Auf der Suche nach dem Urknall

An Tag 2 der Entgiftung hat mich die Klinikpsychologin mal wieder in ihr Zimmer zitiert. Ich bin mordsmäßig schlapp, kotze beinahe auf den Linoleumboden, und sie nervt trotzdem mit einem nicht enden wollenden Fragebogen. Geschichte aus der Geschlossenen von Henning Hirsch.

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»Sie waren also beinahe tot? Wie lange in etwa?« Die untersetzte Frau, die mir seit knapp fünfundvierzig Minuten gegenübersaß und jede Antwort aus meinem Mund mit einer neuen Frage quittierte, legte den Bleistift, mit dem sie ununterbrochen Notizen in einen Spiralblock hineingekritzelt hatte, vor sich auf die Tischplatte und taxierte mich mit zusammengekniffenen Augen. Der orange Griffel wies überall Bissspuren auf und war von ihr nahezu durchgekaut worden.

Wer ist verrückter: Ich oder die Schneider?

Wahrscheinlich bist du bekloppter als ich, ging es mir durch den Kopf, bevor ich ihr antwortete: »Keine Ahnung. Die Pfleger haben mir das erzählt, als ich in der geschlossenen Station aufwachte. Vermute mal zwei, drei Stunden. Länger nicht. Alles halb so wild.«
»Halb so wild? Sie sind lustig. Wäre es Ihnen stattdessen lieber gewesen, für immer tot zu sein?« Ich kratzte mich verlegen am Ohr und zog es vor, zu schweigen.
»Sie mussten reanimiert werden. Da hätte dieses Mal nicht viel gefehlt, und Sie wären Ihrem Herrgott gegenübergetreten. Das ist Ihnen schon klar, oder?«

Warum hat sie ausgerechnet mich zu sich hereinzitiert? Weshalb nicht Rolf, Rene oder Petra? Oder irgendeinen x-beliebigen Säufer aus der verdammten Hardcore-Fraktion? Jedes Mal dasselbe Spiel, sobald die dusselige Kuh mich erblickt: Herr Hirsch, schön, Sie zu sehen. Können Sie bitte nachher in mein Büro kommen! Keine Frage, sondern ein Imperativ. Wie mich das abfuckte. Soll sie sich einen anderen Idioten suchen, mit dem sie ihre Psychomasche abziehen kann. Über all das dachte ich nach und erwiderte so freundlich, wie es mir an diesem elenden, tropisch schwülen Nachmittag möglich war: »Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Schneider: in dem Moment, als ich die dritte Flasche Wodka vorgestern Abend öffnete, kurz bevor ich bewusstlos in der Küche umklappte, war es mir tatsächlich egal, ob ich abkratze oder nicht.«

»Sie hegten also suizidale Gedanken«, schlussfolgerte die Psychologin und schrieb fieberhaft eine weitere Seite voll, bevor sie ihren Blick wieder mir zuwandte.
»Nein; mir war es wurscht.«
»Ist das nicht dasselbe?« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich, in ihrem ansonsten von professionellem Wissensdurst beherrschtem Gesicht eine Spur von Anteilnahme zu entdecken.
»Nein, ist es nicht. Weil ich eben nicht von Anfang an die Absicht hatte, mich umzubringen, sondern den Tod, der sich vielleicht hätte einstellen können, zum Schluss billigend in Kauf nahm. Aber eher in der Form eines russischen Roulettespiels. Von sechs Kammern ist nur eine mit einer Patrone geladen. Und vor jedem Schuss wird neu gedreht. Die Wahrscheinlichkeit, mit heiler Haut davonzukommen, steht also gar nicht so schlecht. Bisher ist es immer glimpflich ausgegangen.«
»Sie treffen den Nagel auf den Kopf: bisher. Und was, falls es beim nächsten Versuch nicht mehr klappt? Wenn Sie sich dann die todbringende Kugel in den Kopf jagen?«
»Dann ist es eben so. Wir müssen alle irgendwann unserem Schöpfer gegenübertreten. Die einen nach einem langen, erfüllten Leben, die anderen halt früher.« Ich zuckte mit den Schultern und überlegte, ob ich mir nachher im Raucherzimmer von Rene eine Zigarette schnorren könnte.

Immer wieder dieselben Fragen

Frau Schneider und ich hatten uns in den vergangenen Monaten oft in ihrem kleinen Arbeitszimmer getroffen und über die Ursachen meines exzessiven Trinkverhaltens diskutiert. Wie alle Psychologen war sie auf der Suche nach dem Urknall: der Stunde Null, in der ich vom normalen Menschen zum Säufer mutiert war. In geradezu stupider Regelmäßigkeit verneinte ich all ihre Annahmen und Hypothesen von trübsinniger Kindheit, zu strengem Vater, unglücklichen Liebesbeziehungen in der Jugend, traumatischen Schulerlebnissen und was ihr alles sonst noch an Erklärungen in den Sinn kam und bejahte als einzige glasklare und nicht zu leugnende Auslöser meines Alkoholismus die Gene mütterlicherseits und jahrelange Gewöhnung an die Droge. »Mehr fällt Ihnen in diesem Zusammenhang nicht ein? Speziell von Ihnen hätte ich eine tiefschürfendere Analyse erwartet«, versuchte sie vergeblich, an meine vor vielen Jahren verloren gegangene Marktforscherehre zu appellieren.

Ich beneidete Frau Schneider nicht um ihren Job. Im Gegensatz zu ihrer attraktiven Kollegin mit den pfirsichförmigen Arschbacken, der die Patienten in der offenen Station die Bude einrannten, wirkte sie zum einen mit ihrer pummeligen Figur und dem Bürstenhaarschnitt äußerlich wenig anziehend, und zum anderen betreute sie in der geschlossenen Abteilung eine hartgesottene Klientel, die sich weniger für psychologische Ursachenforschung denn für die fristgerechte Überweisung des Hartz IV- Regelsatzes interessierte. Pünktlich zum Ersten jeden Monats leerte sich die Station schlagartig, um sich dann in den folgenden Tagen bis zum spätestens Fünften allmählich wieder zu füllen. Diese zweiundsiebzig bis sechsundneunzig Stunden reichten den meisten Patienten, die dreihundertfünfundsechzig Euro, die ihnen alle vier Wochen zustanden, komplett auf den Kopf zu hauen. Frau Schneider redete auch zu akademisch daher und schaffte es einfach nicht, den zu ihrer Kundschaft passenden Tonfall anzustimmen.

