Philosophen und Diamanten

Das unwidersprochene Bedienen antisemitischer Klischees darf im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht passieren. Oder: Weshalb wir bei Onkel Anton manchen Nonsens stillschweigend tolerieren, den wir Deutschlands TV-Philosophen Nr. 1 auf keinen Fall durchgehen lassen können. Kolumne von Henning Hirsch.

Bild von Angeleses auf Pixabay

Frauen über 50 sind dick und tragen Wischmoppfrisuren, Männer ü60 bekommen ihn ohne Viagra nicht mehr hoch, Düsseldorfer sind die Allerblödesten (von Köln aus betrachtet), Engländer randalieren, wenn sie zu viel getrunken haben, Russen sind alle aggro, Belgier können kein Auto fahren, in Schweden geht jeder mit jedem ins Bett (v.a. im Winter), der Ami ist oberflächlich und schießwütig, wer Kolumnen schreibt, ist entweder Rentner oder arbeitslos und hat sowieso von nichts Ahnung.

Keep it simple, stupid!

Hand aufs Herz: Wer von uns hat das – oder Ähnliches – noch nicht gesagt oder zumindest gedacht? Also, ich hab so was schon hin und wieder gesagt. Speziell das mit den Düsseldorfern und den Kolumnisten habe ich gesagt. Wobei ich, seitdem ich die 50 überschritten habe – was auch schon wieder 10 Jahre her ist – das mit den Düsseldorfern nicht mehr sage, aber ab und an noch denke. Was ich damit zum Ausdruck bringen möchte: Wir alle verallgemeinern und sortieren gerne in Schubladen ein. Das mag man schlimm finden, liegt aber nun mal in der menschlichen Natur bzw. an der Zähflüssigkeit unseres Hirnstroms, die uns komplexe Dinge (nicht alle Düsseldorfer sind blöde, es gibt auch halbblöde und sogar recht nette) auf simple Merksätze reduzieren lässt. Ich mein‘, sämtliche Drogensüchtige lügen und klauen ist natürlich einprägsamer als: man muss bei Abhängigkeitserkrankten in mehrere Fallgruppen unterscheiden. Wer hat schon Lust und Zeit, sich immer die langatmigen Differenzierungen reinzuziehen? Speziell das Social-Media-Zeitalter verlangt kurze & knackige Beschreibungen. Für unser Bedürfnis, komplizierte Dinge auf 1 einfache Formel runterzubrechen, gibt’s sogar einen Fachbegriff, der KISS heißt = keep it simple, stupid!

Neu in die KISS-Zitate-Bibliothek aufgenommen wurde nun ein Diskussionsfragment aus einem wöchentlich erscheinenden Podcast der Herren Lanz und Precht (lfd. Nr. 110: Über Israel und den Gazastreifen, vom 13. Okt. 2023, abrufbar via ZDF-Mediathek), in dem der Zweitgenannte im Brustton der Überzeugung erklärt:

Die Religion verbietet streng orthodoxen Juden zu arbeiten. Ein paar Sachen, wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen.

Die Vorlage zu der Aussage gab sein Gesprächspartner, als der von seinen Begegnungen mit Orthodoxen in Israel erzählt:

Die meisten von ihnen arbeiten nicht, weil sie sich vollumfänglich der Religion widmen.

… das ist doch ne knackige Wussten-wir-doch-immer-schon-dass die-da-hinten-im-Nahen-Osten-alle-nicht-richtig-arbeiten-Klassifizierung, oder? Wow!

Mal losgelöst davon, dass mir der Unterschied zwischen orthodoxen, streng orthodoxen oder gar ultraorthodoxen Juden nicht richtig klar ist und ich überlege, welche Schrittfolge dem im Christentum entspräche (Feiertagsprotestant, Ganzjahreskatholik, Sektenmitglied?), will mich der Prechtsche Simplifikator mit folgender Realität vertraut machen – (streng) orthodoxe Juden:
 sind 24/7 mit ihrer Religion beschäftigt
 können deshalb logischerweise keinem geregelten Erwerbsleben nachgehen
 und falls sie doch hin und wieder arbeiten, dann verschieben sie bloß große Geldbeträge kreuz und quer über den Globus und maggeln mit teuren Klunkern.

Was bereits Sergio Leone wusste

Das ist ausgemachter Nonsens, denn selbstverständlich malochen (streng u ultra) orthodoxe Juden ebenfalls in stinknormalen Jobs wie Sie und ich. Da gibt’s den Bäcker, den Schreibwarenhändler, den Bauingenieur, den IT-Spezialisten und den Webdesigner. Weiß man bzw. könnte man problemlos in Erfahrung bringen, wenn man schon mal in Israel war oder 1 Buch übers Judentum gelesen hat oder bei Filmen aufpasst, in denen (orthodoxe) Juden dargestellt werden (bspw. zu Beginn von Sergio Leones Meisterwerk:„Es war einmal in Amerika“) oder sich, bevor man einen Podcast aufnimmt, mittels Google entsprechend informiert. Und dass es von Finanzgeschäften und Diamanthandel hin zu antisemitischen Verschwörungserzählungen nicht weit ist, sollte eigentlich bei deutschen Intellektuellen Allgemeingut sein.

