Bis in idem – Nochmal Wiederaufnahme

Das Bundesverfassungsgericht hat die Gesetzesänderung zur Wiederaufnahme des Verfahrens zulasten Freigesprochener als verfassungswidrig gekippt. Das war abzusehen. Eine Kolumne von Heinrich Schmitz.


Bild von Gerd Altmann auf Pixabay

Als der Gesetzentwurf vorlag, war mir klar, dass das Gesetz nicht halten würde. In meiner Kolumne vom 20. Februar 2021  schrieb ich:

Es wird Sie nicht wundern, wenn ich die Aufweichung eines bewährten Rechtsgrundsatzes für eine ziemliche Bierzeltidee halte, die man am besten gleich wieder vergisst. Warum sollte etwas, das seit über 2000 Jahren erträglich war, auf einmal unerträglich sein? Auch bei Schaffung des Grundgesetzes wird es schon zu Unrecht Freigesprochene gegeben haben. Und dennoch hat das Grundgesetz eine klare Entscheidung getroffen.

Mir persönlich ist ein zu Unrecht wegen Mordes Verurteilter wesentlich unerträglicher als ein zu Unrecht Freigesprochener. Deshalb würde ich mir umgekehrt wünschen, dass die Wiederaufnahmemöglichkeit zugunsten des zu Unrecht Verurteilten erleichtert würde.

Ja, es gibt ungesühnte Morde. Gab es auch schon immer und die Welt oder auch nur der Rechtsstaat ist deshalb nicht untergegangen. Ich möchte nicht wissen, wie viele Tötungsdelikte schon gar nicht als solche erkannt werden und bei wie vielen Alten der Hausarzt ganz arglos einen Totenschein ausstellt, obwohl die Todesursache alles andere als natürlich war. Da kräht kein Hahn nach. Das Risiko, dass ein Freigesprochener sich nachher mit seiner Tat brüstet und damit durch die Talkshows zieht und das Opfer verhöhnt, ist schon durch Absatz 4 der bestehenden § 362 StPO ausgeschlossen.

Sollten die GroKo-Fraktionen meinen, diese eher populistisch denn wissenschaftlich begründete Änderung tatsächlich beschließen zu müssen, bleibt immer noch das Bundesverfassungsgericht. Also schau’n mer mal.


Wie erwartet

Nun ist alles genauso gekommen, wie zu erwarten war. Und das ist auch gut so, auch wenn viele Menschen das nicht verstehen. Das Bundesverfassungsgericht macht sich dabei alle Mühe, seine Entscheidung verständlich zu machen.

Schauen wir uns die Entscheidung mal in Ruhe an.

Zunächst erläutert das Gericht den historischen Hintergrund des Grundsatzes „ne bis in idem“.

Der Grundsatz ne bis in idem wird auf das kontradiktorische Verfahren im römischen Recht zurückgeführt. Demgegenüber oblag nach dem gemeinrechtlichen und teils auch kodifizierten Inquisitionsverfahren die Aufgabe der Strafverfolgung ausschließlich dem Staat, der im Interesse der Allgemeinheit und der Gerechtigkeit die Wahrheit zu erkennen und durchzusetzen hatte. Dem Verfahrensziel, die objektive Wahrheit zu erlangen, entsprach es, auch nach Abschluss eines Verfahrens ein und dieselbe Tat erneut zu untersuchen und gegebenenfalls erneut zu bestrafen, wenn neue Verdachtsgründe oder Beweismittel zutage traten. Dies wurde durch die sogenannte Lossprechung von der Instanz (absolutio ab instantia) ermöglicht, wenn nach den gesetzlichen Beweisregeln des Inquisitionsverfahrens weder die Schuld noch die Unschuld festgestellt werden konnte (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <549>; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 11 ff. m.w.N.).