Völlig benebelt mit Tendenz zum Sekundenschlaf

Ich gähnte herzhaft, denn am zweiten Tag der Entgiftung schwammen dreißig Valium träge wie winzige pharmazeutische U-Boote in meiner Blutbahn herum, was selbst für mich eine recht starke Dosierung bedeutete. Diese Ration war notwendig geworden, weil ich es bei der Essensausgabe weder schaffte, ein Tablett festzuhalten noch eine Tasse Kaffee zum Mund zu führen. Ich zitterte am gesamten Körper wie ein Eichhörnchen auf Koks, der Schweiß rann mir in Strömen von den Schläfen die Wangen hinab, die Blutdruckwerte bewegten sich im Bereich schwangerer Giraffen, sodass der zum Zeitpunkt meiner Einlieferung zufällig anwesende Oberarzt entschied, die an und für sich zulässige Maximalmenge von vierundzwanzig um sechs zu erhöhen. Die allmähliche Linderung der Schmerzen ging einher mit einer Form des Sekundenschlafs, der mich an den unmöglichsten Orten einpennen ließ. Vor drei Stunden erst hatte mich Pfleger Franz unsanft im Bad geweckt, wo ich mit blankem Hintern auf der Kloschüssel weggenickt war. Früher wäre mir das unsagbar peinlich gewesen. Heute jedoch ließen mich solche Vorkommnisse völlig kalt.

»Ich habe den Eindruck, dass Sie es sich in Ihrer Nische mittlerweile ganz bequem eingerichtet haben«, versuchte Frau Schneider ein letztes Mal, mich aus meiner nachmittäglichen Lethargie wachzurütteln.

Mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks

»Wie meinen Sie das? Verstehe ich nicht.«
»Sie erscheinen hier mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks. Manchmal zu Fuß, oft liegend auf einer Trage und in letzter Zeit zumeist mit dem Umweg über die Intensivstation. Sie entgiften schnell, sind nach einer Woche wieder zu Hause, trinken dort munter weiter, zumal Sie wissen, dass Sie bei uns im Notfall sofort aufgenommen werden. Sie kennen im Krankenhaus Gott und die Welt, sind wegen Ihrer ruhigen Art bei den meisten Ärzten und Pflegern beliebt, sodass ich die Befürchtung hege, dass Sie sich hier drinnen zumindest genauso wohl fühlen wie draußen auf der Straße. Während ich im vergangenen Jahr den früheren Manager und Familienvater in Ihnen noch erkennen konnte, ähneln Sie heute einem abgerissenen Hippie, der seit Woodstock ununterbrochen säuft. Das meine ich mit bequem in der Nische einrichten.« Frau Schneider blickte mich triumphierend an in der Gewissheit, dass dieser fiese Nierenhaken mich reumütig in die Knie zwingen würde. Du kannst mich mal, dachte ich bitter, gähnte erneut, rutschte halb vom Stuhl herab und signalisierte deutlich, dass ich langsam ans Ende der Unterhaltung gelangen wollte.

»Ich merke, dass Ihre Aufmerksamkeitspanne noch nicht für eine längere Sitzung ausreicht. Ich will Sie heute auch nicht länger foltern. Ihr sicherlich quälender Entzug ist Strafe genug. Ich würde vorschlagen, dass wir uns übermorgen wiedersehen. Ich finde Sie im Aufenthaltsraum. Vor mir weglaufen können Sie in der geschlossenen Abteilung ja nicht. Das ist praktisch.« Über Frau Schneiders Lippen huschte ein boshaftes Lächeln, und sie entließ mich mit einem kurzen Kopfnicken, derweil sie ihren Vermerk über meine mangelhafte Krankheitseinsicht zu Ende formulierte.

Du bist ein arrogantes Großstadt-Arschloch

»Wie war die Psychostunde bei der Gruseltante?«, empfing mich Petra draußen auf dem Flur. »Hat sie dir angeboten, bei ihr einzuziehen?« Sie trug einen knallroten Spaghetti-Top auf ihrer weißen Haut, der bei jeder Bewegung den Blick auf die Speckrollen an ihren Hüften freigab.
»Warum sollte sie das tun?«
»Die steht auf dich. Merkt doch jeder.« Wie zufällig streifte sie den Träger von ihrer linken Schulter ab und strich mit zwei Fingern über das freigelegte Dekolleté. Trotz meiner Müdigkeit bemerkte ich, dass ihre Brustwarzen hart und begehrlich im Neonlicht schimmerten.
»Ich unterhalte mich eben mit ihr.«
»Ach was. Du schleimst dich ekelerregend bei der ein.« Da meine Reaktion auf ihren Busenblitzer nicht so ausfiel, wie sie sich das vorgestellt hatte, zog sie das Shirt wieder nach oben und schaute mich missbilligend an.
»Von mir aus.« Mir war an diesem Nachmittag tatsächlich alles egal. Ich wollte meine Ruhe haben und die Schmerzen loswerden. Deshalb stand mit der Sinn ganz und gar nicht nach komplizierten Gesprächen. Weder mit Frau Schneider noch mit Petra.
»Du bist in den letzten Monaten völlig teflonartig geworden. Wo ist der nette Henning abgeblieben, den ich vor einem Jahr hier kennengelernt habe?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf, und ich meinte, ein Déjà-Vu der Verabschiedung mit der Psychologin zu erleben.

Petra betrieb ein kleines Bordell am Nordrand der Eifel, an der Bundesstraße, die von Düren über Aachen weiter nach Belgien und Holland führt. Zu ihren Kunden zählten deshalb überwiegend LKW- Fahrer und Handlungsreisende, die mit Haushaltsartikeln und Versicherungspolicen unterwegs waren. Ihr bereitete es Freude, bei den Männern selbst Hand anzulegen und mit ihnen fröhlich zu bechern. Wenn sie einen im Tee hatte, konnte es passieren, dass Petra leicht reizbar und unflätig wurde. Unvorsichtigen Freiern, die es wagten, ihr in diesem hochalkoholisierten Stadium zu widersprechen, donnerte sie die Faust ins Gesicht oder traktierte sie mit Sektflaschen und dem spitzen Absatz ihrer Stilettos. Sie wurde deshalb häufig in Handschellen in der Klinik vorgeführt. Anstatt sich dankbar zu zeigen, dass sie an einen Ort gebracht worden war, an dem ihr geholfen werden konnte, beschimpfte sie die Polizisten mit Scheißbullen und bezeichnete den netten iranischen Aufnahmearzt als Dreckskanaken. Wenn sie zu sehr herumtobte und alles freundliche Beschwichtigen nicht fruchtete, hakten sich zwei muskelbepackte Pfleger bei ihr ein und eskortierten sie ins Bett. Dort wurde sie an vier Punkten fixiert, erhielt ein starkes Beruhigungsmittel und pennte danach komatös für vierundzwanzig Stunden. Sobald sie erwachte, konnte sie sich an nichts zurückbesinnen und benahm sich lammfromm und zivilisiert. Sie war eine Seele von Mensch und litt mitunter geradezu unter einem Helfersyndrom. Auch ich hatte bereits mehrmals meinen Rausch zwischen ihren wogenden Brüsten ausgeschlafen, woran sie mich hin und wieder gerne erinnerte.