Wobei ich an dieser Stelle einen kleinen Einschub machen möchte.
[Beginn des Einschubs] Nicht jede Wiedergabe eines antisemitischen Klischees gründet auf einem genuin antisemitischen Impuls. Häufig stecken bloß Unkenntnis oder Faulheit, sich entsprechend zu informieren, bevor man was Dummes sagt, dahinter. [Ende des Einschubs].

Bei Onkel Anton drücken wir schon mal 1 Auge zu

Das wäre alles halb so dramatisch, wenn die Vortragenden ihre Unwissenheit im kleinen Umfeld verlautbart hätten: mittags bei Eisbein & Sauerkraut in der Kantine, abends nach dem 7ten Bier an der Theke ihrer Stammkneipe, Sonntagnachmittag im Familienkreis bei Schwarzwälder Torte und 2 Kurzen. Auch dann bleibt es Nonsens, jedoch Nonsens, der nur eine geringe Anzahl Zuhörer erreicht. Ich will gar nicht wissen, wie viel Unsinn täglich unter Arbeitskollegen und an den Stammtischen der Republik ausgetauscht wird. Falls Onkel Anton nach dem dritten Zwetschgenwasser zum Sonntagkuchen im Brustton der Überzeugung behauptet, orthodoxe Juden arbeiten ausschließlich als Diamantenhändler, alles andere sei ihnen von ihrer Religion nicht erlaubt, dann kann man ihm entweder widersprechen oder still hoffen, dass er mit seinen 90 Jahren eh nicht mehr allzu oft an Familienfeiern teilnehmen wird, bevor man ihn pünktlich um 18 Uhr wieder im Seniorenstift abliefert.

Wollen wir deshalb an dieser Stelle festhalten.
(a) Unsinn erzählen ist menschlich
(b) so lange das in Kneipen und anderen abgeschlossenen Orten in kleiner Gruppe geschieht, müssen wir es tolerieren
[Den meisten Unsinn verzapfen eh die Kolumnisten, sagen Sie? Da stimme ich Ihnen vollumfänglich zu].

Ärgerlich wird das Verbreiten von Nonsens jedoch, wenn die Falschinformationen das enge Kollegen-/Freundes-/Verwandten-Umfeld verlassen und vor großem Publikum gestreut werden. Z.B. in Zeitungen, im Radio oder gar zur besten Sendezeit in einem unserer öffentlich-rechtlichen TV-Kanäle. Denn hier ist die Breitenwirkung eine völlig andere als beim Sonntagplausch mit Onkel Anton. Zudem vertrauen ja (noch) ne Menge Menschen der internen Qualitätskontrolle der Medien. Soll heißen, man geht als Zuschauer davon aus, dass eine – speziell in einer Wissenssendung – getroffene Aussage vorher von der Redaktion auf ihren Wahrheitsgehalt hin abgeklopft wurde. Oder aber der Moderator widerspricht dem „Experten“ oder es sind weitere Kenner der Materie anwesend, die die (falsche) Sache geraderücken. Diese Regulierungsmechanismen sind jedoch ganz offenkundig ausgeschaltet, sobald Deutschlands Star-Interviewer auf Deutschlands Universalgenie trifft. Da wird dann munter, und leider auch oft faktenfrei, drauflos gelabert (pardon: Expertise ausgetauscht).

