Happy Birthday Bundesverfassungsgericht!

All you need is law. Das Bundesverfassungsgericht feierte am 28.9.2021 seinen 70. Geburtstag. Und es wird immer jünger. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Udo Pohlmann auf Pixabay

„Dann geh ich halt bis nach Karlsruhe!“ Ja, den Satz hab ich als Anwalt schon häufiger gehört, wenn Mandanten ihren Prozess verloren und sich dabei ungerecht behandelt gefühlt haben. Es bringt zwar nicht viel, zu Fuß nach Karlsruhe zu gehen, denn alleine dadurch gewinnt man keinen Prozess, aber es kann sich schon lohnen, das dortige Bundesverfassungsgericht „anzurufen“. Natürlich nicht mit einem Telefon, aber als Bürger zum Beispiel mit einer Verfassungsbeschwerde. Die sind zwar nur in den seltensten Fällen erfolgreich, aber wenn sie denn mal erfolgreich sind, hat das oft eine Wirkung weit über den konkreten Fall hinaus.

Zwitterwesen

Und nun gibt es diese mächtige Zwitterwesen seit 70 Jahren. Zwitterwesen, weil das Bundesverfassungsgericht zum einen Gericht, zum anderen aber neben Bundestag, Bundesrat, Bundespräsident und Bundesregierung eines der ständigen fünf  Verfassungsorgane ist.

Seit dem 28.9.1951 bearbeitete das Gericht ca. eine Viertelmillion Verfassungsbeschwerden. Das ist eine Menge Zeug. Und nur ein Bruchteil davon wird überhaupt zur Entscheidung angenommen und ein noch kleinerer Teil, nämlich nur 2,3%, davon hatte bisher tatsächlich Erfolg.

Für die insgesamt 16 Richter in zwei Senaten ist das ein ordentliches Arbeitspensum, das sie aber bisher jedenfalls noch bewältigt bekommen. Es dauert zwar mitunter ziemlich lange, bis so ein Verfahren abgeschlossen ist, aber in Eilfällen kann das Gericht auch ganz schön flink sein.

Das Gericht ist der Hüter des Grundgesetzes. Seine Entscheidungen sind unanfechtbar und müssen von allen Staatsorganen beachtet werden. Was allerdings passieren würde, wenn z.B. eine Regierung das nicht tun würde, wurde bisher noch nicht ausprobiert. Da das Gericht keine eigene Exekutive oder gar Truppen hat, wäre es vermutlich auf den Schutz der Bevölkerung angewiesen. Angesichts der Akzeptanz, die das Gericht in der Bevölkerung genießt, habe ich keine Zweifel daran, dass diese sich schützend vor den Richtern aufbauen würde. Und ich bin genauso sicher, dass die Abschaffung des Verfassungsgerichts die erste Maßnahme wäre, sollte jemals wieder eine Mehrheit eine totalitäre Regierung wählen. Dann würde übrigens tatsächlich mal das Widerstandrecht greifen, auf das gerade die Wir-sind-das-Volk-Helden sich so gerne irrig berufen.

Wahlverfahren

Auf Kritik stößt immer wieder das Wahlverfahren für die Richter.

Zwar sagt das GG nur lapidar …

Art. 94 Abs. 1 S. 2 GG: „Die Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts werden je zur Hälfte vom Bundestage und vom Bundesrate gewählt.“

… aber tatsächlich werden die Kandidaten mehr oder weniger offen zwischen den Parteien ausgekungelt. Nach dem Prinzip wählst Du meinen Kandidaten, wähl ich Deinen. Auf die Qualität der Rechtsprechung hat das bisher meines Wissens allerdings keinen negativen Einfluss gehabt. Es garantiert auch, dass die jeweilige Opposition an der Auswahl der Verfassungsrichter beteiligt ist und so eine gewisse Ausgewogenheit entsteht.