»Wann kommst du mich endlich besuchen?«, hatte sie mich beim letzten gemeinsamen Aufenthalt gefragt.
»Weiß nicht«, antwortete ich zögerlich.
»Was soll das heißen: weiß nicht? Du hast es tausend Mal versprochen.«
»Ich bin Großstädter und fahre nicht gerne aufs Land.«
»Du bist ein arrogantes Arschloch, das es nicht wert ist, mit ihm meine Zeit zu vertrödeln«, hatte sie mich damals beschimpft.

Ich treffe Lila wieder

»Henning, dir ist einfach nicht zu helfen«, zischte sie heute. »Anstatt an dir zu arbeiten und langsam das Jammertal zu verlassen, feierst du jeden Abend fröhlich Party, so als ob es dein letzter sein könnte. Ich verstehe dich einfach nicht.«
Als ob du alte Wachtel seltener als ich hier aufschlägst, ging es mir durch den Kopf, und ich sagte leise: »Lass das meine Sorge sein. Ich kann gut auf mich alleine aufpassen.«

Petra drehte mir abrupt den Rücken zu, sodass ich das bunte Kamasutra-Tattoo sehen konnte, das ihr früherer Freund kunstvoll gestochen hatte, und stiefelte den Südostflur entlang in Richtung Raucherzimmer. Sie war die Zweite innerhalb einer Stunde, die mir erklärte, dass ich mich mit meinem Trinkerleben arrangiert hätte und in der Klinik sichtbar wohlfühlen würde. Vielleicht ist da was Wahres dran, grübelte ich; beschloss aber, mich heute nicht mit diesem schwierigen Thema auseinandersetzen zu wollen. Ich fühlte mich schlichtweg zu schlapp dafür.

»Na alter Mann, was brütest du so dumpf vor dich hin? Ist dir nicht gut?« Von hinten berührte eine mir wohlbekannte Hand sanft meinen Hals. Ich wendete mich im Zeitlupentempo um und schaute in das schöne, aber leicht irre Gesicht von Lila, meiner absoluten Lieblings-Borderlinerin. »Hi, Lila. Bist du auch wieder hier?« Ich küsste sie zärtlich auf den Mund.
»Ich kann dich schließlich nicht alleine in der Psychiatrie rumlaufen lassen. Nachher gerätst du hier noch komplett unter die Räder.«
»Und deshalb folgst du mir bis in die geschlossene Abteilung?! Kaum zu glauben. Auf jeden Fall gut, dich zu sehen.«

Lila kannte ich seit Anfang des Jahres. An einem bitterkalten Januarmorgen war sie barfuß und mit zerzauster Frisur in die Klinik hereingeschneit. Bis in die Haarspitzen zugedröhnt mit Pilzen und irgendeiner geheimnisvollen chemischen Substanz. Es dauerte damals ungelogen achtundvierzig Stunden, bis wir sie vernünftig ansprechen konnten. »Ich rühre Drogen aus Prinzip nicht an. Du siehst, was das Dreckszeug aus dem armen Mädchen gemacht hat«, erklärte mir Rene. »Aber eine Gallone Schnaps, die du pro Woche in dich reinschüttest, ist normal?«, fragte ich ihn mit zweifelnd hochgezogenen Augenbrauen.

Nicht ganz ne Lolita-Nummer

Lila und ich freundeten uns in diesem tristen Wintermonat an, und wir verbrachten viel Zeit miteinander in Aufenthaltsraum und Raucherzimmer. Sie besaß eine atemberaubende Figur, wies väterlicherseits äthiopische Wurzeln auf, und wenn sie lächelte, blitzten ihre Zähne wie blankgeputzte weiße Perlen im neonbeleuchteten Januargrau des Krankenhauses. Da wir zumeist im Doppelpack anzutreffen waren, hatten wir nach einigen Tagen unsere Spitznamen weg: Bowie und Imam.

Draußen in Freiheit hatten wir uns einige Male getroffen. Bei ihr oder mir zu Hause. Manchmal am Bahnhof, wo wir planlos herumlungerten, anderen Patienten begegneten und mit denen Informationen und Rotweinflaschen austauschten. Ab und an schliefen wir miteinander. Obwohl mir der Sex mit Lila große Freude bereitete, nervte mich ihr anschließendes Gerede über Liebe und Zusammenziehen, und ich verließ deshalb oft mitten in der Nacht ihr Bett, um in meine kleine, unaufgeräumte Wohnung zurückzukehren und dort in Ruhe ein paar Flachmänner hinunterzuspülen, bis mich der viele Alkohol besinnungslos bis zum nächsten Nachmittag einpennen ließ. Sie verfasste lustige Kindergedichte und zeichnete monströse Comicfiguren: vierschrötige Männer mit kantigen Gesichtern und laszive Frauen mit Schmollmund und Atomtitten, denen sie obszöne Sprechblasen in den Mund legte. Wir lasen uns gegenseitig englische Kurzgeschichten und russische Novellen vor, tranken und küssten uns.

Gelegentlich saß Lila unbekleidet neben mir auf dem rechten Rand des Schreibtisches und beobachtete mich dabei, wie ich Text in die alte Tastatur hämmerte, auf der das A und K fehlten. Ich hatte sie wegen ihrer unbekümmerten Art schnell ins Herz geschlossen, ergötzte mich an ihrer Nacktheit, den vollen Lippen und ihrer kühn geschwungenen Nase, umgab mein Innerstes jedoch mit einer dicken Eisschicht, weil ich mich auf keinen Fall verlieben wollte. Ich betrachtete sie eher wie eine Muse denn als gleichberechtigte Partnerin, was sie als einfühlsame Psychopathin natürlich registrierte. Sie schwieg jedoch, und ich sprach das Thema vorsichtshalber nicht an. In ihren Augen entdeckte ich aber einen traurigen Ausdruck.

