Gegen den Westen – Putins Russozentrismus in vergleichender Perspektive

Wladimir Putin begründet seine aggressive Außenpolitik mit Hilfe eines pseudohistorischen ideologischen Konstrukts, in dem einige Bestandteile der sowjetischen Ideologie mit den programmatischen Vorstellungen mancher russischer Emigranten eigenwillig miteinander verknüpft werden.


Zwei Elemente spielen in diesem eklektischen Gebilde wohl eine zentrale Rolle: Die ans Groteske grenzende Verklärung des Russentums auf der einen und die Dämonisierung des Westens auf der anderen Seite. Mit diesem manichäischen Weltbild betritt Putin indes kein Neuland. Er hatte schon Vorgänger, mit denen sich diese Kolumne befasst. Zunächst werde ich aber auf einige Ursachen für die antiukrainischen Ressentiments Putins eingehen.

Zbigniew Brzezinski über den „ukrainischen Weg“

Wenn man nach den Gründen für die extreme Ukrainophobie Wladimir Putins sucht, sollte man sich an die Worte des amerikanischen Politologen Zbigniew Brzezinski erinnern, die im Jahre 2007 die Warschauer Zeitung „Gazeta Wyborcza“ zitierte. Brzezinski sagte damals Folgendes:

Im politischen Sinne hat die Ukraine, im Gegensatz zu Russland, eine erstaunliche Reife gezeigt… Wir sollten einen Blick auf die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in den beiden Ländern werfen. Wenn man nicht weiß, wer die Wahlen gewinnen wird, dann kann man sicher sein, dass man es mit der Demokratie zu tun hat. In Russland weiß man aber noch vor den Wahlen, wer diese gewinnen wird.  Der jüngere Bruder muss vom älteren lernen … Je stärker sich die Ukraine an Europa annähert, desto weniger wahrscheinlich ist die Wiederherstellung des russischen Imperiums. Und so verbleibt Moskau als der einzig sinnvolle Entwicklungsweg – die Nachahmung des älteren Bruders.

Putins Doppelstrategie

Dennoch kam der von Brzezinski empfohlene „ukrainische Weg“ für die Moskauer Verfechter des russischen „Sonderweges“ nicht in Frage. Statt für eine authentische, sprachen sie sich 2000, im Jahr der Wahl Putins zum russischen Staatspräsidenten, für eine „gelenkte“ und 5 Jahre später für die sogenannte „souveräne Demokratie“ aus. Also für ein System, in dem die Machthaber sich der gesellschaftlichen Kontrolle gänzlich entziehen und die Gesellschaft weitgehend entmündigt wird. Da die Ukraine sich seit 2004 in eine ganz andere Richtung entwickelte, verwundert es nicht, dass Putins Angriffe gegen den westlichen Nachbarn immer gehässiger wurden und dass er die Ukraine als eine Art „Anti-Russland“ diffamierte. Diese antiukrainischen Tiraden, die sich sowohl gegen die demokratische als auch gegen die „europäische Wahl“ der Ukraine richten, hatten aber zugleich Russland im Visier. Vor allem diejenigen Gruppierungen im Lande, die sich an das Vermächtnis der Revolution vom August 1991 erinnerten, als es den russischen Demokraten gelungen war, den Putsch der ewig gestrigen kommunistischen Dogmatiker zu zerschlagen und die seit November 1917 herrschende kommunistische Partei mit einer beinahe spielenden Leichtigkeit zu entmachten. Die August-Ereignisse von 1991, die eine Art „russischen Maidan“ darstellten, hinterließen bei Putin und seinen Gesinnungsgenossen ein ähnlich tiefes Trauma wie die später erfolgten farbigen Revolutionen im postsowjetischen Raum. Als Wortführer der 1991 entmachteten sowjetischen Eliten versuchte Putin seit seiner Wahl zum russischen Staatspräsidenten eine Doppelstrategie zu entwickeln, um vergleichbare Akte des zivilen Ungehorsams unmöglich zu machen. Einerseits demontierte er Stück für Stück beinahe alle zivilgesellschaftlichen Strukturen, die in Russland in der Gorbatschow- und in der Jelzin-Ära entstanden waren. Andererseits versuchte er die Bevölkerung an das von ihm errichtete System durch eine Art „Liebeserklärung“ an die russische Nation emotional zu binden.

