Lässt sich Russland „einfrieren“?

Russland ist ein seit Generationen gespaltenes Land. Es gibt hier Kräfte, die in erster Linie von der imperialen Größe des Landes fasziniert sind, auf der anderen Seite des politischen Spektrums stehen hingegen die Gruppierungen, die die Freiheit über alles schätzen. Der Streit zwischen diesen beiden Orientierungen zieht sich wie ein roter Faden seit etwa dem Dekabristenaufstand von 1825 durch die russische Geschichte. Er spiegelt sich auch in den heutigen dramatischen Entwicklungen im Lande wider.

Moskau 23. Januar 2021, Fotograf: Lesless (CC BY-SA 4.0)

Die landesweiten Proteste gegen die Inhaftierung und willkürliche Bestrafung des wohl einflussreichsten Kremlkritikers Alexej Nawalny stellen ebenso wie die gewaltsame Unterdrückung dieser Proteste durch den russischen Machtapparat, eine Art Déjà-vu-Erlebnis dar. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die neueste russische Geschichte in gewisser Hinsicht zyklisch verläuft. Dies hat nicht zuletzt mit folgender Besonderheit des russischen Entwicklungsweges zu tun. So zeichnet sich die russische Geschichte in den meisten Perioden durch die Allmacht des Staates und die Ohnmacht der Gesellschaft aus. Die Autonomie der Stände oder der Städte, die im Westen ein Gegengewicht zur Machtzentrale darstellte, hat sich in Russland nur wenig entwickelt. Der russische Historiker Pawel Miljukow sagt in diesem Zusammenhang: Im Westen hätten die Stände den Staat, in Russland hingegen habe der Staat die Stände erschaffen. Es gab allerdings in der neuesten russischen Geschichte auch Momente tiefer Staatskrisen, in denen das Kräfteverhältnis zwischen Staat und Gesellschaft revidiert bzw. auf den Kopf gestellt wurde. Und in diesen recht kurzen Zeitabschnitten entschied sich in der Regel das Schicksal des Landes für die nächsten Generationen. Der Grundstein für die künftigen Staatsstrukturen wurde gerade in diesen Perioden der partiellen Befreiung der Gesellschaft von der staatlichen Bevormundung gelegt. Mit einigen solchen Perioden möchte ich mich nun kurz befassen. Als erstes möchte ich auf die allmähliche Erosion des zarischen Systems eingehen.

1. Die Erosion des Zarenregimes

Der revolutionäre Mythos

Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte Russland zu den wenigen europäischen Ländern, in denen sich die sozialen Spannungen fortwährend intensivierten. In West- und Mitteleuropa hingegen ließen diese Spannungen damals in der Regel nach. Das revolutionäre Zeitalter ging dort nach der gescheiterten Revolution von 1848 eindeutig zu Ende.

Wie anders verlief die Entwicklung Russlands! Die Ereignisse von 1848-49 ließen das Land praktisch unberührt, deshalb blieb hier auch die Enttäuschung über die revolutionäre Idee aus. Während viele der früheren Radikalen im Westen ihre Heilserwartungen immer stärker mit der Idee der Nation verknüpften, begann in Russland erst jetzt das revolutionäre Ideal zur vollen Geltung zu gelangen. Jede Kritik an ihm habe der radikal gesinnte Teil der russischen Bildungsschicht – die revolutionäre Intelligenzija – als einen Verrat angesehen, schrieb 1924 der russische Philosoph Semjon Frank. Es habe im vorrevolutionären Russland einer ungeheuren Zivilcourage bedurft, um sich offen zur Politik der Kompromisse zu bekennen. Die revolutionäre Sonderentwicklung Russlands begann kurz nach der Thronbesteigung Alexanders II., der 1855 seinen despotisch gesinnten Vater Nikolaus I. ablöste. Die Intelligenzija radikalisierte sich also ausgerechnet unter der Herrschaft eines Monarchen, der mit seinem Reformwerk eine wahre Revolution von oben einleitete und als „Zar-Befreier“ in die russische Geschichte einging. Viele der Forderungen, die seit Generationen von den Kritikern der russischen Autokratie aufgestellt worden waren, waren nun eine nach der anderen erfüllt worden: Bauernbefreiung, Lockerung der Zensur, Justizreform, Schaffung der relativ unabhängigen Selbstverwaltung. Dennoch hat all das für die Intelligenzija keine Relevanz gehabt. Die Unterstützung dieses Reformwerks kam für sie nicht in Frage.