Eigentlich bin ich auch recht gerne alleine

So gerne ich meine Zeit gemeinsam mit ihr verbrachte, so sehr schätzte ich ebenfalls die Stunden, die ich alleine blieb. Je älter ich wurde, und umso ausschweifender ich zechte, desto mehr floh ich die Menschen und deren Gesellschaft. Die Lektüre eines spannenden Romans und das Beobachten der Schiffe auf dem Strom, der unsere Stadt in zwei etwa gleichgroße Hälften durchschnitt, waren mir oft genauso lieb wie die Umarmungen und das heitere Geplapper Lilas. Es gab Wochen, in denen ich dermaßen gierig Buch um Buch verschlang, indessen die Welt um mich herum vergaß und meine Körperpflege vernachlässigte, dass ich im Stillen befürchtete, ebenfalls beim Lesen ins Extreme abzugleiten. Wodka und Belletristik als kombinierte Drogen, um der ungeliebten Realität zu entfliehen.

Lila, die erheblich jünger war als ich, verstand diesen Wesenszug nicht und schalt mich scherzhaft einen alten Mann, der mit seinen amerikanischen Sportschuhen und der zerlöcherten Jeans eine längst verflossene Jugend nur vortäuschen würde. Ihretwegen könnte ich auch in Anzug und Krawatte aus dem Haus gehen, denn diese Kleidungsstücke seien ihr an mir ebenso sympathisch wie T-Shirt und Denim. Wenn sie Pilze eingeworfen hatte, wurde sie anfangs albern, kicherte und gackerte wie ein kleines Mädchen, bis nach spätestens einer Stunde ihre Stimmung umschlug, und sie Morddrohungen gegen Gott und die Welt – zumeist allerdings auf ihre Mutter zielend – aussprach. In dieser angeblich bewusstseinserweiternden Phase liebte sie es, mich bis aufs Blut zu reizen, indem sie mir wüste Beleidigungen zurief, mich einen nymphomanen Penner nannte und in die tiefste Hölle wünschte. Was sie nicht daran hinderte, zehn Minuten später auf offener Straße ihre wohlgeformten Brüste zu entblößen und mich aufzufordern, an Ort und Stelle mit ihr zu schlafen.

Aus diesem an und für sich harmlosen Zeitvertreib ergaben sich jedoch hin und wieder brenzlige Situationen, wenn sie zornentbrannt auf die Gleise lief, sich in der Form eines Kreuzes zwischen die Schienen warf und erst im letzten Augenblick aufsprang, wenn der Zug heranbrauste. Im Mai hatte sie es auf die Spitze getrieben und war liegengeblieben, wenngleich die S6, die von Norden in die Stadt pendelte, einhundert Meter entfernt von ihr bereits schrille Warnsignale ausstieß und im Zweifelsfall nicht mehr hätte rechtzeitig bremsen können. Trotz einer Pulle Jägermeister im Bauch hechtete ich die Böschung hinab, riss sie in der allerletzten Sekunde aus dem Kiesbett heraus, verabreichte ihr erschrocken eine Ohrfeige und brüllte: »Bist du völlig durchgedreht? Wenn du dich unbedingt umbringen möchtest, dann tu es alleine.« Nach einer stummen Schreckminute, in der ich mir unsicher war, ob Lila nun weinen oder hysterisch lachen würde, knallte sie mir ihre Faust auf die Nase, die hässlich knirschte und sofort blutete, befreite sich aus meinem Griff, rannte ohne nach links und rechts zu sehen auf die vierspurige Straße, wo ein schwarzer BMW-Kombi mit quietschenden Reifen vor ihr stoppte. Bevor der verblüffte Mann das Fenster runterkurbeln konnte, öffnete Lila die Beifahrertür und schrie den überrumpelten Fahrer an: »Nimm mich bis ins Westend mit!« Während sie einstieg, spuckte sie wutbebend in meine Richtung, streckte mir den erhobenen rechten Zeigefinger entgegen und kreischte: »Fick dich, du elender Pisser. Ich will dir nie mehr begegnen. Das war’s mit uns beiden. Für immer und ewig.« Seit diesem Erlebnis hatte Funkstille zwischen uns geherrscht.

Und sei der Ort noch so traurig

Und nun traf ich sie acht Wochen später in der geschlossenen Abteilung. Wiewohl der Anlass eigentlich ein trauriger war, freute ich mich ehrlich darüber, Lila wiederzusehen. In ihren Augen entdeckte ich ebenfalls Zärtlichkeit und Verständnis. Wir umarmten uns innig. Ungeachtet der Tatsache, dass das Thermometer an diesem schwülheißen Nachmittag weit über dreißig Grad kletterte und die Pfleger alle Hände voll damit zu tun hatten, halbnackte Patienten einzufangen und energisch auf die Kleiderordnung aufmerksam zu machen, trug Lila lange Hosen und ein Hemd, dessen Ärmel bis zu den Handknöcheln reichten. Als Grenzgängerin fügte sie sich mit Küchenmessern tiefe Schnitte in Unterarme und Oberschenkel zu und drückte brennende Zigaretten auf ihrer Haut aus.

»Schön, dich zu spüren. Habe Sehnsucht nach dir gehabt«, hauchte sie.
»Wie lange bist du schon hier?«, wollte ich wissen.
»Drei Tage.«
»Dann hast du mitbekommen, wie sie mich gestern eingeliefert haben?«
»Ja, und ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
»War’s so schlimm?«
»Du bist beinahe abgenippelt, blöder Idiot.«
»Weiß ich. Hat mir Pfleger Franz schon erzählt.«
»Da bist du wahrscheinlich noch stolz drauf: harter Kerl, der sechs Promille überlebt. Du bist so ein bemitleidenswertes Opfer.«
»Ich habe überhaupt nichts gesagt«, verteidigte ich mich.
»Aber gedacht. Ich seh’s an deinem Blick.«
»Lila, willst du dich mit mir streiten oder zur Abwechslung mal friedlich unterhalten?«

Lauter alte Bekannte im Raucherzimmer

In der Art einer ägyptischen Katze schmiegte sie sich an, und wir schlenderten gemeinsam zum Raucherzimmer. Beißender Qualm aus zwanzig selbst gedrehten Kippen, der gemächlich die gelben Wände emporkroch und sich unter der Decke wie schmutziger Hochnebel staute, empfing uns. Ich hustete, Lila schimpfte laut: »Könnt ihr faulen Nichtsnutze nicht mal ein Fenster öffnen! Das ist ja nicht zum Aushalten.«

»Bowie und Imam. wieder vereint. Ich könnte kotzen.«
»Wer war das?« Lila schnellte wie ein Pfeil von der Sehne eines stramm gespannten Bogens in die hintere Ecke des Raums, aus der die Pöbelei gekommen war. Dort krallte sie sich mit ihren spitzen Fingernägeln in der Kopfhaut Petras fest und schlug die Zähne tief in deren Schulter hinein. Es kostete mich Mühe, Lilas Kiefer so weit auseinanderzudrücken, dass Petra sich mit schmerzverzerrtem Gesicht von ihr trennen konnte. In diesem Moment ähnelte Lila eher einem Raubtier aus der ostafrikanischen Savanne denn einem menschlichen Wesen. Allerdings fühlte ich mich gerade wegen dieses im Grunde genommen wahnsinnigen Charakterzugs zu ihr hingezogen. Denn Lilas spontane Aggressivität hatte nichts gemein mit heimtückischer Angriffslust, sondern rührte daher, dass sie fälschlicherweise annahm, meine Ehre verteidigen zu müssen.