Stalins russozentrische Kampagne als Reaktion auf die „spontane Entstalinisierung“

Diese Doppelstrategie erinnert an die Vorgänge, die in der stalinistischen UdSSR kurz nach der Bezwingung des Dritten Reiches im Jahre 1945 stattfanden.  Während des deutsch-sowjetischen Krieges fand in der Sowjetunion ein Vorgang statt, den der Moskauer Historiker Michail Gefter nachträglich als „spontane Entstalinisierung“ bezeichnete. Das stalinistische Regime, das seit Kriegsbeginn mit einer beispiellosen Gefahr konfrontiert worden war, hatte keine andere Wahl als die halbherzige Duldung der partiellen Emanzipation seiner Untertanen, die nun als Verteidiger der bedrohten Heimat zu einem neuen Selbstbewusstsein gelangten.  Auf dem Lande waren Gerüchte über die baldige Auflösung von Kolchosen verbreitet. Kaum jemand habe damit gerechnet, dass die Rückkehr zu der gespenstischen stalinistischen Wirklichkeit der Vorkriegszeit möglich sei, so der polnische Dichter Aleksander Wat, der die Kriegszeit in der Sowjetunion verbracht hatte:

Alle glaubten, wenn diese Woge der Millionen Helden und Märtyrer von der Front zurückkäme, dann könnte kein Stalin mehr etwas ausrichten, dann würde sich Russland   sich ändern, und zwar von Grund auf.

Kühne Zukunftsvisionen entwarfen damals sogar derart treue Diener Stalins wie der populäre Schriftsteller Alexei Tolstoi. Am 22. Juli 1943 schrieb er in sein Notizbuch:

Das Volk wird von nichts mehr Angst haben … Die chinesische Mauer zwischen Russland (und der Außenwelt) wird fallen.

Es war aber gerade diese Perspektive, die die damalige Kremlführung am meisten schreckte. Sie betrachtete die erneute Disziplinierung der auf ihren Sieg so stolzen Nation nun als ihr wichtigstes Ziel. Im August 1946 begann eine Disziplinierungskampagne in der sowjetischen Literatur, die sich mit dem Namen des Chefideologen Andrej Shdanow assoziiert, deren wahrer Inspirator aber zweifellos Stalin war. Die Partei sagte nun den „fremden“, prowestlichen Tendenzen in der Literatur den Kampf an.  Der Westen wurde nun wieder dämonisiert, vor den verderblichen westlichen Einflüssen wurde ununterbrochen gewarnt. Mit äußerster Schärfe wandte sich Stalin gegen die auf Peter den Großen zurückgehende Tradition der Nachahmung des Westens: Peter I. sei zu liberal gegenüber dem Ausland gewesen, so Stalin im Gespräch mit dem Filmregisseur Sergej Eisenstein im Februar 1947:  Peter I. habe die Tore für den ausländischen Einfluss im Lande zu weit geöffnet.

Dieser von oben befohlene Kampf gegen den „Geist der Selbsterniedrigung“ war mit einer Verklärung des Russentums verknüpft, die allmählich groteske Züge annahm. Es stellte sich nun heraus, dass beinahe alle großen Erfindungen und Entdeckungen der Neuzeit von den Russen gemacht worden seien: „Russland – die Heimat der Elefanten“, so verspotteten kritisch gesinnte russische Intellektuellen den grotesken Russozentrismus der sowjetischen Führung.

Die „Verklärung des „Eigenen“ und die Abwertung des „Fremden“ ersteckte sich auch auf manche wissenschaftliche Disziplinen – mit verheerenden Folgen.