Das Handeln der Intelligenzija zielte auf einen totalen Bruch mit der russischen Tradition hin, sie war unbarmherzige Zerstörerin aller russischen Heiligtümer. Das Einzige, was diesem allgemeinen Zertrümmerungsprozess entging und was zum Gegenstand einer glühenden Verehrung wurde, war das einfache russische Volk. Es galt als Verkörperung des Guten. Alle Begriffe und kulturellen Einrichtungen, die dem Verständnis der Unterschichten unzugänglich waren, wurden als überflüssig und unsittlich verworfen:

Eine lange Zeit hielt man bei uns die Beschäftigung mit der Philosophie für beinahe unmoralisch“, schrieb der russische Philosoph Nikolaj Berdjajew: „Diejenigen, die sich in philosophische Probleme vertieften, wurden der Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen der Arbeiter und der Bauern verdächtig.

Trotz dieser extremen Selbstverleugnung und radikal egalitaristischer Haltung konnte die Intelligenzija die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit dem privilegierten Bildungsstand, einer Elite, angehörte, nicht aus der Welt schaffen. Für die Bauern war sie, ähnlich wie die Gutsbesitzer, ein Teil der verhassten europäisierten Herrenschicht, deren Ideen und Sprache ihnen vollkommen unverständlich blieben.

Pobedonoszews Versuch, Russland „einzufrieren“

So stand dem Zusammenschluss der Unterschichten mit der revolutionären Intelligenzija zunächst der tiefverwurzelte politische Konservatismus der Bauernschaft im Wege. Und diese Kluft versuchten konservative Verteidiger der russischen Selbstherrschaft zu verewigen. Es war ihnen klar, dass das Schicksal des Regimes davon abhing, wer den Kampf „um die Seele des Volkes“ gewinnen würde. Die Intelligenzija gaben sie bereits verloren. Als einzige Methode der Auseinandersetzung mit ihr betrachteten sie Härte und Repression. Sie wollten jedoch um jeden Preis verhindern, dass die Unterschichten den gleichen Weg wie ein Teil der Elite beschreiten. Deshalb hielten sie es für erforderlich, die altrussische Vorstellungswelt, in der die Bauern noch lebten, vor einer inneren Korrosion zu bewahren. Zu den bedeutendsten Vertretern eines solchen Kurses gehörte der einflussreiche Berater der beiden letzten Zaren und zugleich Oberprokuror des Heiligen Synod – des obersten Organs der russischen Kirche – Konstantin Pobedonoszew. Pobedonoszew war davon überzeugt, dass die russischen Unterschichten, im Gegensatz zur Intelligenzija absolut zarentreu seien und dass diese Treue im Grunde die wichtigste Stütze der Autokratie bilde. Damit das traditionelle Weltbild der Unterschichten den Ansturm der Moderne überstehe, versuchte Pobedonoszew die russische Bauernschaft von den neuen, vor allem aus dem Westen stammenden Ideen abzuschirmen. Dem einfachen Volk dürfe kein abstraktes Wissen vermittelt werden, meinte der Oberprokuror. Dies stifte nur Verwirrung und erhöhe die Unzufriedenheit des Einzelnen mit seiner Stellung innerhalb der Gesellschaft, trage zur Stärkung von individualistisch-egoistischen Tendenzen bei. Die Ausbildung solle sich vielmehr auf Elementarwissen und praktische Kenntnisse konzentrieren. In dem von ihm energisch ausgebauten System von Pfarrschulen versuchte Pobedonoszew sein Bildungsideal zu verwirklichen. Im Ergebnis bedeutete diese Konzeption eine dauerhafte Bevormundung der Unterschichten durch die weltliche und kirchliche Obrigkeit.

Dennoch erwiesen sich die russischen Unterschichten, die der konservative Petersburger Staatsmann für die wichtigste Stütze der Selbstherrschaft hielt, letztendlich als deren größte Bedrohung. Mit einer fünfzigjährigen Verspätung begannen sie um die Jahrhundertwende an die Entwicklung der Intelligenzija anzuknüpfen. Der lange Kampf zwischen der Opposition und der Autokratie „um die Seele des Volkes“ sollte sich nun zugunsten der ersteren entscheiden.