»Beruhige dich«, raunte ich ihr zu und erkundigte mich gleichzeitig bei Petra: »Alles in Ordnung mit dir? Warum musst du sie unnötig reizen? Du weißt, wie unberechenbar die Kleine reagiert.«
»Sie ist so eine Bitch«, fauchte Lila, die im Begriff stand, sich erneut auf ihre Widersacherin zu stürzen, sodass ich sie fest umklammerte, damit sie kein weiteres Massaker veranstalten konnte.

Petra hielt inzwischen mit der Rechten ihren blutenden Oberarm in die Höhe und wimmerte: »Die Verrückte gehört in ein Irrenhaus.«
»In dem befinden wir uns doch schon; oder nicht?« Aus dem Hintergrund erschallte eine mir wohlbekannte Bassstimme. »Henning mit seinem Faible für exotische Frauen.«

Ein notorischer Klugscheißer

Mit vom Alkohol und Valium geröteten Augen entdeckte ich hinter dem Schleier aus Nikotin und im Sonnenlicht tanzenden Staubpartikeln meinen alten Kumpel Rolf. Als ich ihm das letzte Mal begegnet war, saßen wir auf einer morschen Holzbank vor dem namenlosen Grab 147 im alten Friedhof hinter der Klinik und zechten. Als Akademiker, der andere gerne an seiner Allgemeinbildung teilhaben ließ, dozierte Rolf an diesem lauen Frühlingsnachmittag über den Sonnenglauben des Pharaos Echnaton und entrüstete sich darüber, dass ich nur wenig Interesse für den religiös eifernden König aufbrachte und mir stattdessen Gedanken über die sexuelle Ausstrahlung seiner Gattin Nofretete machte.

»Dir ist einfach nicht zu helfen, Henning«, giftete er. »Bei dir dreht sich alles ums Saufen und Vögeln. Das widert mich wirklich an.«
»Gut, dass du von allem Laster abstinent bist, alter Pharisäer«, lachte ich, denn ich wollte mir von ihm den gerade eingeläuteten Abend nicht verderben lassen.
»Das ist anders als bei dir«, erwiderte er.
»Nämlich?«, fragte ich zurück.
»Ich trinke nicht aus Freude am Suff, sondern um meine Depressionen im Zaum zu halten.«
»Deshalb schluckst du doch bereits kiloweise Tabletten. Die helfen nicht?«, erkundigte ich mich in gespielter Naivität bei ihm.
»Das verstehst du nicht, denn du konsumierst nicht aus einem Gefühl des Weltschmerz heraus wie ich, sondern aus purer Lust am Rausch.«

Auch Rolf gab sich dem Irrglauben hin, dass er soff, weil ihm in der Vergangenheit himmelschreiendes Unrecht widerfahren war. Den Verlust von Beruf, Frau und Termingeldkonten hatte er bis heute nicht verdaut. Eigentlich wäre er bei der Suche nach dem Urknall der ideale Gesprächspartner für Frau Schneider gewesen, wenn er nicht partout so rechthaberisch auftreten würde. Die Psychologin hätte sich lieber eine Woche alleine in ihrem kleinen Zimmer einsperren lassen, als nutzlose Diskussionen mit Rolf zu führen, die ohnehin zu achtzig Prozent aus Monologen, die ohne Punkt und Ende aus seinem Mund sprudelten, bestanden.

Nachdem er zu vorgerückter Stunde die tote Whitney Houston schmähte und deren Gesangskunst in Zweifel zog, da ihre Stimme seiner Meinung nach bei weitem nicht an die der Callas heranreichte, bereute ich es, mich mit ihm verabredet zu haben und sann darüber nach, welche Alternativen die soeben angebrochene Nacht mir noch bieten könnte. Als er gegen dreiundzwanzig Uhr in betrunkenem Zustand von der Bank rutschte, ließ ich ihn deshalb auf den von Moos überwucherten Granitplatten vor Grab 147 liegen und machte mich auf den Weg zum Bahnhof, um dort nach Bekannten Ausschau zu halten.

Erst die Depression und dann der Alkohol oder doch umgekehrt?

Ob er den kleinen Vorfall mittlerweile abgehakt hat? überlegte ich. Wahrscheinlich nicht, denn Rolf verfügte trotz seines jahrelangen Alkoholmissbrauchs über ein ausgezeichnetes Gedächtnis und vergaß so gut wie nichts. Zudem war er nachtragend und schnell beleidigt. Nun hockte er an diesem brütend heißen Tag in dunklem Anzug und Krawatte auf einem klapprigen Stuhl im Raucherzimmer der geschlossenen Abteilung und qualmte eine dicke Zigarre. Rolfs äußere Erscheinung war schwerfällig, ungelenk und bäurisch; mit seinem durchtriebenem Gesicht, dem konturlosen Kinn und den straff nach hinten gekämmten Haaren ähnelte er einem vollgefressenen, haltlosen und groben Kneipenwirt, wie man sie in den kleinbürgerlichen Vororten der Stadt antrifft. Seine Miene konnte abwechselnd entweder überaus streng wirken, um im nächsten Moment von tausend kleinen Lachfalten durchzogen zu werden. Am meisten amüsierte er sich über seine eigenen Bonmots, von denen er glaubte, dass sie besonders geistreich seien. Eine Meinung, die nicht alle Patienten der geschlossenen Abteilung teilten.