Die Aufgaben des Gerichts sind vielfältig wie in § 13 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes aufgeführt:

§ 13

Das Bundesverfassungsgericht entscheidet

1.

über die Verwirkung von Grundrechten (Artikel 18 des Grundgesetzes),

2.

über die Verfassungswidrigkeit von Parteien (Artikel 21 Abs. 2 des Grundgesetzes),

2a.

über den Ausschluss von Parteien von staatlicher Finanzierung (Artikel 21 Absatz 3 des Grundgesetzes),

3.

über Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundestages, die die Gültigkeit einer Wahl oder den Erwerb oder Verlust der Mitgliedschaft eines Abgeordneten beim Bundestag betreffen (Artikel 41 Abs. 2 des Grundgesetzes),

3a.

über Beschwerden von Vereinigungen gegen ihre Nichtanerkennung als Partei für die Wahl zum Bundestag (Artikel 93 Absatz 1 Nummer 4c des Grundgesetzes),

4.

über Anklagen des Bundestages oder des Bundesrates gegen den Bundespräsidenten (Artikel 61 des Grundgesetzes),

5.

über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlaß von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes),

6.

bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln über die förmliche oder sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit von Landesrecht mit sonstigem Bundesrecht auf Antrag der Bundesregierung, einer Landesregierung oder eines Viertels der Mitglieder des Bundestages (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes),

6a.

bei Meinungsverschiedenheiten, ob ein Gesetz den Voraussetzungen des Artikels 72 Abs. 2 des Grundgesetzes entspricht, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 2a des Grundgesetzes),

6b.

darüber, ob im Falle des Artikels 72 Abs. 4 die Erforderlichkeit für eine bundesgesetzliche Regelung nach Artikel 72 Abs. 2 nicht mehr besteht oder Bundesrecht in den Fällen des Artikels 125a Abs. 2 Satz 1 nicht mehr erlassen werden könnte, auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder der Volksvertretung eines Landes (Artikel 93 Abs. 2 des Grundgesetzes),

7.

bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der Ausübung der Bundesaufsicht (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 3 und Artikel 84 Abs. 4 Satz 2 des Grundgesetzes),

8.

in anderen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern, zwischen verschiedenen Ländern oder innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4 des Grundgesetzes),

8a.

über Verfassungsbeschwerden (Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a und 4b des Grundgesetzes),

9.

über Richteranklagen gegen Bundesrichter und Landesrichter (Artikel 98 Abs. 2 und 5 des Grundgesetzes),

10.

über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes, wenn diese Entscheidung durch Landesgesetz dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen ist (Artikel 99 des Grundgesetzes),

11.

über die Vereinbarkeit eines Bundesgesetzes oder eines Landesgesetzes mit dem Grundgesetz oder die Vereinbarkeit eines Landesgesetzes oder sonstigen Landesrechts mit einem Bundesgesetz auf Antrag eines Gerichts (Artikel 100 Abs. 1 des Grundgesetzes),

11a.

über die Vereinbarkeit eines Beschlusses des Deutschen Bundestages zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses mit dem Grundgesetz auf Vorlage nach § 36 Abs. 2 des Untersuchungsausschussgesetzes,

12.

bei Zweifeln darüber, ob eine Regel des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts ist und ob sie unmittelbar Rechte und Pflichten für den einzelnen erzeugt, auf Antrag des Gerichts (Artikel 100 Abs. 2 des Grundgesetzes),

13.

wenn das Verfassungsgericht eines Landes bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder des Verfassungsgerichts eines anderen Landes abweichen will, auf Antrag dieses Verfassungsgerichts (Artikel 100 Abs. 3 des Grundgesetzes),

14.

bei Meinungsverschiedenheiten über das Fortgelten von Recht als Bundesrecht (Artikel 126 des Grundgesetzes),

15.

in den ihm sonst durch Bundesgesetz zugewiesenen Fällen (Artikel 93 Abs. 3 des Grundgesetzes).