Der Putinsche und der Stalinsche Fiktionalismus

Auch im heutigen Russland, insbesondere nach dem Beginn des schändlichen Angriffskriegs gegen die Ukraine, lassen sich vergleichbare Entwicklungen beobachten. Obwohl Putin die territorialen Eroberungen Peters des Großen mit Nachdruck lobt, wendet er sich aber, ebenso wie seinerzeit Stalin, von dem eigentlichen petrinischen Vermächtnis gänzlich ab und schließt das vor 300 Jahren geöffnete Fenster Russlands nach Europa wieder. Ähnlich wie in der spätstalinistischen Zeit wird das „Eigene“ über alle Maßen verklärt und das „Fremde“ dämonisiert. Der Innovationsgeist, der sich ohne einen grenzüberschreitenden, freien Diskurs nicht entfalten kann, wird abgewürgt. Das Land verliert erneut den Anschluss an die Moderne, aber nicht nur an die Moderne, sondern auch an die Realität. Die gespenstische Parallelwelt, die die offiziellen russischen Medien entwickeln, wird nun von den Putinschen Propagandisten für die einzig adäquate Realität erklärt und jede Infragestellung dieses Phantasiegebildes als kriminelles Delikt angesehen. Diese Flucht vor der Realität ähnelt durchaus dem Stalinschen Fiktionalismus, in dem die wahren Sachverhalte buchstäblich auf den Kopf gestellt wurden. Ein besonders anschauliches Beispiel für den spätstalinistischen Fiktionalismus stellte die neue Phase des Kampfes gegen die „fremdländischen“ Werte dar, die der Leitartikel des Zentralorgans der Partei „Prawda“ mit der Überschrift „Über eine antipatriotische Gruppe der Theaterkritiker“ (28.1.1949) einleitete. Die bereits nach dem Krieg begonnene sogenannte „antikosmopolitische“ Kampagne, erhielt nun eine in erster Linie gegen die Juden gerichtete Spitze. Um zu verdeutlichen, wer das eigentliche Objekt der neuen Phase der Hasspropaganda war, entschleierten die sowjetischen Presseorgane russische Pseudonyme, unter denen manche jüdische Autoren auftraten. Bereits der Titel, des oben erwähnten Artikels, der wahrscheinlich von Stalin mitredigiert wurde, wies darauf hin, dass der Kampf gegen den sogenannten „Kosmopolitismus“ nun eine qualitativ neue Dimension erreicht hat.  „Antipatriotische Haltung“ war im stalinistischen Vokabular ein Synonym für „Vaterlandsverrat“ und der Begriff „Antipatriot“ ein Synonym für „Volksfeind“. Die Theaterkritiker verkörperten also aus der Sicht der Propaganda eine Haltung, die den Gipfel der Perversion darstellte. Dass sie nicht einzeln, sondern als „Gruppe“ auftraten, machte ihr Verhalten besonders verwerflich. Es verwundert beinahe, dass das Zentralorgan der Partei seinen neuen ideologischen Feldzug an einem so peripheren „Fronabschnitt“ wie die Theaterkritik eröffnete. Es gehörte allerdings zum Wesen des stalinistischen Systems, dass die Führung willkürlich entschied, welche „Frontabschnitte“ als zentral und welche als peripher zu gelten hätten. Das Regime neigte zur Vereinheitlichung und Simplifizierung der kompliziertesten Sachverhalte. So bedeutete eine ideologische Neuorientierung in welchem Bereich auch immer einen Paradigmenwechsel auf der gesamten ideologischen Front. Mit geballter Kraft ging nun der gewaltige ideologische Apparat einer totalitären Supermacht gegen acht Theaterkritiker vor, um auf diese Weise stellvertretend alle potentiellen „Antipatrioten“, und dies konnte jeder Sowjetbürger sein, einzuschüchtern.

Was die fiktiven Weltbilder in der Regel auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie sich unentwegt radikalisieren. Dies betraf auch die Einstellung Stalins zur jüdischen Frage. Die antikosmopolitische Kampagne des Jahres 1949 bildete lediglich den verbalen Prolog für den zweiten, diesmal viel gewaltsameren Feldzug Stalins gegen die Juden. Mitte 1952 fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor dem Obersten Militärgericht in Moskau ein Prozess gegen führende Mitglieder des 1942 gegründeten Jüdischen Antifaschistischen Komitees statt. Von 14 Angeklagten wurden 13 zum Tode verurteilt. Ende 1952 begann in Prag der erste antisemitische Schauprozess des Ostblocks, der gegen den ehemaligen Chef der tschechoslowakischen KP, Rudolf Slansky, gerichtet war. Er endete mit 11 Todesurteilen. Während der Vorbereitung des Slansky-Prozesses fanden die Verhaftungen prominenter Kremlärzte statt, von denen die Mehrheit Juden waren.  Im Januar 1953 begann die berüchtigte Ärzte-Affäre.