Nach Einführung des akkusatorischen Strafverfahrens in Frankreich infolge der Revolution von 1791 wurde der Anklageprozess in zahlreichen deutschen Partikularstaaten rezipiert und auch in § 179 Abs. 1 der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 vorgegeben. Als Kern des akkusatorischen Verfahrens galt, dass die Parteien den Prozessstoff zu sammeln und vorzulegen hatten, so dass bewusst oder unbewusst nicht vorgebrachter Prozessstoff unbeachtlich war. Zugleich hielt der Gedanke der Rechtskraft der richterlichen Streitentscheidung Einzug in den Strafprozess. Bei offen gebliebenen Anklagepunkten trat an die Stelle der nur verfahrenseinstellenden absolutio ab instantia der Freispruch als verfahrensbeendendes Sachurteil (vgl. Grünewald, ZStW 120 <2008>, S. 545 <552> m.w.N.; Frank, Die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten im Strafverfahren, 2022, S. 19 ff.). Eine Wiederaufnahme wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel gab es nicht.

In der Weimarer Republik blieben die strafprozessualen Bestimmungen inhaltlich unverändert (vgl. Verordnung vom 4. Januar 1924 zur (Neu-)Bekanntmachung der Reichsstrafprozessordnung, RGBl I S. 299 ff. <358 ff.>). Eine Erweiterung der Wiederaufnahmegründe zulasten des Angeklagten um neue Tatsachen oder Beweismittel wurde 1931 auf dem Deutschen Juristentag kontrovers diskutiert und im Ergebnis abgelehnt (vgl. Verhandlungen des 36. Deutschen Juristentages, Bd. 1, 4. Lieferung, 1931, S. 1141 ff.; Bd. 2, 1932, S. 222 ff.). „

Bis dahin war alles gut. Aber dann kamen die Nazis. Und die änderten das Gesetz mit derselben Argumentation, mit der die Groko es geändert hat, nämlich der Betonung des Gerechtigkeitsgedankens gegenüber der Rechtssicherheit. Alleine das sollte zu denken geben.

Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Wiederaufnahmegründe zugunsten und zuungunsten des Angeklagten durch die Dritte Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege vom 29. Mai 1943 (RGBl I S. 342 ff.) einander angeglichen. In der Begründung des vorangegangenen Entwurfs hieß es, wichtiger als die – vorwiegend als Schutz des Beschuldigten gedachte – formale Rechtskraft sei das Verlangen der Volksgemeinschaft nach Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit sei einheitlich und unteilbar und sei die gleiche bei Entscheidungen zugunsten wie zuungunsten des Angeklagten (vgl. Begründung des Entwurfs einer Strafverfahrensordnung vom 1. Mai 1939, abgedruckt in: Schubert/Regge/Rieß/Schmid, Quellen zur Reform des Straf- und Strafprozessrechts, Abteilung III, Bd. 1, 1991, S. 541). Daneben konnte mit der sogenannten Urteilsergänzung die Rechtskraft in denjenigen Fällen durchbrochen werden, in denen das Urteil den „Belangen der Volksgemeinschaft“ widersprach (vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Bd. 3, 3. Aufl. 2018, Art. 103 Abs. 3 Rn. 4).

Jaja, das Verlangen der Volksgemeinschaft. Die wird auch aktuell immer häufiger ins Feld geführt, so auch in der Begründung des nun gekippten Gesetzes. Dort heißt es:

Der Rechtsfrieden und das Gerechtigkeitsgefühl der Bevölkerung werden durch einen erwiesenermaßen ungerechtfertigten Freispruch wegen Mordes oder wegen der aufgeführten Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch in mindestens ebenso starkem Maße beeinträchtigt wie durch die Verurteilung eines unschuldigen Angeklagten. Schon der Freispruch in einem einzigen Verfahren – etwa im Falle eines Serienmörders –, der sich nachträglich auf Grund neuer technischer Ermittlungsmethoden als falsch erweist, kann den Rechtsfrieden und das Vertrauen in die Strafrechtspflege nachhaltig stören. Dies zeigt auch der Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann, der Anlass für eine Petition zur Reform der Wiederaufnahme geworden ist. Knapp 180.000 Menschen haben diese Petition bereits unterschrieben.

Glücklicherweise wurde dieser Unfug nach dem 2. Weltkrieg wieder geändert

BRD

c) Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde zunächst in den Besatzungszonen die Rechtslage im Wesentlichen entsprechend der Reichsstrafprozessordnung in der Fassung der Neubekanntmachung von 1924 wiederhergestellt (vgl. im Einzelnen Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten <§§ 362 ff. StPO>, 1974, S. 71 und 143; Bohn, Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens zuungunsten des Angeklagten vor dem Hintergrund neuer Beweise, 2016, S. 87 f.).