Verfassungsbeschwerde

Die für den einzelnen Bürger wichtigste Aufgabe ist in Ziffer 8a geregelt: die Verfassungsbeschwerde. Die steht jedem zur Verfügung, und die kann ein wahrer Hammer sein, wie zuletzt das Urteil zum Klimaschutzgesetz gezeigt hat. (Näheres hier)

Es ist allerdings sinnvoll, sich bei der Verfassungsbeschwerde der Hilfe eines Anwaltes zu bedienen, der sich mit so was auskennt. Sie machen ja auch die Herzoperation Ihres Ehepartners nicht selbst. Leider meinen offenbar viele, nur weil sie das selbst machen dürften, würden sie es auch schon können. Isnichso.

Auch die Entscheidung über die Zulässigkeit der Sterbehilfe vom 26.2.2020 war ein Meilenstein, sprach das Gericht doch klar aus, dass das Grundgesetz das Recht eines jeden Bürgers auf einen Freitod garantiert, ebenso wie das Recht, dabei fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. (Näheres hier)

Für viele Menschen unmittelbar im Portemonnaie zu spüren war die Entscheidung zu Hartz IV aus dem Jahr 2010, bei der das Gericht dafür sorgte, dass die Leistungen immer wieder angepasst werden müssen. In einer weiteren Entscheidung aus 2014 wurde betont, dass zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG) die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden dürfen und die Höhe existenzsichernder Leistungen insgesamt tragfähig begründbar sein müssen.

Wie ernst es das Grundgesetz mit dem Schutz der Freiheitsrechte meint, wurde auch in der Entscheidung über die Auslandsüberwachung deutlich gemacht (Näheres hier)

Das sind nur ein paar Beispiele. Es gibt noch viele andere Entscheidungen, die insbesondere im Bereich der Gleichstellung von Homosexuellen und der Religionsfreiheit Leuchtturmfunktion hatten.

Auch auf dem Gebiet der Meinungsfreiheit hat das Gericht die Leitlinien gesetzt, indem es zum Beispiel der zu schnellen Annahme sogenannter Schmähkritik bei Beleidigungsverfahren zugunsten der Meinungsfreiheit einen Riegel vorgeschoben hat.

Ein Fan

Ich gebe es offen zu, ich bin ein großer Fan des Bundesverfassungsgerichts als Verteidiger der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und ich freue mich, dass wir in Deutschland ein solches Gericht haben. Natürlich muss einem nicht jede Entscheidung des Gerichts gefallen und ich kann sehr gut verstehen, dass es dem ein oder anderen Politiker ein Dorn im Auge ist. Ist ja auch blöd, wenn man sich tolle Gesetze ausdenkt und das Bundesverfassungsgericht die dann in die Tonne kloppt. Aber genau das ist ja die Aufgabe des Gerichts: Zu überwachen, ob sich der Gestaltungsraum der Politik nicht in Bereiche außerhalb der Verfassung bewegt.

Das Gericht achtet auf die Grenzen, die von der Verfassung vorgegeben werden. Demokratie ist nicht die Diktatur der Mehrheit, sodass auch mit großer Mehrheit getroffene Entscheidungen der Politik vom Gericht zurückgepfiffen werden, wenn dadurch Grundrechte der Minderheit verletzt werden. Oder wie es Verfassungsrichter Peter Müller einmal in einem Interview ausdrückte:

Die Idee der Demokratie ist, dass die Mehrheit in vorgegebenen, rechtsstaatlichen Strukturen Herrschaft auf Zeit ausübt und nicht der aktuellen Minderheit ihre Rechte nimmt. Das Wachen über die Rechte der Minderheit ist die wesentliche Aufgabe des Rechtsstaates und der Verfassungsgerichte. Deshalb steht Rechtsstaatlichkeit erstens mit Verfassungsgerichtsbarkeit in einem vielleicht nicht notwendigen, aber doch ziemlich plausiblen Zusammenhang und zweitens mit Demokratie nicht im Widerspruch, sondern im Verhältnis gegenseitiger Bedingung.

