierten Kriegsjahr, wie dies in Russland der Fall gewesen war. So hat das Scheitern der „ersten“ russischen Demokratie die tiefe Krise der demokratischen Systeme in ganz Europa bloß um einige Jahre vorweggenommen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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