Früher hatte er als erfolgreicher Wirtschaftsprüfer gearbeitet, bevor ihn widrige Umstände – die er jedoch nie näher erläuterte – dazu zwangen, seine Kanzlei zu schließen und mit dem Betäuben seiner Gefühle zu beginnen. Er selbst bezeichnete sich gerne als Sekundär-Alkoholiker, um bereits mit der Wahl des Begriffs darauf hinzuweisen, dass er keinesfalls der großen Gruppe der hedonistischen Säufer angehörte, sondern einzig aufgrund seiner gottgegebenen melancholischen Ader quasi dazu gezwungen wurde, ab und an zur Flasche zu greifen. Wäre er hingegen als fröhlicher Mensch auf die Welt gekommen – an dieser Stelle seines Vortrags pflegte er mich jedes Mal streng anzublicken –, dann hätte er niemals mit dem Schnaps angefangen. Seiner Meinung nach stellte er einen Trinkertypus sui generis dar. Auf diese Weise grenzte er sich von mir und den anderen verlorenen Seelen in der Suchtstation ab. Mit seiner dozierenden Art machte Rolf sich allerdings nicht nur Freunde in der Abteilung und wurde von den meisten Alkoholikern gemieden, sodass er heute froh schien, mich zu sehen und mir die Sache auf dem alten Friedhof deshalb nicht weiter krumm nahm. Denn obwohl er sich gerne mit dem Nimbus des einsamen Wolfes umgab, kam er mit dem Alleinsein nur schlecht zurecht und suchte in der Klinik nach Unterhaltung und Ablenkung.

»Bist du auch wieder hier aufgeschlagen«, begrüßte er mich freundlich. »Man kann beinahe die Uhr nach dir stellen, so regelmäßig kreuzt du in der Station auf.« Du natürlich nicht, dachte ich; behielt den Gedanken jedoch für mich.
»Henning gefällt es halt in diesem Scheißladen«, krächzte Rene, der im Schneidersitz auf dem Linoleumboden hockte und in einer hellgrünen Plastikschüssel einen Brei aus Haferflocken, Puddingpulver und Himbeersirup zusammenrührte. Neben ihm dudelte ein uraltes Transistorradio, auf dem er SWR4 – den Sender mit den deutschen Schlagern – eingestellt hatte, in voller Lautstärke.

Selbstgedrehte Kippen, laute Musik und Essenswünsche

»Mach den Kasten leiser, oder ich trete dagegen«, zischte ich, denn am zweiten Tag der Entgiftung geriet ich schnell in Erregung, wenn man mich allzu sehr nervte.

»Der gute Henning verliert hin und wieder die Contenance. Leider. Das kann mir aufgrund der für Freiberufler notwendigen Ruhe und Gelassenheit nicht passieren. Andenfalls hätte ich in diesem hochkomplizierten Metier nicht erfolgreich arbeiten können«, steuerte Rolf seinen Senf bei. Lila beachtete ihn nicht, sondern musterte immer noch Petra. Als Rolf ihr momentanes Desinteresse an seiner Person bemerkte, stand er auf und sagte: »Dann werde ich in der Küche mal nach dem rechten schauen, ob sie dort alles gemäß meinen Wünschen zubereiten. Denn ich bin es gewohnt, frische Qualitätsprodukte zu mir zu nehmen. Ich esse nämlich nicht aus der Mülltonne wie einige andere hier.« Daraufhin verschwand er durch die Tür.

»Er ist so ein elender Klugscheißer«, schimpfte Petra und spuckte angewidert einen ausgelutschten Kaugummi an die Wand. Rolf hatte bei ihr aufgrund einer unbedachten Äußerung für immer und ewig verkackt, als er sie im vergangenen Winter hinter vorgehaltener Hand eine abgetakelte Puffmutter nannte. Da in der geschlossenen Abteilung keine Nachricht länger als maximal zehn Minuten geheim blieb, wurde sein herabwürdigender Kommentar Petra in Windeseile zugetragen. Zornbebend stellte sie ihn damals im Essensraum zur Rede, und als er spöttisch lächelnd versuchte, sich in gewundenem Steuerberaterdeutsch aus der Sache herauszumanövrieren, geriet sie in immer größere Wut und drosch ihm schließlich ein mit Brotscheiben, Jägerwurst und Hagebuttentee bestücktes Tablett vor die Stirn. Seit diesem Vorfall mied Rolf die Gegenwart Petras und passte höllisch darauf auf, was er sagte, sobald sie sich in der Nähe befand. Wenn er sich auch gerne den Anschein gab, dass er seit dem Tod seiner Verlobten – der allerdings dreißig Jahre zurücklag – mit den Reizen der Weiblichkeit abgeschlossen hatte, mutmaßte ich hin und wieder, dass er mich insgeheim um meine Unbekümmertheit beneidete. Im Gegensatz zu ihm konnte ich ohne falsche Scheu und spätere Gewissensbisse meinen Kopf zwischen die dicken Brüste Petras stecken und dort die ersten Stunden des Entzugs vor mich hindösen. In ihr weckte es mütterliche Instinkte, und ich überbrückte an ihrer nach Nivea und Patschuli riechenden Haut die schier endlose Zeitspanne des Abkochens auf einskommafünf Promille, bis ich die erste Ration Valium verabreicht bekam. Danach hielt ich körperlichen Abstand zu Petra, weshalb sie mich oft als undankbar und arrogant bezeichnete. Ich jedoch vertrat die Auffassung, dass ihr mein Kinn auf dem Bauchnabel genauso gut gefiel wie mir das Schnarchen an ihrem Busen, weshalb ich mir keiner Schuld bewusst war.

Ich muss gefüttert werden

Lila nahm meine Hand und schleifte mich hinter sich her an ihren Sechsertisch im Essensraum. »Neben mir ist noch ein Platz frei. Setz dich hin und warte«, flüsterte sie.

Nach zwei Minuten kehrte sie zurück und stellte einen Teller mit gummiartigem Graubrot, in Dreiecken konfektioniertem Schmierkäse und einem Klecks in Mayonnaise schwimmendem Kartoffelsalat vor mich hin. Mein Magen, der zwei Wochen lang keine andere Nahrung als Bier und Wodka gesehen hatte, zog sich beim Anblick der ungewohnten festen Kost zusammen. Ein spontanes Würgegefühl schüttelte mich, und es fehlte nicht viel, dass ich Galle unter den Stuhl erbrochen hätte.

