Was machen wir am Tag vor dem Weltuntergang?

Henning Hirsch hat die neue Netflix-Produktion „Leave the World behind“ geschaut und sagt: Ein bisschen mehr Action hätte diesem Prä-Apokalypsestreifen nicht geschadet.

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Mit Filmen, die das rote N auf der Startseite tragen, ist es immer so ne Sache: Überwiegend sind sie mittelmäßig erzählt und weisen eine Tendenz in Richtung langatmig bis hin zu langweilig auf. Das gilt bspw. für „War Machine (2017 mit Brad Pitt)“, „The Old Guard (2020 mit Charlize Theron), „Der schwarze Diamant (2020 mit Adam Sandler), „Triple Frontier (2019 mit Ben Affleck) und ganz besonders „The Gray Man (2022 mit Ryan Gosling & Ana de Armas). Und weshalb Im Westen nichts Neues bei der letzten Oscar-Verleihung 4 dieser begehrten Auszeichnungen erhielt, habe ich bis heute nicht begriffen. Die Produktion fiel gegenüber ihren 1930 und 1979 gedrehten Vorgängern dramaturgisch deutlich ab.

Dennoch klicke ich natürlich hin und wieder – vor allem, wenn ich vorher eine positive Rezi gelesen habe – auf Einteiler mit dem großen N. So vor ein paar Wochen „Der Killer“ mit Michael Fassbender als schweigsamen Auftragsmörder, der in schön eingefangenen Bildern (Regie: David Fincher) um die halbe Welt jettet, und an jedem Ort, in dem er landet, 1 Leiche hinterlässt. Allerdings quatscht der Killer ständig aus dem Hintergrund (nennt sich im Fachjargon = Voiceover) und erklärt dem Zuschauer sein Tun, was schnell ermüdet. Fällt für mich deshalb in die Rubrik „(zu viel) tell statt show“. Zumal die Story nicht unbedingt innovativ ist; hat man in leichten Variationen schon 100x woanders gesehen.

Gestern Abend unternahm ich einen weiteren Versuch mit einem von der Kritik wohlwollend aufgenommenen Werk: „Leave the world behind“ (auf Deutsch in etwa = Lass die Welt hinter dir). Adaption des gleichnamigen Romans von Rumaan Alam. Genre = (wie eine) Dystopie (entsteht) oder Die letzten Tage vor dem Weltuntergang.

Havarierende Öltanker und Totalausfall aller Funknetze – die Geschichte im Schnelldurchlauf

Das New Yorker Upper-Middleclass-Ehepaar Amanda (Julia Roberts) und Clay (Ethan Hawke) Sandford beschließt spontan, einen Kurzurlaub am Meer zu verbringen. In einem Reiseportal mieten sie eine noble Villa auf Long Island und fahren mit ihren zwei Kindern Rosie (Farrah Mackenzie) und Archie (Charlie Evans) übers verlängerte Wochenende dorthin. Am Ziel angelangt, stellt die Familie fest, dass sowohl die Handys als auch Internet und TV-Empfang nicht funktionieren. Tags darauf am Strand havariert ein Öltanker knapp vor dem Picknick-Korb der Sandfords. Erklärung der herbeigeeilten Polizei = Ausfall des Navigationssystems.

Am selben Abend klopft es an der Tür, draußen stehen George Scott (Mahershala Ali) und dessen Tochter Ruth (Myha’la Herrold), die Eigentümer des Anwesens. Nach einigem Zögern bitten die Sandfords die beiden herein. Die Scotts berichten, dass sie aufgrund eines stadtweiten Stromausfalls aus Manhattan „geflohen“ sind, um die nächsten Tage in ihrem Landhaus zu verbringen. Gerne könne man sich das mit den Sandfords teilen. Clay hat kein Problem damit, Amanda willigt zähneknirschend ein, bleibt aber misstrauisch.

Am darauffolgenden Tag passiert Folgendes: die Sandfords akzeptieren, dass es sich bei den Scotts tatsächlich um die Eigentümer handelt, und es ereignen sich jede Menge mysteriöse Dinge: Flugzeuge stürzen vom Himmel, unbemannte Autos verstopfen die Straßen, Flamingos wassern im Swimming Pool, 50 Rehe grasen im Garten, aus einer scharlachroten Wolke regnet es Flugblätter, auf denen in arabischen Schriftzeichen den USA der Tod gewünscht wird. Plötzlich ertönt ein durch Mark und Bein gehendes, schrilles Geräusch, das Fensterscheiben bersten lässt. Sohn Archie bekommt Fieber und ihm fallen die Zähne aus. Sämtliche Kommunikationsinstrumente bleiben weiterhin funktionsunfähig. Mehr soll an dieser Stelle nicht gespoilert werden.

