Die Landtagswahl in Thüringen 1924 und die Gefahren des Extremismus für den Parlamentarismus

Vor 100 Jahren nahm das Unheil von Thüringen aus seinen Lauf. Und wenn man wollte, könnte man daraus heute lernen. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Die Weimarer Republik, gegründet nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs 1918, war eine Demokratie, die von Anfang an unter extremen Belastungen stand. Die junge Republik musste sich mit den Folgen des Ersten Weltkriegs, politischen Radikalisierungen von links und rechts sowie einer tiefen Wirtschaftskrise auseinandersetzen. Die Landtagswahl 1924 in Thüringen stellt in diesem Zusammenhang ein besonders interessantes Beispiel dar, da sie ein Mikrokosmos der politischen Entwicklungen und Spannungen der Weimarer Republik war. Diese Wahl zeigt auf, wie Extremismus – sowohl von links als auch von rechts – den Parlamentarismus bedrohte und letztlich zur Destabilisierung der Demokratie beitrug.

Der historische Kontext der Wahl in Thüringen 1924

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befand sich Deutschland in einer politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich schwierigen Lage. Die Verlierermächte des Krieges, darunter Deutschland, waren durch den Versailler Vertrag stark eingeschränkt worden, und das Land musste mit einer schweren Wirtschaftskrise, hoher Inflation und sozialer Not kämpfen. In dieser Zeit entwickelte sich eine extrem polarisierte politische Landschaft: Auf der einen Seite standen die radikalen Kräfte der KPD (Kommunistische Partei Deutschlands) und anderer sozialistischer Gruppierungen, auf der anderen Seite die rechtsnationalen Parteien wie die DNVP (Deutschnationale Volkspartei) und aufstrebende nationalsozialistische Kräfte.

Thüringen war ein Brennpunkt dieser Auseinandersetzungen. In diesem eher agrarisch und kleinstädtisch geprägten Bundesland war die politische Landschaft stark fragmentiert. Die SPD, die KPD, die DNVP, und später die NSDAP, waren hier von besonderer Bedeutung. Die politische Situation in Thüringen spiegelte die Entwicklungen auf Reichsebene wider, jedoch mit einigen Besonderheiten. Einerseits hatte Thüringen durch seine revolutionäre Arbeiterbewegung eine starke linke Tradition, andererseits war es auch eine Hochburg des rechten Nationalismus. Diese Widersprüchlichkeit machte Thüringen zu einem Schauplatz intensiver politischer Auseinandersetzungen.

Im Jahr 1920 war Thüringen eines der ersten deutschen Länder, in denen eine Koalition aus SPD und KPD die Regierung bildete. Diese „Arbeiterregierung“ hielt jedoch nur kurze Zeit, bevor eine rechte Koalition die Macht übernahm. Die Landtagswahl 1924 fand also in einem Klima extremer politischer Spannung und Unsicherheit statt.

Die Ergebnisse der Landtagswahl 1924

Die Landtagswahl in Thüringen 1924 führte zu einer deutlichen Verschiebung der politischen Kräfteverhältnisse. Die DNVP und die als VVL getarnte NSDAP (Hitler saß gerade im Knast) gewannen massiv an Stimmen hinzu, während die SPD und die KPD Verluste hinnehmen mussten. Besonders bemerkenswert war der Erfolg der getarnten NSDAP-Mitglieder, die in Thüringen zum ersten Mal auf Landesebene einen größeren Wahlerfolg verzeichnen konnten. Dies war ein Vorzeichen für ihren späteren Aufstieg auf Reichsebene. Die Nationalsozialisten traten in Thüringen bereits als radikale Kraft auf, die sich gegen die Weimarer Demokratie richtete und stattdessen ein autoritäres, völkisches Regime anstrebte.

Die DNVP konnte ihren Einfluss weiter ausbauen und wurde zur stärksten Kraft im Landtag. In der Folge bildete sie eine Koalition mit der VVL und anderen rechten Parteien. Und hinter diesen sieben Abgeordneten des völkisch sozialen Blocks verbargen sich drei NSDAP-Mitglieder und vier Völkische. Dies war das erste Mal in Deutschland, dass Nationalsozialisten in eine Regierung eingebunden wurden. Der thüringische Ministerpräsident, Richard Leutheußer von der DNVP, setzte mit Unterstützung der Nazis auf eine Politik der nationalen und konservativen Wiedergeburt, die von scharfer Ablehnung der Weimarer Demokratie und ihrer Institutionen geprägt war. Das Motto des Thüringer Ordnungsbundes lautete: „Das ganze Land kam auf den Hund, nun rettet nur der Ordnungsbund.“

Die Rolle des Extremismus bei der Wahl 1924

Die Wahl in Thüringen 1924 verdeutlicht, wie Extremisten das parlamentarische System der Weimarer Republik untergruben. Sowohl die extreme Linke als auch die extreme Rechte versuchten, die demokratischen Institutionen zu schwächen und durch ihre radikalen Vorstellungen zu ersetzen.

Auf der linken Seite stand die KPD, die den Parlamentarismus als bürgerlich und reformistisch ablehnte. Für die Kommunisten war das Ziel die Errichtung einer Diktatur des Proletariats, nach dem Vorbild der russischen Oktoberrevolution. Die KPD propagierte revolutionäre Umsturzpläne und stellte damit eine dauerhafte Bedrohung für die parlamentarische Demokratie dar. Ihre radikale Agitation und ihre aktive Rolle in zahlreichen Arbeiteraufständen, wie etwa im Ruhrgebiet und in Sachsen, trugen zur Destabilisierung der Weimarer Republik bei.