Nun einige zusätzliche Bemerkungen zu der von Putin erschaffenen Pseudorealität, die oft mit seinen Versuchen verbunden ist, sich als Amateurhistoriker zu betätigen. Dies betrifft z.B. seine Leugnung der Eigenständigkeit der ukrainischen Nation. So schrieb er in seinem Artikel vom 12. Juli 2021 Folgendes: „Bei den Russen und bei den Ukrainern handelt es sich um ein Volk… Die ukrainische (Staatlichkeit) stellt aufgrund ihrer chronischen Schwäche lediglich eine Geisel des fremden geopolitischen Willens dar“.

In seiner Rede vom 24. Februar 2022, die den Überfall Russlands auf die Ukraine begründete, bezeichnete Putin als Ziele dieses Krieges, den er heuchlerisch als „militärische Spezialoperation“ bezeichnete, die Entmilitarisierung und die Entnazifizierung (sic!) der Ukraine! Dies sagte er über ein Land, in dem rechtsradikale Parteien nach 2014 bei allen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen verheerende Niederlagen hinnehmen mussten, und dessen Präsident ein Jude ist!  Was für eine Verzerrung der realen Sachverhalte!

Letztendlich sollte sich aber die vollkommene Verkennung der Realität am Kreml-Diktator rächen. Der heroische Widerstand, mit dem die Ukrainer ihre Eigenstaatlichkeit verteidigen, zeigt, dass Putins Ukraine-Bild auf einer Fiktion basiert, die mit der Wirklichkeit kaum etwas gemein hat.

Die Radikalisierung des außenpolitischen Kurses in den letzten Herrschaftsjahren Stalins

Aber nicht nur die Schaffung von Pseudorealitäten verbindet die Putin-Ära mit der spätstalinistischen Zeit. Eine andere Parallele betrifft die permanente Radikalisierung des außenpolitischen Kurses Moskaus in den beiden Perioden.

Noch im September 1946 sagte Stalin in einem Interview mit einem britischen Korrespondenten, dass er an die wirkliche Gefahr eines neuen Krieges nicht glaube: „Man muss scharf zwischen dem Geschrei über einen ´neuen Krieg´ und der tatsächlichen Kriegsgefahr unterscheiden, die zurzeit nicht besteht“.

Ende der 1940er/Anfang der1950er Jahre klang Stalin bereits ganz anders. Wiederholt versuchte er seine engsten Gefährten zu überzeugen, dass eine bewaffnete Konfrontation mit den Westmächten unmittelbar bevorstehe, dies vor allem nach der Gründung der NATO (April 1949) und nach dem Ausbruch des Korea-Krieges (Juni 1950). Am 8. Oktober 1950 schrieb Stalin an den chinesischen KP-Chef Mao Tse-tung:

Ich rechnete damit, dass die USA, ungeachtet der Tatsache, dass sie für einen großen Krieg nicht vorbereitet sind, sich aus Prestigegründen in einen solchen Krieg verwickeln können. Folglich könnte in diesen Krieg China und mit ihm auch die Sowjetunion, die mit China durch einen Beistandspakt verbunden ist, verwickelt werden. Muss man davor Angst haben? Ich glaube nicht, denn zusammen sind wir stärker als die USA und England. Und andere kapitalistische Staaten ohne Deutschland, das zurzeit den USA keinerlei Hilfe leisten kann, stellen keine ernsthafte militärische Kraft dar. Sollte der Krieg unvermeidlich sein, dann sollte er jetzt und nicht in einigen Jahren stattfinden – in der Zeit, in der der japanische Militarismus als Verbündeter der USA wiederhergestellt werden wird.

Der Kreml-Diktator versuchte damals nicht nur in der Außen-, sondern auch in der Innenpolitik eine Art Endkampfstimmung zu erzeugen. So wurden seine Angriffe gegen einige seiner engsten Gefährten, vor allem gegen Wjatscheslaw Molotow und Anastas Mikojan, immer gehässiger. Während der Hetzkampagne gegen die Kremlärzte wurde immer wieder angedeutet, dass diese Verschwörer Komplizen in den höchsten Parteigremien hätten. Für die alten Parteigefährten Stalins, die den „Großen Terror“ der 1930er Jahre mitorganisiert hatten, war der Sinn dieser Beschuldigungen sofort klar. Sie sollten eine neue gigantische „Säuberungswelle“ einleiten.

