Ein zugänglicher, sprachlich schöner, und heimlich komplexer Roman.

„Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ von Ayşegül Savaş hinterlässt ein noch lang nachklingendes Bild zweier Städte, das zugleich persistiert und von Anfang an wie ein schwaches Hologramm flackert und zu entgleiten droht.


Was sind für „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ von Ayşegül Savaş (bzw. für das englische Original) schon wieder für idiotische Rezensionen im Umlauf. Manche Menschen sollten wirklich nicht über Bücher schreiben. Ernsthaft, wenn ihr Krachbumm-Stoff-Leserinnen und Leser seid, fragt euch doch vielleicht einfach mal, ehe ihr in die Tasten haut: Reiche ich an den Stoff, den ich gerade konsumiert habe, überhaupt heran? Habe ich wirklich etwas Substanzielles beizutragen, ehe ich sage: „Schöne Sprache aber kein Plot“? Kann ich das nur behaupten, oder auch belegen?
Obwohl „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ in erster Linie ein aus vielen kleinen Beobachtungen und Dialogen zusammengesetzter Text ist, könnte man sogar nach klassischem Hollywood-Schema den „inciting incident“ bzw. „Plot Point 1“ mit dem Wechsel zum zweiten Akt, sowie den zweiten Wendepunkt etwa ein Viertel vor dem Schluss festmachen. Bloß, dass es an diesen Stellen eben nicht krachbumm macht. (Der Emo-Titel ist übrigens ein Verbrechen des deutschen Marketings, im Original heißt das Buch „Walking on the Ceiling“)
Sondern: Die Umschlagspunkte sind die Momente, da die Freundschaft der Protagonistin zum älteren Schriftsteller M. in Paris beginnt, sowie eben, als sie einige Zeit später wieder zerbricht. Diese Betrachtung würde dem Text allerdings nicht gerecht, der eben nicht nur aus schöner Sprache und einer überraschend komplexen Konstruktion hinter der einfach wirkenden Oberfläche besteht, sondern auch aus deutlich mehr Plot als eine klassische von A nach B erzählte Geschichte.

Drei hauptsächliche Handlungsstränge

Denn „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ hat genau genommen drei Haupthandlungen. Erstens und vordergründig natürlich die bereits erwähnte Freundschaft. Nunu studiert in Paris, doch eigentlich nicht um zu studieren, sondern einfach um, geradezu existenziell verstanden, in Paris zu sein. Es wirkt ein wenig wie eine Flucht, vor der Familie, vor dem sich verändernden Istanbul, vor etwas, das der Protagonistin und Erzählerin selbst nicht so ganz klar ist. Auf einer Lesung lernt sie M. kennen, ein englischer Schriftsteller, der in Frankreich lebt und vor allem über das Istanbul seiner Vergangenheit schreibt. Dort hat er einige Jahre verbracht und war mit einer Einheimischen verheiratet. Protagonistin und Schriftsteller freunden sich an, spazieren durch Paris und erzählen sich Geschichten. In diesen Geschichten, die wir allerdings nicht so erfahren, wie sie die Protagonistin dem Schriftsteller erzählt, sondern wie sie uns erzählt, dass sie sie ihm erzählt habe, ist vor allem die zweite Handlung zentral: Kindheit und Jugend, das Verhältnis zur Mutter, das Verhältnis der Mutter zum Rest der Verwandtschaft, zu Istanbul, zur Welt. Und parallel dazu noch ein paar andere Dinge. Nunus Aufenthalt und Liebesbeziehung in London, die erste Rückkehr nach Istanbul, die zweite Rückkehr nach Istanbul, die aber eigentlich erst nach dem Ende der Freundschaft mit dem Schriftsteller stattgefunden hat. Und in den Geschichten der Mutter wiederum erfahren wir drittens von Akif Amca, den die Mutter bewundert, vielleicht sogar einmal geliebt hat, der unter anderem Dichter war, auch einmal in Paris gelebt hat, und durch dessen Nachlass sich irgendwann die Protagonistin gearbeitet hat. Der Dichter Akif und seine Spaziergänge durch Paris werden Schriftsteller und Protagonistin zu einer Art gemeinsamen Welt, über die sie sich Gedanken machen und daraus sie zahlreiche „Codewörter“ für Aktivitäten in ihrer Beziehung ziehen.

Man kann sich vorstellen, dass all das nicht chronologisch erzählt ist. Allerdings auch nicht in dieser konstruierten Weise unchronologisch, wie es in unserer Zeit Mode geworden ist. Also erzwungener Maßen komplex, so dass das nicht folgen Können zum Feature gemacht werden soll. Sondern: Der nur auf dem Papier 250 Seiten lange Roman ist in mehr als 70 Kapitel unterteilt, die auf einer bis wenigen Seiten jeweils kurze Momente aus der Beziehung von Protagonistin und Schriftsteller, Beobachtungen, Erinnerungen, beinhalten. Und wie es mit Erinnerungen so ist: Die hängen sich an bestimmten Momenten auf, an Gesprächsfetzen, an Beobachtungen und so weiter und so fort. Und so wird das Unchronologische aufs Natürlichste am Chronologischen aufgehängt, und aus den einzelnen Fetzen setzt sich mit der Zeit ein großes stimmiges Bild zusammen. Und das wohlgemerkt in einem unglaublich dichten kurzen Text, denn der Aufbau bedingt natürlich viele halbleere Seiten, und selbst die vollste Seite hat, wenn es hoch kommt, vielleicht 1500 Zeichen. „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ ist definitiv ein Roman, den man mit Leichtigkeit an einem Tag lesen kann, wenn man sich dann und wann eine halbe Stunde Zeit nimmt.