Top-Schauspiel-Crew & atmosphärische Dichte

Es ist eine langsam erzählte Weltuntergangsgeschichte, die von 2 Säulen getragen wird:

Schauspieler-Crew: top besetzt mit Julia Roberts, Ethan Hawke, Mahershala Ali und – wenn auch nur in einer kleinen Nebenrolle auftretend – Kevin Bacon. Speziell Julia Roberts liefert mit ihrer Darstellung der misanthropischen, kratzbürstigen, supermisstrauischen Ehefrau und gleichzeitigen Helikoptermutter eine klasse Leistung ab. Ethan Hawke als ihr naiver Gatte ist wie immer nett anzusehen und Mahershala Ali spielt halt Mahershala Ali. Von den 3 Kindern sticht besonders Tochter Rosie (Farrah Mackenzie) mit ihren Vorahnungen hervor. Konsequenterweise gehört ihr deshalb auch die Schlussszene.

Atmosphäre: Wie entwickelt sich die Gefühlslage des normalen Bürgers, wenn er allmählich begreift, dass sich was (sehr) Bedrohliches um ihn herum zusammenbraut? Die Apokalypse nähert sich in kleinen, immer beängstigenderen Schritten. Waren es bloß jugendliche Hacker, die „aus Spaß“ alle Funknetze lahmgelegt haben oder handelt es sich doch um einen bösartigen Cyberangriff durch Terroristen oder gar die Vorbereitung der Invasion einer ausländischen Macht? Steckt der eigene Geheimdienst dahinter, der die Lage im Land destabilisieren will, um im Anschluss eine neue autokratische Regierung zu installieren? Die Sandfords spekulieren wild drauflos, Rosie hat ihre Vorahnungen, Nachbar Danny (Kevin Bacon) ist ein Prepper und seit Jahren auf den Ernstfall eingestellt, und George – im Beruf Börsenmakler – hat im Vorfeld zwar die Märkte von ner großen Militäraktion, die kurz bevorsteht, raunen hören, kann sich aber ebenfalls keinen richtigen Reim auf die Long-Island-Geschehnisse machen.

Das Finale bleibt offen: Wir erfahren weder Genaues über Ursprung und Ausmaß der Bedrohung, noch ob sie sich zur globalen Katastrophe ausweitet oder lokal begrenzt ist. Das Happy an diesem End begnügt sich damit, dass sämtliche Protagonisten (noch) am Leben sind.

Sehr sparsam mit Action, streckenweise wie ein Kammerspiel

Wie man den Film bewertet, hängt stark davon ab, was man von einer Weltuntergangsgeschichte erwartet: reichen mir eine dichte Atmosphäre und (teils) tiefsinnige Dialoge, oder möchte ich doch ein paar spektakuläre Actionszenen sehen? Mit dem Zweitgenannten geht „Leave the world behind“ sparsam, um nicht geizig sagen zu müssen, um. Sowohl die Tankerhavarie als auch die abstürzenden Flugzeuge sahen (zu) sehr nach Computeranimationen aus. Diese Sequenzen waren auch zu kurz. Wenn sowas passiert, will ich als Zuschauer schreienden Matrosen und brennenden Passagieren auf der Leinwand begegnen. Stattdessen ist die Kamera ständig auf die 6 Protagonisten gerichtet. Long Island scheint jenseits dieser 2 Familien (zzgl. Nachbar Danny) eh komplett verwaist zu sein. Wo sind all die Menschen hin, überlegte ich zwischendurch. Durch die Konzentration auf die 6, meist auf das Ambiente der Villa beschränkt, entsteht bisweilen der Eindruck, an einer Freilicht-Theateraufführung teilzunehmen. Die Story hat streckenweise Ähnlichkeiten mit einem Kammerspiel.

Von mir gibt’s 7 Punkte (1 davon für Julia Roberts). Mein Hauptkritikpunkt = ZU langatmig erzählt (wie nahezu sämtliche Netflix-Produktionen). Keine Sorge: ist dennoch unterhaltsam.
+++

Leave the world behind
 Länge: 138 Minuten
 Erscheinungsjahr: (November) 2023
 Regie & Drehbuch: Sam Esmail
 Produktion: Sam Esmail, Marisa Yeres Gill, Lisa Roberts Gillan, Chad Hamilton, Julia Roberts
 Auftraggeber: Netflix
 Besetzung: Julia Roberts, Ethan Hawke, Kevin Bacon, Mahershala Ali, Myha’la Herrold, Farrah Mackenzie und Charlie Evans.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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