Schöner Sterben?

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum § 217 StGB hat für einige Aufregung gesorgt. Dabei war sie keineswegs überraschend. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz


Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Das in § 217 StGB normierte Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) von zur Selbsttötung entschlossenen Menschen in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Das gilt auch dann, wenn die Regelung in enger Auslegung ausschließlich die von Wiederholungsabsicht getragene Förderung einer Selbsttötung als Akt eigenhändiger Beendigung des eigenen Lebens erfasst.

So steht es unter Ziffer 202 des Aufsehen erregenden Urteils vom 26. Februar 2020 – 2 BvR 2347/15, dessen vollständige Lektüre ich dringend empfehle.

Für manche Kommentatoren ist dieses Urteil

 in Wahrheit ein ethischer Dammbruch, dessen Konsequenzen wir in ein paar Jahren als böse Quittung zu spüren bekommen werden. (Birgit Kelle)

Diese Meinung darf man selbstverständlich vertreten. Aber ist die Entscheidung deshalb falsch?

Grundsätze

Zunächst ein paar grundsätzliche Dinge.

Die Selbsttötung ist keine Straftat, wie Mord oder Totschlag, weil der Handelnde keinen anderen Menschen tötet. Deshalb ist ein Suizid auch kein Mord und das Wort „Selbstmord“ völliger Unfug. An einem Suizid darf Sie auch niemand hindern, es sei denn, der Entschluss dazu beruht auf einer psychischen Störung. Da greift dann das PsychKG. Aber wenn Sie geschäftsfähig sind, können Sie sich auch ungehindert umbringen, wenn Sie das denn gerne möchten. Es steht niemandem zu, das zu verhindern. Das war in der Bundesrepublik schon immer so.

Und weil die Selbsttötung nicht strafbar ist, darf man daran auch als Gehilfe straffrei teilnehmen. Man darf sogar dazu anstiften, denn auch die Anstiftung setzt eine Haupttat voraus. Nett wäre das zwar vermutlich nicht, aber hier geht es ja nicht um Nettigkeiten. Man dürfte als Helfer das todbringende Medikament besorgen, die Waffe, das Gift oder was auch immer gewünscht ist. Man darf den Lebensmüden auch ins Ausland bringen, damit er sich dort beim Suizid helfen lässt. Hilfe zum Suizid war bis zur Schaffung des § 217 StGB strafrechtlich kein wirkliches Problem gewesen.

Nur selbst aktiv töten, auch wenn’s verlangt wird, ist strafbar. Also selbst die Spritze setzen oder ein Kissen aufs Gesicht drücken, geht gerade nicht. Das bedeutet aber nicht, dass ein Arzt nicht auch ein schmerzlinderndes Medikament wie Morphium in hoher Dosierung geben dürfte, nur weil es dann eine lebensverkürzende Wirkung hätte. Das muss er sogar, wenn der Patient das will. Eine Verweigerung wäre – so verrückt das auch klingen mag – eine Körperverletzung, wenn der Patient deshalb Schmerzen erleiden müsste. Standesrechtliche Einschränkungen – so hat es zumindest das Verwaltungsgericht in Berlin gesehen – “sind auf der Basis bestehender Regelungen jedenfalls nicht zulässig”.

Nun hatte die schwarz-gelbe Koalition im Jahre 2013 die Idee, die geschäftsmäßige Hilfe zum Suizid, die bis dahin nicht ausdrücklich geregelt war, zu verbieten und schuf den § 217.

§ 217 Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung

(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.

Das klang so ähnlich wie der alte Kuppelei-Paragraf, wo es um die vorsätzliche Vermittlung und Beförderung der sogenannten Unzucht ging. Hier ginge es um ein geschäftsmäßiges Rendezvous mit dem Tod. Der zweite Satz war gesetzestechnisch natürlich schon höherer Blödsinn, weil der „nicht gewerbsmäßig handelnde Teilnehmer“ sich schon nach dem ersten Satz nicht strafbar machen würde.