»Soll ich dir helfen?«, fragte Lila zärtlich.
»Schon gut; ich kann alleine essen«, brummte ich.
»Spiel jetzt hier bloß nicht den Helden, alter Mann«, ermahnte sie mich. »Du zitterst wie eine Vogelscheuche und wirst es garantiert nicht schaffen, den Löffel unfallfrei bis zum Mund zu führen.«
»Henning wird gefüttert wie ein Baby«, grinste Rene, der sich gerade die Reste des Puddings von den Fingern leckte. Mit seinem, von einem schütteren Zehntagebart eingerahmten, Gesicht, in dem zwei stets unruhige Pupillen flackerten, erinnerte er mich an die gierigen Frettchen, die die alten Römer zur Mäusejagd abgerichtet hatten.

»Lass mich bloß in Ruhe, ansonsten quetsche ich deinen gottverdammten Schädel in die Plastikschüssel«, erwiderte ich ungehalten.
»Der gute Henning vergreift sich ab und an im Ton und vergisst seine gute Kinderstube«, grinste Rolf, während er aufmerksam die Wurstscheiben durchzählte. »Gestern waren es fünf, heute nur noch vier. Wie soll ein erwachsener Mann von so wenig Kalorien satt werden?«
»Kannst meine nehmen. Ich habe überhaupt keinen Hunger.« In diesem Moment ekelte ich mich vor jeglichem fetten Aufschnitt und der aufgrund der Hitze leicht ranzigen Butter.
»Gerne.« Bevor Rolf es allerdings schaffte, mit seiner Gabel meinen Teller zu erreichen, schlug ihm Lila das Besteck aus der Hand. »Frag in der Küche, ob sie dir dort einen Nachschlag geben. Henning muss essen, damit er zu Kräften kommt.« Rolf schaute verdutzt, sagte aber nichts, sondern hob stumm die Gabel vom Boden auf.

Lila mal wieder auf 180

»Henning hat eine neue Mama. Eine Schokoprinzessin. Wie kann es aber sein, dass du selber so blass aussiehst?«, wieherte Rene und zeigte dabei sein schadhaftes Gebiss.
»Henning hat dir erklärt, was gleich passiert«, fauchte Lila, während sie Blitze aus ihren grünen Augen in Richtung Rene schleuderte. Der fühlte sich sofort unwohl in seiner Haut und senkte unterwürfig den Blick, weil er mit dem Instinkt eines häufig geprügelten Straßenköters spürte, dass Lila es nicht bei einer Drohung belassen würde. Sie war imstande – und darin wesensgleich mit Petra – ihre Worte blitzschnell in drastische Taten umzufunktionieren. Während Lila mir die Brote in kleine Stücke schnitt und zum Mund führte, aßen Rolf und Rene schweigend ihre Teller leer. Rene rülpste, wischte die Lippen am Hemdärmel ab, griff das Transistorradio und schlurfte zurück ins Raucherzimmer, wo er sich aus den Kippen im Aschenbecher eine neue Zigarette drehen würde.

»Na, ihr zwei Turteltauben. Macht es euch was aus, wenn ich mich aus eurer illustren Runde entferne?« Rolf hatte seins und die Hälfte meines Abendessens verzehrt, strich sich mit der Hand über den immer noch knurrenden Magen und war im Begriff, aufzustehen.
»Sprichst du immer so gewählt, Rolf?« Zum ersten Mal redete Lila ihn freundlich an, was Rolf – der für weibliche Signale durchaus empfänglich war – schmeichelte, weshalb er sitzenblieb.
»In dieser Station eigentlich nicht. Ich passe mein Vokabular der jeweiligen Umgebung an.«
»Er will damit ausdrücken, dass wir anderen Alkis zu dumm sind, um ihn zu verstehen.«
»Du hast es auf den Punkt gebracht, Henning.«
»Jetzt streitet euch doch nicht, ihr beiden.«
»Wir zanken uns gar nicht. Dafür müssten wir uns auf gleicher Augenhöhe befinden. Aber erlaube kurz einen neuen Gedanken: hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du ein perfektes Gesicht besitzt, Lila?«
»Nein, Rolf.«

Ein vergiftetes Kompliment

»Ein italienischer Maler hat sich so geäußert: Schönheit ist die Summe der Teile, bei deren Anordnung die Notwendigkeit entfällt , etwas hinzuzufügen, zu entfernen oder zu ändern.«
»Das hast du ganz wunderbar ausgedrückt, Rolf. Siehst du das auch so, Henning?«
»Ich? Ja, ist schon okay.«
»Du bist ein alter Griesgram. Nimm dir ein Beispiel an Rolf, dem Charmeur. Der behandelt Frauen sogar in der traurigen Klinik mit dem ihnen zustehenden Respekt. Er ist witzig und aufmerksam und nicht so ein gleichgültiges Monster wie du. Ich geh dann mal auf mein Zimmer. Bin müde. Bis später, ihr Zwei.« Sie brachte ihres und mein Tablett zurück in die Küche und erst jetzt bemerkte ich, dass sie barfuß herumlief.

»Na, wie fandst du das Zitat, Henning?«
»Scheiße.«
»Da du es nicht kanntest?«
»Rolf, das spricht Nicolas Cage zu Jessica Biel im Film Next. Und: Es war ein deutscher Maler, kein Italiener.«
»Bei Hollywood bist du mehr Experte als ich. Die Quelle ist doch vollkommen egal. Hauptsache, es hat Lila gefallen. Ich glaube, sie hat sich über das Kompliment sehr gefreut.«
»Weiß nicht.«
»Du bist eifersüchtig, weil Du nicht selbst auf die Idee gekommen bist. Los, gib’s zu.«

Black Mamba sorgt sich

»Hallo, Herr Hirsch. Schön, dass Sie endlich wieder bei den Lebenden sind.« Neben mir stand unverhofft Schwester Veronika, die gerade mit ihrer Abendschicht begonnen hatte. Von uns liebevoll Black Mamba gerufen. Wegen ihrer Vorliebe für hautenge schwarze Bodies. Sie passte eher als Ninjakämpferin in einen japanischen Schwertfilm als in dieses Krankenhaus. Ich freute mich, sie zu sehen. »Wissen Sie überhaupt, wie Sie hierhergekommen sind?«
»Habe nur dunkle Erinnerungen an die vergangenen achtundvierzig Stunden.«
»Wir haben Sie mehr tot als lebendig vorgestern aus Ihrer Wohnung rausgeholt. Das war allerletzte Eisenbahn. Sie wären beinahe abgekratzt.«
»Hat mir Pfleger Franz heute früh gesteckt. Klingt aber auch aus Ihrem Mund sehr übel.«
»Da sagen Sie was. Ruhen Sie sich aus, und kommen Sie langsam wieder auf die Beine. Medikamente bringe ich Ihnen gleich vorbei.«

In düsterer Gemütsverfassung angelte ich mir einen alten Kicker und blätterte lustlos in den mit Kaffeeflecken besprenkelten Seiten herum. Es gelang mir jedoch nicht, mich auf die kurzen Texte zu konzentrieren, und so betrachtete ich notgedrungen nur die Bilder von Fußballspielern, Trainern und Vereinsfunktionären. Irgendwann werde ich nicht mehr lesen können, argwöhnte ich. Spätestens dann werden sie mich in ein Pflegeheim einweisen. Kein schöner Gedanke, wenn man wie ich schwitzend und mit Puls 170 am frühen Abend im Aufenthaltsraum der geschlossenen Station saß und bibbernd auf die nächste Ration Pillen wartete.