Und auch wenn man heute schon mal Politiker von „Entfesselung“ reden hört, dann sollten diese Amateurhoudinis sich immer darüber im Klaren sein, dass das Grundgesetz seine wenigen Fesseln mit Bedacht gewählt hat. Macht braucht auch in der Demokratie rechtsstaatliche Fesseln, weil sie sonst schnell zur Diktatur gerät.

Für seine 70 Jahre ist das Gericht jedenfalls ziemlich fit und ich wünsche mir, dass das auch in Zukunft so bleibt. Das Gericht hat die Wirkung des Grundgesetzes in den Alltag gebracht und übermütige Politiker, Verwaltungen und Gerichte immer wieder in die verfassungsrechtlichen Schranken verwiesen. Dabei mögen seine Entscheidungen zwar häufig auch eine politische Wirkung gehabt haben; dass sie sich aber von der juristischen Argumentation gelöst hätten und ihrerseits politisch gewesen wären, behaupten wohl nur die, die von deren Wirkungen getroffen wurden. Wer lässt sich schon gerne nachsagen, er habe reihenweise verfassungswidrige Gesetze erlassen.

Der Alte

In seiner Einweihungsrede sagte der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer u.a.:

Die hinter uns liegenden Jahrzehnte haben jedem denkenden Deutschen die absolute Notwendigkeit eines Organs zum Bewusstsein geführt, das im staatlichen und verfassungsmäßigen Leben das Recht als den schlechthin entscheidenden Faktor erkannt hat. Die überragende Bedeutung, die das Bundesverfassungsgericht in unserem staatlichen Leben erhalten soll, ist dadurch gekennzeichnet, dass es als der oberste Hüter des Rechts im Staate in Erscheinung zu treten hat. Gekennzeichnet sind damit die Größe der Aufgabe, aber auch zugleich die Größe der Verantwortung, die auf den Schultern der Mitglieder, des Vizepräsidenten und des Präsidenten ruhen.

Aufgabe und Verantwortung sind aus mehrfachen Gründen besonders groß. Unser junges staatliches Gefüge ist unter inneren und äußeren Umständen aufgebaut worden, die einer staatlichen Entwicklung nicht besonders günstig waren. Das Bundesverfassungsgericht hat nicht die Möglichkeit, aus früheren reichen Quellen der Erkenntnis und der Erfahrung, die eine vorhandene Tradition jedem staatlichen Orga­nismus und besonders einem gerichtlichen Organ gewährt, schöpfen zu können. Und vor allem: Das Bundesverfassungsgericht beginnt seine Tätigkeit in einer Zeit, in der ganz allgemein, besonders aber auch in unserem Volke, der Rechtsgedanke an sich schweren Schaden gelitten hat und vielen zu einem überholten antiquierten Begriff geworden ist.

Ihre besondere Aufgabe wird es daher sein, im deutschen Volke die Überzeugung wiederzuerwecken, dass das Recht die einzig dauerhafte und entscheidende Grundlage eines Volkes und der menschlichen Gesellschaft überhaupt darstellt. Die Bundesregierung weiß, dass Sie sich von diesem Gedanken bei ihrer Arbeit leiten lassen werden. Sie weiß zugleich, dass Sie dieselbe Überzeugung besitzen, die davon aus­geht, dass allein das Recht das Fundament eines Volkes sein kann.

Diesen Wünschen und Erwartungen ist das Gericht gerecht geworden und ich bin sicher, das nun 70 Jahre alte Gericht ist auch in Zukunft noch für manche positive Überraschung gut. Ich gratuliere ganz herzlich zum Jubiläum. Glückwunsch, Bundesverfassungsgericht!

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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