Universalgelehrte heißen heute = TV-Philosophen

Auch das wäre noch zu verkraften, wenn nicht qua (selbst verliehener) Berufsbezeichnung „Philosoph“ der trügerische Anschein erweckt würde, hier einen Alles-Checker vor sich zu haben. Jemand, der seinen Aristoteles (natürlich im altgriechischen Original) gelesen hat, der mit Descartes eingeklemmt unter dem linken (und Kant unter dem rechten) Arm zur Arbeit erscheint, der täglich mit Jürgen Habermas telefoniert und die Weltgeschichte seit dem Ende der Altsteinzeit in ihren großen Läufen überblickt. Einer, der 48 Stunden über eine Sache nachdenkt, bevor er 1 Satz dazu sagt und im Anschluss wieder in Schweigen verfällt, um über das nächste Problem zu grübeln. Hätte Precht seine Behauptung folgendermaßen formuliert, „Ich hab gestern mal wieder ‚Snatch‘ von Guy Ritchie angeschaut. Da kann man sehr schön sehen, dass orthodoxe Juden vor allem im Diamantenhandel aktiv sind (und dubiose Finanztransaktionen durchführen und sich den Rest des Tages mit dem Studium der Thora beschäftigen) und auch mein Onkel Anton sagt dasselbe“, dann wär’s zwar immer noch falsch gewesen, aber der Zuschauer bzw. Zuhörer (war ja ein Podcast) würde sofort begreifen, dass es sich hierbei um Trivialwissen und keinesfalls Expertentum handelt. Hätte Lanz sofort dazwischen gegrätscht und „Stopp!“ gerufen, anstatt den Unsinn mit „richtig, genau“ zu goutieren, wär‘ das Schlimmste noch verhindert worden. So beidseitig felsenfest vom Klischee überzeugt, wie es im Podcast gelaufen ist, hätte es halt auf gar keinen Fall laufen sollen.

Wäre, wäre, Fahrradkette … ja ja, kenne ich.

Das übliche 50-Prozent-Entschuldigung-Procedere

Es folgte, was dann immer folgt = Der Blätterwald u.v.a. die sozialen Medien rauschte/n. Deutschlands Starmoderator und Deutschlands TV-Philosoph Nr. 1 mussten sich den Vorwurf des Bedienens antisemitischer Narrative gefallen lassen. ZDF, Precht und Lanz entschuldigten sich halbgar; natürlich nicht, ohne gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass man von Antisemitismus Lichtjahre entfernt und nun wegen der Kritik tief verletzt sei, man viele Juden kenne und auch schon interviewt habe, und man den Satz in der aktuellen Situation besser nicht gesagt hätte. Was irgendwie danach klingt, als ob man den Satz sonst schon hätte sagen können. Und natürlich durfte der Hinweis, die Worte seien aus dem Zusammenhang gerissen worden (bei Precht heißt das = dekontextualisiert), und die bösen Medien würden sowieso ständig darauf lauern, dass solche Fehler passieren, nicht fehlen. Und an dieser Stelle bin ich raus. Wenn ein (selbst ernannter) Experte Fake News übers Judentum verbreitet und ihm diese Falschbehauptung nachgewiesen wird – sich dann auf Dekontextualisierung (was für ein Wort!) zu berufen und die Kritiker des absichtlichen Missverstehens zu zeihen; das ist dann doch der Chuzpe zu viel für mich.

Mein (natürlich unverbindlicher) Rat an ZDF und den Philosophen lautet deshalb = lasst den Mann nur noch zu den Themen vor laufender Kamera (oder auf einem Podcast) reden, von denen er Ahnung hat. Vielleicht Aristoteles, vielleicht Descartes oder Kant. Aber halt nicht mehr zum Nahost-Konflikt, zum Judentum oder zu Corona und dem Ukrainekrieg. Da gibt’s Fachleute, die davon deutlich mehr Ahnung haben als unser (selbsternannter) Universalgelehrter.

Philosoph ist keine geschützte Berufsbezeichnung

Was können wir aus dieser Kolumne – an deren Ende wir jetzt gelangen – mitnehmen?
(1) Philosoph ist keine geschützte Berufsbezeichnung (wie Lifestyle-Coach und Kolumnist)
(2) si tacuisses …
(3) antisemitische Klischees bleiben, auch wenn man sie aus Unwissenheit äußert, immer antisemitische Klischees
(4) wer sich über (orthodoxe) jüdische Diamantenhändler informieren will, der schaue lieber Guy Ritchies „Snatch“, als sich Podcasts von Lanz & Precht anzuhören. Der Film ist zwar ebenfalls faktenfrei, aber deutlich unterhaltsamer
(5) was beim 90-jährigen Onkel Anton aufgrund seiner fortgeschrittenen Demenz geduldet wird, darf man Philosophen nicht unwidersprochen durchgehen lassen.

Ob Kolumnisten nicht ebenfalls Dampfplauderer oder gar Dummschwätzer sind? Natürlich sind sie (speziell ich) das. Aber Kolumnen sind halt Meinungsbeiträge und keine wissenschaftlichen Fachaufsätze. Und vor allem lassen wir Kritik (die hagelt es ja mitunter wäschekörbeweise in den Kommentarspalten unter unseren Texten) zu und jammern nicht rum, dass wir absichtlich dekontextualisiert werden, sondern freuen uns darüber, dass ein paar Menschen unser Zeug lesen und im Anschluss mit uns schimpfen.

PS. heute Nachmittag bin ich mit einer netten Düsseldorferin zu Kaffee & Kuchen verabredet. Wir treffen uns auf neutralem Boden in Bonn. Falls das jemand interessieren sollte.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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