Das Scheitern Pobedonoszews wurde aber auch dadurch mitverursacht, dass hinter der Absicht des Oberprokurors, Russland „einzufrieren“, nicht das gesamte Petersburger Kabinett stand. Pobedonoszew hatte hier mächtige Kontrahenten, die der revolutionären Gefahr mit ganz anderen, im Grunde entgegengesetzten Mitteln, den Boden entziehen wollten. Zu ihnen zählte in erster Linie der Finanzminister, Sergej Witte, der im Gegensatz zu seinem Kontrahenten keine Angst vor der Zukunft hatte. Er hielt Russland für ein Land mit unerschöpflichen Möglichkeiten, das aber einer grundlegenden Modernisierung bedürfe. Nur so könne es seinen Status als Großmacht bewahren und dringende soziale Probleme lösen. Dennoch lag die größte Schwäche der Vision Wittes vom modernen und wirtschaftlich mächtigen Russland darin, dass er keine bedeutende gesellschaftliche Schicht für sie gewinnen konnte.

Das Zaren-Manifest vom Oktober 1905 und seine Folgen

Angesichts ihrer völligen Isolierung im Lande konnte die zarische Autokratie in ihrer bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden. Sie musste einen Kompromiss mit der Gesellschaft eingehen. Das Zaren-Manifest vom 17. Oktober 1905 versprach den Untertanen Grundrechte und die Einberufung eines Parlaments. Dies war das Ende der uneingeschränkten Selbstherrschaft. Im April 1906 erhielt Russland eine Verfassung – die erste in seiner Geschichte.

Die Revolution von 1905, die im Vokabular der Linken als gescheitert galt, schuf in Wirklichkeit recht günstige Voraussetzungen für die allmähliche Befreiung der Gesellschaft von einer staatlichen Bevormundung. Diese Ansätze für die Zivilgesellschaft in der Endphase der Zarenmonarchie verwundern beinahe, wenn man bedenkt, wie groß das Übergewicht des Staates über die Gesellschaft in der russischen Geschichte immer war.

Indes betrafen alle diese Entwicklungen in erster Linie die russische Bildungsschicht. Die Volksschichten partizipierten an ihnen kaum. Sie waren an den politischen Zielsetzungen der sog. Zensusgesellschaft kaum interessiert.  So stand im Vordergrund des Interesses der russischen Bauernschaft – der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung – auch nach der Verabschiedung der Verfassung, nicht die Verankerung der Rechtsstaatlichkeit in Russland, sondern die aus ihrer Sicht ungelöste Agrarfrage. Sie träumten von einer gänzlichen Enteignung der Gutsbesitzer, von der sog. „Schwarzen Umverteilung“ und wollten deshalb das Prinzip der Unantastbarkeit des Privateigentums, das die Verfassung in ihrem Artikel 77 garantierte, nicht anerkennen.

Der Erste Weltkrieg verursachte in Russland lediglich eine Verstärkung der zentrifugalen Kräfte und eine Vertiefung der sozialen Konflikte. Kein Wunder, dass das Zarenregime sich als das schwächste Glied in der Kette der Krieg führenden Mächte erwies und als erstes an den Herausforderungen des Ersten Weltkrieges zerbrach.

2. Die Dämmerung der Sowjetmacht

Die trügerische Stabilität des Breschnewismus

Etwa sechzig Jahre später begann auch das auf den Trümmern des Zarenregimes und der ungefestigten „ersten“ russischen Demokratie errichtete bolschewistische System allmählich zu erodieren. Dies geschah ausgerechnet in der Zeit, in der das kommunistische Weltreich im Wesentlichen als endgültig saturiert, ja, im Grunde als unbesiegbar galt.

In den 1970er Jahren erreichte es die lang ersehnte militärisch-strategische Parität mit den Vereinigten Staaten und die Bestätigung der Nachkriegsordnung, d.h. der europäischen Spaltung durch die westlichen Demokratien während der KSZE-Konferenz in Helsinki.