Erst am 6. November 2015 beschloss dann der Bundestag das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“, welches helfen sollte, die Tätigkeit von Sterbehilfevereinigungen wie „Sterbehilfe Deutschland“, aber auch Suizidhilfe durch Einzelpersonen einzuschränken.

Zu weit gefasst

Wegen des viel zu weit gefassten Tatbestandes, der eben nicht nur kommerzielle Sterbehilfe, sondern auch Ärzte, Pfleger und weite Teile der Palliativmedizin erfasste, war sich ein großer Teil der juristischen Wissenschaft schon sehr schnell sicher, dass diese Vorschrift vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden könnte. Genau das ist nun geschehen.

Kerngedanke der Entscheidung ist das aus Art. 2 in Verbindung mit Art. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht.

1. Das Recht des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich das Leben zu nehmen, ist vom Gewährleistungsgehalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) umfasst.

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a) Die Achtung und der Schutz der Menschenwürde und der Freiheit sind grundlegende Prinzipien der Verfassungsordnung, die den Menschen als eine zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähige Persönlichkeit begreift (vgl. BVerfGE 5, 85 <204>; 45, 187 <227>). Das allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt als „unbenanntes“ Freiheitsrecht Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (stRspr, vgl. BVerfGE 99, 185 <193>; 101, 361 <380>; 106, 28 <39>; 118, 168 <183>; 120, 274 <303>; 147, 1 <19 Rn. 38>).

206

Der spezifische Bezug des allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu Art. 1 Abs. 1 GG kennzeichnet seinen Schutzgehalt: Bei der Bestimmung von Inhalt und Reichweite des – nicht abschließend umschriebenen – Schutzbereichs des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist zu berücksichtigen, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und gegenüber aller staatlichen Gewalt Achtung und Schutz beansprucht (vgl. BVerfGE 27, 344 <351>; 34, 238 <245>). Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet (vgl. BVerfGE 45, 187 <227>; 117, 71 <89>; 123, 267 <413>), umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität (vgl. BVerfGE 144, 20 <207 Rn. 539>). Damit ist ein sozialer Wert- und Achtungsanspruch verbunden, der es verbietet, den Menschen zum „bloßen Objekt“ staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl. BVerfGE 27, 1 <6>; 45, 187 <228>; 109, 133 <149 f.>; 117, 71 <89>; 144, 20 <207 Rn. 539 f.>). Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt (vgl. BVerfGE 45, 187 <228>; 109, 133 <171>).

Auch das ist nichts wirklich Neues, sondern jahrzehntelange Rechtsprechung des BVerfG.

Dass dieses Recht auch das Recht auf einen selbstbestimmten Tod beinhaltet, macht das Gericht wie folgt deutlich:

Namentlich die selbstbestimmte Wahrung der eigenen Persönlichkeit setzt voraus, dass der Mensch über sich nach eigenen Maßstäben verfügen kann und nicht in Lebensformen gedrängt wird, die in unauflösbarem Widerspruch zum eigenen Selbstbild und Selbstverständnis stehen (vgl. BVerfGE 116, 243 <264 f.>; 121, 175 <190 f.>; 128, 109 <124, 127>).

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b) Danach umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Ausdruck persönlicher Autonomie auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, welches das Recht auf Selbsttötung einschließt (aa). Der Grundrechtsschutz erstreckt sich auch auf die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und sie, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen (bb).