Auf der rechten Seite standen die DNVP und die NSDAP, die beide den Parlamentarismus aus anderen Gründen ablehnten. Für die DNVP war die Weimarer Republik eine Verratsregierung, die das deutsche Volk durch den Versailler Vertrag gedemütigt hatte. Die Partei setzte sich für eine autoritäre Rückkehr zur Monarchie oder zumindest für ein starkes, antidemokratisches Regime ein. Die NSDAP ging noch weiter: Sie strebte nicht nur die Abschaffung der Demokratie an, sondern wollte ein rassistisch definiertes Führerregime errichten, das auf der Ideologie des Nationalsozialismus basierte.

Die Wahl 1924 zeigte, wie diese extremen Kräfte zunehmend an Einfluss gewannen. Der Erfolg der NSDAP in Thüringen war ein alarmierendes Zeichen für die weitere Entwicklung in Deutschland. Die Nationalsozialisten nutzten den Parlamentarismus geschickt aus, um sich zu profilieren, obwohl sie ihn gleichzeitig vehement ablehnten. Dies war ein typisches Muster vieler radikaler Bewegungen: Sie benutzen die demokratischen Institutionen, um ihre Macht zu stärken, nur um sie dann von innen heraus zu zerstören.

Die Schwäche der Weimarer Demokratie

Die Weimarer Republik war von Anfang an durch mehrere strukturelle Schwächen gekennzeichnet, die es den extremistischen Parteien erleichterten, das politische System zu unterminieren. Erstens war die Proportionalwahl in der Weimarer Republik so gestaltet, dass auch kleine Parteien leicht ins Parlament einziehen konnten. Dies führte zu einer extremen Zersplitterung des Parlaments, was die Regierungsbildung erschwerte und zu instabilen Koalitionen führte. In Thüringen spiegelte sich dies in der schwierigen politischen Landschaft wider, in der sowohl rechte als auch linke Extremisten Sitze im Landtag erringen konnten.

Zweitens war die Weimarer Verfassung selbst in vielen Bereichen schwach. Der Reichspräsident hatte zu viel Macht, was es später Adolf Hitler ermöglichte, nach seiner Ernennung zum Reichskanzler die Demokratie durch das Ermächtigungsgesetz von 1933 zu beseitigen. Auch in Thüringen war die politische Exekutive in den Händen von Parteien, die den Parlamentarismus ablehnten, was den Boden für antidemokratische Maßnahmen bereitete.

Ein weiteres Problem war der mangelnde Rückhalt der Demokratie in der Bevölkerung. Viele Deutsche sahen die Weimarer Republik als ein Produkt der Niederlage im Ersten Weltkrieg und des Versailler Vertrags, der als „Schanddiktat“ empfunden wurde. Diese Ablehnung der Demokratie als „Fremdherrschaft“ spielte extremistischen Parteien in die Hände, die einfache, radikale Lösungen für die komplexen Probleme der Republik anboten.

Die Gefahren des Extremismus für den Parlamentarismus

Die Wahl 1924 in Thüringen ist ein Lehrstück dafür, wie Extremismus den Parlamentarismus aushöhlen kann. Extreme Parteien, ob von links oder von rechts, nutzen oft den Rahmen und die Mittel  der Demokratie, um an Macht zu gewinnen, während sie gleichzeitig die Grundwerte des parlamentarischen Systems ablehnen. Dies führt zu einer paradoxen Situation: Die Demokratie wird von ihren Feinden von innen heraus bedroht.

Im Fall Thüringens, und später der Weimarer Republik insgesamt, führte dies zur völligen Erosion des politischen Systems. Durch die ständige Blockadehaltung im Parlament, das Schüren von Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen und die Mobilisierung der Straße gegen die Regierung trugen die extremen Parteien dazu bei, die Legitimität des parlamentarischen Systems zu untergraben.

Die Nationalsozialisten zeigten dies besonders eindrucksvoll: Sie nutzten den legalen Weg des Parlamentarismus, um in Thüringen an die Macht zu kommen, obwohl sie von Anfang an die Zerstörung der Demokratie im Sinn hatten. Dies verdeutlicht die gefährliche Dynamik des Extremismus im politischen System: Wenn extreme Kräfte einmal Zugang zu Machtpositionen haben, kann dies den Untergang des parlamentarischen Systems bedeuten.

Schlussfolgerung

Die Landtagswahl 1924 in Thüringen war ein frühes Beispiel für die Gefahren, die der Extremismus für den Parlamentarismus darstellt. Sowohl linke als auch rechte extreme Parteien nutzten die Schwächen des Weimarer Systems aus, um ihre radikalen Ziele zu verfolgen. Die Wahl in Thüringen und die nachfolgenden Entwicklungen verdeutlichen, wie anfällig eine Demokratie gegenüber ihren inneren Feinden sein kann, wenn diese den Parlamentarismus als Werkzeug zur eigenen Machtergreifung nutzen.

Diese historischen Lehren sind auch heute noch von Bedeutung. Extreme politische Kräfte bedrohen auch in modernen Demokratien die Stabilität des Systems, wenn sie den Parlamentarismus missbrauchen, um ihre antidemokratische Agenda voranzutreiben. Eine wehrhafte Demokratie muss daher nicht nur auf äußere Bedrohungen achten, sondern auch ihre Institutionen gegen den inneren Feind des Extremismus verteidigen, der den Parlamentarismus von innen heraus zu zerstören versucht.

Ob das heute besser funktioniert, wage ich vorsichtig zu bezweifeln, da es den Demokraten offenbar nicht gelingt, die Möglichkeit z.B. eines Parteiverbotes zu nutzen, bevor die Extremisten zu groß geworden sind, um sie wieder klein zu halten.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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