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland galt dies bundeseinheitlich aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 20. September 1950 (BGBl S. 455). In der Folgezeit wurde eine Reform des Wiederaufnahmerechts im Schrifttum diskutiert (vgl. nur Peters, Fehlerquellen im Strafprozeß, Bd. 2, 1972, S. 321; Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten <§§ 362 ff. StPO>, 1974; BRAK, Denkschrift zur Reform des Rechtsmittelrechts und der Wiederaufnahme des Verfahrens im Strafprozess, 1971, S. 76; Meyer, Wiederaufnahmereform, 1977, S. 158; Deml, Zur Reform der Wiederaufnahme des Strafverfahrens, 1979, S. 142), ohne dass es zu Änderungen zuungunsten des Angeklagten kam.“

DDR

In der DDR war es etwas anders:

Im Gegensatz dazu wurde in der Deutschen Demokratischen Republik die Wiederaufnahme zuungunsten des Angeklagten aus denselben Gründen zugelassen wie zugunsten des Verurteilten; die ungünstige Wiederaufnahme war aber nur innerhalb von fünf Jahren seit Rechtskraft des Urteils möglich (§ 328 der Strafprozessordnung vom 12. Januar 1968 <GBl DDR 1968 I S. 49>).

Der falsche Gedankengang, der hinter der Idee steht, ein zweites Verfahren zuzulassen, besteht darin, dass man die Schuld des Freigesprochenen bereits vor einem erneuten Verfahren sicher zu erkennen glaubt. Was soll denn die Benennung eines einzelnen Falles zur Begründung eines Gesetzesvorhabens? Wenn in der Begründung wörtlich steht:

Dies zeigt auch der Fall der ermordeten Frederike von Möhlmann, der Anlass für eine Petition zur Reform der Wiederaufnahme geworden ist. Knapp 180.000 Menschen haben diese Petition bereits unterschrieben.

dann soll das wohl bedeuten, sobald 180.000 Menschen eine Person für schuldig halten, dann muss man dem nachgeben und sie auch als Gesetzgeber für schuldig halten. Hat was von Pontius Pilatus, nach dem Motto, dann kreuzigt ihn halt, wenn ich dafür meine Ruhe habe.

Bei der Frage der Wiederaufnahme streiten zwei Prinzipien mit Verfassungsrang miteinander. Das eine ist die das der materiellen Gerechtigkeit, das andere das der Rechtssicherheit – irgendwann ist aber auch mal Schluss. Hier stellt das Gericht fest:

Da sowohl das Prinzip der materialen Gerechtigkeit als auch das Prinzip der Rechtssicherheit mit Verfassungsrang ausgestattet sind, ist es grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, welchem der beiden Prinzipien im konkreten Fall der Vorzug gegeben werden soll (vgl. BVerfGE 3, 225 <237>; 15, 313 <319>; 22, 322 <329>; 131, 20 <46 f.> m.w.N.). Etwas anderes gilt jedoch, wenn das Grundgesetz diese Entscheidung bereits selbst getroffen hat (vgl. für Art. 117 Abs. 1 GG BVerfGE 3, 225 <238 f.>). Eine solche Entscheidung beinhaltet Art. 103 Abs. 3 GG. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin den Bereich strafgerichtlicher Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.

Man stelle sich vor, was passieren würde, wenn man das anders sähe. Jeder Freispruch wäre dann in der Konsequenz nur noch vorläufig. Der Freigesprochene – und die meisten werden mit Sicherheit unschuldig sein – sähe sich sein Leben lang dem Risiko ausgesetzt, dass übereifrige Zeitgenossen sie trotz des Freispruchs immer weiter verfolgen würden. Das kann nicht gut sein.