Auch wenn es dem ein oder anderen aus religiösen oder ethischen Gründen nicht schmecken mag, und er den Suizid als Sünde oder widernatürlich betrachtet: Das kann er oder sie für sich selbst handhaben wie er/sie möchte, aber man kann eben seine Auffassung und Glaubensinhalte nicht – auch und gerade nicht – anderen mit Hilfe des Staates aufzwingen.

aa) (1) Die Entscheidung, das eigene Leben zu beenden, ist von existentieller Bedeutung für die Persönlichkeit eines Menschen. Sie ist Ausfluss des eigenen Selbstverständnisses und grundlegender Ausdruck der zu Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Person. Welchen Sinn der Einzelne in seinem Leben sieht und ob und aus welchen Gründen sich eine Person vorstellen kann, ihr Leben selbst zu beenden, unterliegt höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen. Der Entschluss betrifft Grundfragen menschlichen Daseins und berührt wie keine andere Entscheidung Identität und Individualität des Menschen. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht in seiner Ausprägung als Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst deshalb nicht nur das Recht, nach freiem Willen lebenserhaltende Maßnahmen abzulehnen und auf diese Weise einem zum Tode führenden Krankheitsgeschehen seinen Lauf zu lassen (vgl. im Ergebnis auch BVerfGE 142, 313 <341 Rn. 79>; BGHSt 11, 111 <113 f.>; 40, 257 <260, 262>; 55, 191 <196 f. Rn. 18, 203 f. Rn. 31 ff.>; BGHZ 163, 195 <197 f.>). Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben erstreckt sich auch auf die Entscheidung des Einzelnen, sein Leben eigenhändig zu beenden. Das Recht, sich selbst das Leben zu nehmen, stellt sicher, dass der Einzelne über sich entsprechend dem eigenen Selbstbild autonom bestimmen und damit seine Persönlichkeit wahren kann.

Und dann macht das BVerfG deutlich, dass dieses Recht nicht nur für leidende oder unheilbar Kranke, sondern für jeden Menschen gilt.

Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist als Ausdruck personaler Freiheit nicht auf fremddefinierte Situationen beschränkt. Das den innersten Bereich individueller Selbstbestimmung berührende Verfügungsrecht über das eigene Leben ist insbesondere nicht auf schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Abgesehen davon, dass eine solche Einschränkung in der Praxis zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten führen würde, träte sie in Widerspruch zu der das Grundgesetz bestimmenden Idee von der Würde des Menschen und seiner freien Entfaltung in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung (vgl. BVerfGE 80, 138 <154> für die allgemeine Handlungsfreiheit). Die Verwurzelung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG impliziert gerade, dass die eigenverantwortliche Entscheidung über das eigene Lebensende keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung bedarf. Art. 1 Abs. 1 GG schützt die Würde des Menschen, wie er sich in seiner Individualität selbst begreift und seiner selbst bewusst wird (vgl. BVerfGE 49, 286 <298>; 115, 1 <14>). Maßgeblich ist der Wille des Grundrechtsträgers, der sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit entzieht (vgl. BVerfGE 128, 282 <308>; 142, 313 <339 Rn. 74> für Heileingriffe). Die Selbstbestimmung über das eigene Lebensende gehört zum „ureigensten Bereich der Personalität“ des Menschen, in dem er frei ist, seine Maßstäbe zu wählen und nach ihnen zu entscheiden (vgl. BVerfGE 52, 131 <175> abw. Meinung Hirsch, Niebler und Steinberger für ärztliche Heileingriffe). Dieses Recht besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.

Nun gab und gibt es schon immer eine juristische Argumentation dahingehend, dass die Würde des Menschen sein Leben voraussetzen würde – ohne Leben keine Würde –, und der Staat deshalb dieses Leben auch gegen den Willen des Menschen zu schützen hätte. Diesem Argument erteilt das Gericht aber eine klare Abfuhr:

Das Recht, sich selbst zu töten, kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich der Suizident seiner Würde begibt, weil er mit seinem Leben zugleich die Voraussetzung seiner Selbstbestimmung und damit seine Subjektstellung aufgibt (vgl. aus ethisch-moralischer Sicht aber Böckenförde, in: Stimmen der Zeit 2008, S. 245 <256>; ähnlich Niestroj, Die rechtliche Bewertung der Selbsttötung und die Strafbarkeit der Suizidbeteiligung, 1983, S. 75; Lorenz, in: Isensee/Kirchhof, HStR VI, 2. Aufl. 2001, § 128 Rn. 62; ders., JZ 2009, S. 57 <60>; a.A. etwa Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, 2004, S. 236). Zwar ist das Leben die vitale Basis der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 39, 1 <41 f.>; 88, 203 <252>; 115, 118 <152>). Daraus kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass eine auf einen freien Willen zurückgehende Selbsttötung der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde widerspräche. Die Menschenwürde, die dem Einzelnen ein Leben in Autonomie gewährleistet, steht der Entscheidung des zur freien Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fähigen Menschen, sich zu töten, nicht entgegen. Die selbstbestimmte Verfügung über das eigene Leben ist vielmehr unmittelbarer Ausdruck der der Menschenwürde innewohnenden Idee autonomer Persönlichkeitsentfaltung; sie ist, wenngleich letzter, Ausdruck von Würde. Der mit freiem Willen handelnde Suizident entscheidet sich als Subjekt für den eigenen Tod (vgl. BVerfGE 115, 118 <160 f.>). Er gibt sein Leben als Person selbstbestimmt und nach eigener Zielsetzung auf. Die Würde des Menschen ist folglich nicht Grenze der Selbstbestimmung der Person, sondern ihr Grund: Der Mensch bleibt nur dann als selbstverantwortliche Persönlichkeit, als Subjekt anerkannt, sein Wert- und Achtungsanspruch nur dann gewahrt, wenn er über seine Existenz nach eigenen, selbstgesetzten Maßstäben bestimmen kann.

Nun bedeutet das aber ja nicht unbedingt, dass das geschäftsmäßige – also auf Wiederholung angelegte – Betreiben der Suizidhilfe etwa durch Sterbehilfevereine unbeschränkt erlaubt sein müsste.

Aber auch hier findet das Gericht recht klare Worte:

Das von Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.

213

Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln. Zur grundrechtlich geschützten Freiheit gehört daher auch die Möglichkeit, auf Dritte zuzugehen, bei ihnen Unterstützung zu suchen und von ihnen im Rahmen ihrer Freiheit angebotene Hilfe anzunehmen. Das gilt insbesondere auch für denjenigen, der erwägt, sein Leben eigenhändig zu beenden. Gerade er sieht sich vielfach erst durch die fachkundige Hilfe kompetenter und bereitwilliger Dritter, insbesondere Ärzte, in der Lage, hierüber zu entscheiden und gegebenenfalls seinen Suizidentschluss in einer für ihn zumutbaren Weise umzusetzen. Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehung dritter Personen abhängig und hängt die freie Persönlichkeitsentfaltung in dieser Weise an der Mitwirkung eines anderen (vgl. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, 1976, S. 80 f., 84, 88 ff.), schützt das Grundrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten, beschränkt wird.

Das bedeutet nun aber nicht, dass der Gesetzgeber sich aus der ganzen Problematik heraushalten müsste und jede Form der geschäftsmäßigen, auch kommerziellen, Sterbehilfe jetzt auf alle Zeit und unbeschränkt erlaubt werden müsste. Denn die Gefahr eines gesellschaftlichen Drucks auf den Einzelnen, nun endlich den Löffel abzugeben, um das Erbe oder auch nur die Rentenkasse zu schonen, kann man nicht vor der Hand weisen. Eine meiner Tanten, zu dem Zeitpunkt bereits 95 Jahre alt, fragte mich einmal im Hinblick auf ihr Erspartes, von dem sie ohne jede staatliche Hilfe ihren Pflegeheimaufwand bezahlte, wie lange sie denn noch leben dürfe. Das war schon erschreckend.