Lila ritzt sich

»Herr Hirsch, kommen Sie schnell mit.« Die völlig aufgeregte Veronika tauchte plötzlich vor mir auf. In ihren schreckgeweiteten Augen spiegelten sich Fassungslosigkeit und Trauer.
»Was ist los, Schwester?«
»Die junge Frau, Ihre Freundin, hat sich was angetan.«
»Ich bin kein Arzt.« Die waren erfahrungsgemäß nie in der Nähe, wenn was passierte.
»Weiß ich. Aber sie fragt nach Ihnen.«

Gemeinsam hasteten wir zu Lilas Zimmer, wobei ich eher hinkte und trotz der kurzen Strecke schnell aus der Puste geriet. Uns bot sich ein grauenerregender Anblick. Eine blutverschmierte Lila. Ein zerborstener Spiegel im Badezimmer. Sie hielt mir ihre Hand entgegen. Ich nahm sie in die meine.
»Henning, ich habe mich bestraft.« Ich nahm sie in meine Arme, sie schluchzte hemmungslos, ihr schlanker Körper wurde von Heulkrämpfen geschüttelt.
»Ich sehe es.«
»Nachdem mir dein Freund das mit der Schönheit gesagt hatte, da verspürte ich mit einem Mal einen enormen Druck in mir.«
»Ja, leider.«
»Ich habe versucht, es zu unterdrücken. Aber dann wurde der Zwang zu groß.«
»Das ist bei Menschen wie dir so.«
»Ich musste mich einfach ritzen.«
»In dein schönes Gesicht. Ich könnte weinen, wenn ich dich anschaue.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf, während mir Lilas Blut über Hemd, Hose und die weißen Tennisschuhe tropfte. Ich würde meine Sachen nachher in die Mülltonne werfen. Machte ich jedes Mal so, wenn ich mit vollgepissten Jeans und zerrissenen T-Shirts in der Klinik aufschlug. Das Vernichten der verdreckten Kleidung bedeutete für mich einen wesentlichen Bestandteil meines allmonatlichen Reinigungsprozesses. Veronika und eine mir unbekannte Assistenzärztin versuchten derweil, die Verletzungen provisorisch zu behandeln und verabreichten Lila eine Spritze mit einem starken Beruhigungsmittel in die linke Armbeuge. Danach ließen sie uns alleine; ermahnten uns jedoch, weitere Dummheiten auf jeden Fall zu unterlassen.

»Henning, wirst du mich auch lieben, wenn ich in Zukunft aussehe wie ein Zombie?«
»Ja!«
»Glaubst du, dass man die Narben lasern kann?«
»Natürlich«, log ich. Was hätte ihr in diesem Moment die Wahrheit genützt?
»Das stimmt nicht. Brauchst nicht zu flunkern. Ich weiß, dass du mich nicht unnötig aufregen möchtest.«
»In der plastischen Chirurgie sind heute viele Dinge möglich«, antwortete ich mit schmalen Lippen.
»Das ist nicht weiter schlimm. Mir reicht es, dass du jetzt neben mir sitzt. Geh bitte nicht weg!«. Lila versuchte, tapfer zu sein und sich ihre Verzweiflung nicht anmerken zu lassen.

Am Abend fühle ich mich noch mieser als am Morgen

Nach einigen Minuten, in denen wir über belangloses Zeug geplaudert hatten, kehrte die junge Ärztin zurück: »Wir werden Sie in einer Stunde in die psychosomatische Abteilung verlegen.«
»Ich möchte aber bei ihm bleiben.« Lila bäumte sich auf und wollte aus dem Zimmer fliehen. Sachte drückte ich sie zurück in ihren Sessel.
»Lila, sie werden es tun. Das ist eine Entgiftungsstation. Fälle wie deiner sind hier nicht richtig aufgehoben.«
»Wirst du mich da besuchen?«
»Klar.« Aber nicht so bald, wie du hoffst. So schnell werden sie mich aus der Geschlossenen nicht rauslassen, ging es mir durch den Kopf, verriet es Lila allerdings nicht.

An der dick gepanzerten Ausgangstür verabschiedeten wir uns. Veronika tippte einen fünfstelligen Code in die an der Wand befestigte Tastatur, die beiden Flügel des Portals glitten mit einem leisen Summen auseinander und gaben für einige Sekunden den Blick frei in die Außenwelt. Ein bulliger Pfleger, den ich zum ersten Mal sah, packte Lila an der Schulter und bugsierte sie hinaus in die unendlich langen Korridore des psychiatrischen Krankenhauses. Sie drehte sich ein letztes Mal um, weil sie mir zuwinken wollte. Ich hatte mich jedoch bereits abgewandt, da ich tränenreiche Lebewohlszenen nicht leiden konnte.

In noch niedergeschlagenerer Stimmung als einige Stunden zuvor schlurfte ich zurück in das Raucherzimmer. Dort warteten bereits Rolf und Rene auf mich. Vor Neugier schier platzend, um sich von mir über die jüngsten Geschehnisse informieren zu lassen. Ich aber schwieg.

»Wie geht es Lila?«, unterbrach Rolf schließlich die Stille.
»Sie wird’s schon überleben. Aber ihr Gesicht ist halt im Eimer«, antwortete ich einsilbig.
»Immer dasselbe mit den Junkies.« Rene grinste, während er sich mit spinnenartigen Fingern eine Kippe drehte.
»Ihr zwei Clowns versteht gar nichts. Lasst mich bloß in Ruhe! Heute fühle ich mich supermies.«

Ich setzte mich in die hinterste Ecke des Raums und stierte mit inhaltsleerem Gehirn an die gelbe Tapete. Vom Sekundenschlaf übermannt döste ich an Ort und Stelle ein und wurde eine Stunde später von Veronika sanft aufgeweckt, die mich, ohne ein Wort zu sagen, in mein Bett verfrachtete.
ENDE

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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