Erst der Tod Stalins am 5. März 1953 bereitete diesem „Endkampfgetöse“ ein Ende. Es stellte sich nun heraus, wie eng das voll ausgebildete stalinistische System mit der Person seines Gründers verflochten war und wie wenig Chancen es hatte, seinen Schöpfer zu überleben. Die allmähliche Demontage dieses Systems begann bereits einige Tage nach dem Tode des Diktators. Am 4. April 1953 wurde das Verfahren gegen die Kremlärzte eingestellt und als Provokation der ehemaligen Leitung der Sicherheitsorgane bezeichnet. Auch in der Außenpolitik kam es zu einem Paradigmenwechsel. Am 9. März 1953 sprach der neue Ministerpräsident Georgij Malenkow von den „Möglichkeiten einer dauernden Koexistenz und eines friedlichen Wettbewerbs der beiden verschiedenen Systeme“.

Die Endkampfszenarien der Putin-Riege

Die Endkampfstimmung, die Stalin in seinen letzten Herrschaftsjahren zu erzeugen suchte, ähnelt in gewisser Weise derjenigen, die sich im Putinschen Russland etwa nach dem Afghanistan-Debakel des Westens vom August 2021 zu verbreiten begann. Bereits im September 2021 meldete sich einer der radikalsten Verfechter der imperialen Revanche im postsowjetischen Russland und Spezialist für „Endkampfszenarien“, Alexander Dugin zu Wort. Er schrieb:

Amerika ist schwächer als je zuvor. Und das müssen wir ausnutzen…Der rasche Niedergang der globalen Hegemonie der USA eröffnet enorme Möglichkeiten auf der ganzen Welt…Wir müssen uns auf eine Gegenoffensive vorbereiten…, dies (ist) unsere historische Chance. Es wäre ein Verbrechen, sie zu verpassen.

Putin, der in den früheren Jahren, eine gewisse Distanz zum Duginschen Extremismus bewahrt hatte, war anscheinend ähnlich wie Dugin der Meinung, dass die USA und die NATO nun ihre Handlungsfähigkeit gänzlich eingebüßt hätten. Deshalb versuchte er Anfang 2022 seine Entourage auf eine Art Endkampf mit dem Westen vorzubereitet, wie dies Stalin Anfang der 1950er Jahre ebenfalls getan hatte. Dennoch erwiesen sich beinahe alle Prämissen Putins als falsch. Der geplante „Blitzkrieg“ gegen die Ukraine fand aufgrund des heroischen Widerstandes des überfallenen Landes nicht statt, die NATO erwies sich als durchaus handlungsfähig und die EU fand infolge ihrer vorbehaltlosen Solidarisierung mit dem Opfer der russischen Aggression ihr seit langem vermisstes Narrativ (Werner Weidenfeld) wieder.

Welche Folgen die zerstörerische und selbstzerstörerische Entscheidung Putins vom 24. Februar für Russland haben wird, lässt sich zurzeit noch nicht absehen. Eines kann man aber schon jetzt sagen. Putins abenteuerlicher Versuch Russland zu enteuropäisieren und in die patriarchale Vormoderne zurückzuführen, stellt für das Land, dass sich seit der petrinischen Reform um den Ruf einer europäischen Macht unentwegt bemüht hatte, einen katastrophalen Rückschlag dar: „Strategisch hat Putin alles verloren“. Dies stellte der im Februar 2015 ermordete russische Regimekritiker Boris Nemzow unmittelbar nach der Putinschen Annexion der Krim fest. Umso mehr gilt diese Aussage Nemzows für die heutige desaströse Politik des Kreml-Diktators. Die Hoffnungen Putins und seiner Entourage, dass es Russland gelingen werde, durch die Annäherung an China den Bruch mit dem Westen zu kompensieren, ist sicherlich völlig illusionär. Dies sagte Boris Nemzow bereits vor 8 Jahren voraus. Noch früher hat auch der russische Exilhistoriker Georgij Fedotow vergleichbare Erwartungen als Illusionen entlarvt. 1940 schrieb er Folgendes in diesem Zusammenhang:

Niemandem ist es bisher gelungen, Russland nach Asien zu verbannen, nicht einmal den Russen selbst.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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