Der Gesetzgeber darf aber einer Entwicklung entgegensteuern, welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen. Der Einzelne darf – auch jenseits konkreter Einflussnahmen durch Dritte – nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein. Zwar kann Willensfreiheit nicht damit gleichgesetzt werden, dass der Einzelne bei seiner Entscheidung in vollkommener Weise frei von äußeren Einflüssen ist. Menschliche Entscheidungen sind regelmäßig von gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren beeinflusst; Selbstbestimmung ist immer relational verfasst. Da der Schutz des Lebens dem Einzelnen von der Verfassung als nicht rechtfertigungsbedürftiger Selbstzweck zugesagt ist und er auf der unbedingten Anerkennung der Person in ihrer bloßen Existenz beruht, darf und muss der Gesetzgeber aber gesellschaftlichen Einwirkungen wirksam entgegentreten, die als Pressionen wirken können und das Ausschlagen von Suizidangeboten von Seiten Dritter rechtfertigungsbedürftig erscheinen lassen. Entsprechend kann er Vorkehrungen treffen, dass Personen nicht in schweren Lebenslagen in die Situation gebracht werden, sich mit solchen Angeboten auch nur näher befassen oder sich hierzu explizit verhalten zu müssen.

Nützlichkeit

Und auch den Bedenken von Birgit Kelle trägt die Entscheidung durchaus Rechnung:

Auch die Einschätzung des Gesetzgebers, dass geschäftsmäßige Suizidhilfe zu einer „gesellschaftlichen Normalisierung“ der Suizidhilfe führen und sich der assistierte Suizid als normale Form der Lebensbeendigung insbesondere für alte und kranke Menschen etablieren könne, die geeignet sei, autonomiegefährdende soziale Pressionen auszuüben, ist nachvollziehbar. Nicht zuletzt angesichts steigenden Kostendrucks in den Pflege- und Gesundheitssystemen ist es nicht unplausibel, dass einer ungeregelten Zulassung der geschäftsmäßigen Sterbe- und Suizidhilfe diese Wirkung zukommen kann. Ebenso darf es der Gesetzgeber als Gefahr einer Normalisierung der Suizidhilfe ansehen, dass Personen durch ihr gesellschaftliches und familiäres Umfeld in die Situation gebracht werden können, sich gegen ihren Willen mit der Frage der Selbsttötung auseinandersetzen zu müssen, und mit Verweis auf Nützlichkeiten unter Erwartungsdruck zu geraten.

Und dann mach das Gericht relativ deutlich, dass der Staat nicht einfach mal das Strafrecht verwenden darf – was er auch sonst gerne tut, wenn ihm nichts Besseres einfällt und er kein Geld in die Hand nehmen will, um ein Problem zu beseitigen –, um Menschen am Suizid zu hindern, sondern dass er auch etwas tun muss, das die Situation der Menschen so weit verbessert, dass sie gar nicht erst in eine suizidale Lage geraten:

Die Anerkennung des Rechts auf selbstbestimmtes Sterben versagt dem Gesetzgeber nicht, allgemeine Suizidprävention zu betreiben und insbesondere krankheitsbedingten Selbsttötungswünschen durch den Ausbau und die Stärkung palliativmedizinischer Behandlungsangebote entgegenzuwirken. Der Staat genügt seiner Schutzpflicht für ein Leben in Autonomie gerade nicht allein dadurch, dass er Angriffe unterbindet, die diesem von anderen Menschen drohen. Er muss auch denjenigen Gefahren für die Autonomie und das Leben entgegentreten, die in den gegenwärtigen und absehbaren realen Lebensverhältnissen begründet liegen und eine Entscheidung des Einzelnen für die Selbsttötung und gegen das Leben beeinflussen können (vgl. BVerfGE 88, 203 <258> für das ungeborene Leben).