Sprachlich leicht und doch sehr schön

Sprachlich ist der Text dabei absolut zugänglich, und schafft seine schönen Bilder in einfacher Sprache. Sowohl Paris als auch Istanbul werden plastisch und lebendig vor Augen gestellt. Etwa:

Eines Morgens stieß ich auf die verlassenen Gleise, die die Stadt umspannten. Ich folgte drei Teenagern über eine niedrige Mauer und gelangte auf Schienen voller Unkraut und Glasscherben. Eine Weile lang liefen wir gemeinsam, dann warfen die Teenager ihre Rucksäcke ab und holten Spraydosen heraus. Ich ging weiter, bis ich an einen Tunnel kam. Ich trat ein Stück in den noch vom Tageslicht erleuchteten Teil des Tunnels hinein. Ich hörte das Echo meiner Schritte auf dem Schotter, ging weiter und wurde bald von der Dunkelheit und den von mir verursachten Geräuschen verschluckt. Ich ging so lange, bis sich der helle Eingang des Tunnels in einen traurigen Mund verwandelt hatte, und setzte mich hin, um der Stille zu lauschen.
Über mir lief das Leben in der Stadt weiter. Paris atmete ein und aus, fügte Dinge zusammen und brach sie wieder auseinander. Und ich spürte, dass auch ich ein kleiner Teil von all dem war. Das Gefühl ähnelte dem, das ich als Kind gehabt hatte, wenn ich an der Decke gelaufen war.

Oder:

Ich weiß noch, wie einzelne Sonnenstrahlen ihren Weg auf die Tische in unserem Bistro fanden. Im Au Petit Suisse, meine ich, gegenüber vom Jardin du Luxembourg. Sie rückten immer weiter vor und malten staubige Streifen auf die Tische. Ich erinnere mich an jene Zeit wie an einen Traum.
In Istanbul stürzt der Regen in Strömen hinab, und die Sonne erscheint ohne Vorwarnung. Man kann sich kaum an das Wetter von vor einem Moment erinnern. Die Stadt selbst verändert sich so schnell – Häuser sprießen wie Pilze aus dem Boden, neue Gesichter erscheinen im Fernsehen und in der Zeitung. Niemand kann vorher sagen, welches Viertel als Nächstes dem Erdboden gleichgemacht und neu errichtet oder was für ein kleiner und uncharmanter Park neben einem bedrohlichen Hochhaus uralte Bäume ersetzen wird.

Neben den persönlichen und familiären Verhältnissen ist dabei die Veränderung ein zentrales Thema. Paris scheint der Protagonistin statisch-ewig, während in Istanbul ein gewaltiges Rauschen bald all ihre Bilder überlagert. Ich habe keine definitiven zeitlichen Verortungen gefunden, doch dürfte sich in den gewaltigen Bauprojekten und in den Anspielungen auf den Taksim-Platz erst der große Aufschwung unter Erdogan und dann die Demonstrationen und der niedergeschlagene Putsch andeuten. Doch auch Paris, stellt die Autorin fest, verändert sich ja, allein für sie als Fremde, die so eine Art Bohèmeleben gesucht und in der Freundschaft mit dem älteren Schriftsteller so etwas ähnliches auch gefunden hat, ein Paris der Erinnerungen und der nächtlichen Spaziergängen, ist das nicht so schmerzhaft, dominiert letztlich immer das ästhetisierte „ewige Paris“ (wie auch für den Schriftsteller ein „ewiges Istanbul“ existiert).

Wie ein flackerndes Hologram

Ein jeder der „Hauptplots“ hinterlässt uns schließlich mit einer zentralen Frage. Wer ist wirklich Schuld oder musste es einfach so kommen, dass die Freundschaft von Protagonistin und Schriftsteller auseinander geht? Hat die Tochter die Mutter, und besonders dadurch, dass sie sie stets vor allem als Mutter gesehen hat, als Mensch überhaupt jemals begriffen? Was hat der Dichter Akif tatsächlich gesehen, wo ist er entlang gegangen, und wie hat das seine Texte beeinflusst? Der Roman entlässt uns mit offenen Fragen und einem noch lange nachklingenden Bild zweier Städte, das zugleich persistiert und von Anfang an wie ein schwaches Hologramm flackert und zu entgleiten droht.

Ein starker Text, der nur auf den ersten Blick einfach und fast unscheinbar wirkt. Und definitiv kein Text mit zu wenig Plot. „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ ist keiner dieser „hochliterarischen“ Romane, denen es gut täte, die ein oder andere Lektion von der sogenannten Unterhaltungsliteratur zu lernen. Er kommt gut allein zu recht bzw. hat das vielleicht sogar. Allerdings, ebenso wie die Rezensionen, die Hemingway, der einmal als Vorkämpfer für einfache Sprache gegen die angeblich viel zu komplexe intellektuelle Literatur gefeiert wurde, heute selbst zu komplexe Sprache vorwerfen, zeigt doch manche Rezession zu „Unsere Freundschaft ist wie ein Traum“ wiederum, dass es Lesende gibt, denen ein Text einfach nicht glatt genug sein kann, so dass es nicht nur ästhetisch, sondern auch rein pragmatisch absolut hoffnungslos ist, den Schreien nach Einfachheit und Geradlinigkeit, einfach um der Einfachheit und Geradlinigkeit Willen, nachzugeben.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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