Das Gericht sagt dazu:

Das grundrechtsgleiche Recht dient damit – ebenso wie Art. 103 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 109, 133 <171 f.>) – zugleich der Freiheit und der Menschenwürde des Betroffenen. Es verhindert, dass der Einzelne – gegebenenfalls im Rahmen eines Prozesses „ad infinitum“ (vgl. Marxen/Tiemann, ZIS 2008, S. 188 <190>; Arnemann, NJW-Spezial 2021, S. 440) – zum bloßen Objekt der Ermittlung der materiellen Wahrheit herabgestuft wird. Deshalb unterliegt die Strafverfolgung einem geregelten Verfahren, nach dessen Abschluss mittels eines Sachurteils eine weitere Strafverfolgung wegen derselben Tat ausscheidet. Art. 103 Abs. 3 GG beschränkt damit die Durchsetzung des Legalitätsprinzips (vgl. BVerfGE 56, 22 <31 f.>). Diese Selbstbeschränkung des Staates folgt dem rechtsstaatlichen Grundprinzip, mit der Rechtskraft einer Entscheidung Rechtssicherheit des Einzelnen zu schaffen, und konkretisiert es für das Strafrecht als einen der intensivsten Bereiche staatlicher Macht. Wäre dem Gesetzgeber vorbehalten, die Abwägung zwischen Rechtssicherheit und staatlichem Strafanspruch anders zu treffen, könnte Art. 103 Abs. 3 GG selbst das Vertrauen des Angeklagten in den Bestand des in seiner Sache ergangenen Strafurteils und damit Rechtssicherheit für den Einzelnen nicht begründen.

Daneben dient die Rechtskraft einer Entscheidung auch dem Rechtsfrieden (vgl. BVerfGE 2, 380 <403>; 56, 22 <31>; 115, 51 <62>). Es besteht ein vom Einzelnen unabhängiges Bedürfnis der Gesellschaft an einer endgültigen Feststellung der Rechtslage (vgl. Greco, Strafprozesstheorie und materielle Rechtskraft, 2015, S. 346 ff. m.w.N.). Daher hat sich die moderne rechtsstaatliche Ordnung gegen die Erreichung des Ideals absoluter Wahrheit und für die in einem rechtsförmigen Verfahren festzustellende, stets nur relative Wahrheit entschieden. Auch das Strafrecht gebietet keine Erforschung der Wahrheit „um jeden Preis“ (vgl. BGHSt 14, 358 <365>; 31, 304 <309>). Insoweit sichert die Rechtskraft den dauerhaften Geltungsanspruch gerichtlicher Entscheidungen. Rechtsmittel tragen dem Umstand Rechnung, dass jede Entscheidung fehlerhaft und daher korrekturbedürftig sein kann; sie erhöhen damit die Richtigkeitsgewähr. Die Möglichkeit, ein Verfahren durch Rechtsmittel unaufhörlich weiterzuführen, beziehungsweise die Möglichkeit der Wiederaufnahme, es von Neuem zu beginnen, würde jedoch fortwährende Zweifel an der Richtigkeit des Urteilsspruchs zulassen und damit das Vertrauen in die Effektivität der Streitentscheidung durch die Rechtsprechung beeinträchtigen.

Wenn Sie nun meinen, da hat der Schmitz aber viel zitiert, dann haben Sie auf der einen Seite recht, andererseits ist das äußerst lesenswerte Urteil mit 42 Seiten deutlich länger. Wenn Sie sich für Straf- und Verfassungsrecht wirklich interessieren, dann kann ich Ihnen die Lektüre des vollständigen Urteils nur wärmstens ans Herz legen.

Heinrich Schmitz

Heinrich Schmitz ist Rechtsanwalt, Strafverteidiger und Blogger. In seiner Kolumne "Recht klar" erklärt er rechtlich interessante Sachverhalte allgemeinverständlich und unterhaltsam. Außerdem kommentiert er Bücher, TV-Sendungen und alles was ihn interessiert- und das ist so einiges. Nach einer mit seinen Freital/Heidenau-Kolumnen zusammenhängenden Swatting-Attacke gegen ihn und seine Familie hat er im August 2015 eine Kapitulationserklärung abgegeben, die auf bundesweites Medienecho stieß. Seit dem schreibt er keine explizit politische Kolumnen gegen Rechtsextreme mehr. Sein Hauptthema ist das Grundgesetz, die Menschenrechte und deren Gefährdung aus verschiedenen Richtungen.

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