Sozialpolitik als Suizidvorsorge

Darauf folgen noch ein paar deutliche Worte, die dem Gesetzgeber seine gesellschaftspolitischen Versäumnisse unter die Nase reiben:

Der Gesetzgeber darf sich seinen sozialpolitischen Verpflichtungen aber nicht dadurch entziehen, dass er autonomiegefährdenden Risiken durch die vollständige Suspendierung individueller Selbstbestimmung entgegenzuwirken sucht. Er kann weder Defiziten der medizinischen Versorgung und der sozialpolitischen Infrastruktur noch negativen Erscheinungsformen medizinischer Überversorgung, die jeweils geeignet sind, Ängste vor dem Verlust der Selbstbestimmung zu schüren und Selbsttötungsentschlüsse zu fördern, dadurch begegnen, dass er das verfassungsrechtlich geschützte Recht auf Selbstbestimmung außer Kraft setzt. Dem Einzelnen muss die Freiheit verbleiben, auf die Erhaltung des Lebens zielende Angebote auszuschlagen und eine seinem Verständnis von der Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz entspringende Entscheidung, das eigene Leben mit Hilfe bereitstehender Dritter zu beenden, umzusetzen. Ein gegen die Autonomie gerichteter Lebensschutz widerspricht dem Selbstverständnis einer Gemeinschaft, in der die Würde des Menschen im Mittelpunkt der Werteordnung steht, und die sich damit zur Achtung und zum Schutz der freien menschlichen Persönlichkeit als oberstem Wert ihrer Verfassung verpflichtet. Angesichts der existentiellen Bedeutung, die der Freiheit zur Selbsttötung für die selbstbestimmte Wahrung der Persönlichkeit zukommen kann, muss die Möglichkeit hierzu bei realitätsgerechter Betrachtung immer gewährleistet sein (vgl. Rn. 208 ff.).

Wenn der Staat sich in das Leben und Sterben des Einzelnen einmischen will, dann muss er das auf andere Weise tun, als mit dem gescheiterten § 217 StGB geschehen. Das Ding war schlicht und ergreifend verfassungsrechtlich unerträglich und nicht einmal verfassungskonform auslegbar,

§ 217 StGB ist einer verfassungskonformen Auslegung nicht zugänglich. Eine den Anwendungsbereich der Norm einschränkende Auslegung, die die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung unter bestimmten Umständen doch für zulässig erklärte, widerspräche den Absichten des Gesetzgebers und käme damit einer mit dem Gebot hinreichender gesetzlicher Bestimmtheit (Art. 103 Abs. 2 GG) unvereinbaren originären judikativen Rechtsetzung gleich (vgl. BVerfGE 47, 109 <120>; 64, 389 <393>; 73, 206 <235>; 105, 135 <153>).

335

Dies gilt insbesondere für eine Auslegung, die die Förderung freiverantwortlicher Selbsttötungen von der Strafbarkeit ausnimmt (vgl. zu einem solchen Ansatz Kubiciel, ZIS 2016, S. 396 <402>). Sie liefe dem gesetzgeberischen Anliegen (vgl. BTDrucks 18/5373, S. 3) zuwider. Im Ergebnis würde sie die Vorschrift praktisch leerlaufen lassen (vgl. Riemer, BRJ 2016, S. 96 <101>, zugleich m.w.N. zu abweichenden Ansätzen).

336

Auch eine Auslegung, die Ärzte vom Verbot des § 217 Abs. 1 StGB ausnähme, ist nicht möglich. Der Gesetzgeber hat § 217 StGB als Allgemeindelikt ausgestaltet und von einer Privilegierung der Angehörigen der Heilberufe bewusst abgesehen (vgl. BTDrucks 18/5373, S. 18).

Wenn der Gesetzgeber da nochmal nachlegen möchte, sollte er die Entscheidung Satz für Satz lesen und verstehen. So schwer ist die doch gar nicht.

Alternativ könnte er auch die psychosoziale Versorgung verbessern, die Lebenssituation der Bürger, die unter Altersarmut oder sonstiger Not leiden, lindern, kurz ein Land schaffen, in dem alle gut und gerne leben können – aber, Sie wissen schon, das würde Geld kosten. Da bastelt man lieber verfassungswidrige Strafgesetze, auch wenn die – im doppelten Wortsinn – umsonst sind.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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