Auch im Inneren des Imperiums schien damals die herrschende Elite, die Breschnew-Equipe (Leonid Breschnew war Erster Sekretär bzw. Generalsekretär des ZK der KPdSU in den Jahren 1964-1982) ihre Macht endgültig gesichert zu haben. Die in den 1960er Jahren entstandene Bürgerrechtsbewegung, hörte Ende der 1970er Jahre praktisch auf, zu existieren. Die Verbannung Andrej Sacharows – der integrierenden Gestalt der Bewegung – nach Gorki im Januar 1980 hatte einen symbolischen Charakter. Dennoch war die Stabilität des Breschnew Regimes nur trügerisch.

Wirtschaftlich und technologisch begann das Land erneut den Anschluss an den Westen zu verlieren. Die hyperzentralistischen Strukturen des planwirtschaftlichen Systems verstärkten die bürokratische Verkrustung und die Erstarrung des Regimes, der Innovationsgeist wurde weitgehend erstickt. All diese Phänomene führten zu einer drastischen Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Das bestehende System war immer weniger dazu in der Lage, die Bevölkerung zu einem verstärkten Einsatz im Namen der kommunistischen Ideale zu mobilisieren, weil in der Periode der sog. Stagnation (so wurde die Breschnew-Zeit später definiert) so gut wie niemand die kommunistischen Werte ernst nahm – weder die Herrscher noch die Beherrschten. In dieser Entwicklung sahen viele westliche Beobachter zunächst keine Gefahr für die Stabilität des kommunistischen Regimes. Im Gegenteil, einige gingen sogar davon aus, dass der Kommunismus nun infolge der Sachzwänge der Moderne immer technokratischer und pragmatischer werde und damit den modernen westlichen Industriegesellschaften immer ähnlicher. So wurde die Konvergenztheorie geboren.  Die Verfechter der Konvergenztheorie ließen jedoch außer Acht, dass es sich bei den kommunistischen Regimen um Ideokratien handelte, deren Herzstück das ausgeklügelte ideologische System darstellte, das ununterbrochen an die neuen Erfordernisse der Zeit angepasst werden musste. Eine radikale Veränderung des Systems schien unumgänglich, davor hatte aber die herrschende Bürokratie panische Angst. Keine vorherige Führung in Moskau hatte das Status-quo-Prinzip in einem solchen Ausmaß verkörpert, wie die Breschnew-Equipe.

Symbolisch für die Angst der Parteioligarchie vor einer grundlegenden Veränderung des Systems war die Tatsache, dass an der Spitze der östlichen Supermacht in der ersten Hälfte der 1980er Jahre drei dahinsiechende Parteichefs standen, die stärker mit der Bekämpfung ihrer Krankheiten als mit dem Regieren beschäftigt waren. Erst im dritten Anlauf entschied sich das Politbüro für einen Generationswechsel – für sein jüngstes Mitglied, den damals 54jährigen Michail Gorbatschow.

Widersprüche im Gorbatschowschen Programm

Die Konturen des Gorbatschowschen Programms hatten sich recht früh herauskristallisiert. Ähnlich wie andere Reformer vor ihm entwarf Gorbatschow die Vision von einem modernen, wirtschaftlich mächtigen Russland bzw. Sowjetreich. Was bei diesem Programm zunächst aber auffiel, war sein vorwiegend technokratischer Charakter. Die Partei konzentrierte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die Lösung ihrer gegenwärtigen und künftigen Aufgaben, an einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den politischen Fehlern der Vergangenheit war sie nicht allzu stark interessiert. Ihre Kritik beschränkte sie vor allem auf wirtschaftliche Mängel des Systems und auf Auswüchse der Bürokratie. Mit diesem Lamento konnte sie allerdings die Sowjetbürger kaum beeindrucken, denn an solche Klagen waren sie praktisch seit Lenin gewöhnt. Auch Disziplinierungskampagnen unterschiedlichster Art stellten für sie nichts Neues dar und sie wussten recht gut mit ihnen umzugehen, d.h. ihnen auszuweichen. So waren Disziplinierungskampagnen in alter sowjetischer Manier kaum dazu geeignet, das Land zu neuen Ufern zu führen. Und es zeugt von der Lernfähigkeit der Gorbatschow-Equipe, dass sie dies relativ schnell einsah. Die Katastrophe im Atomreaktor von Tschernobyl im April 1986 spielte bei diesem Umdenkungsprozess sicher die Rolle eines Beschleunigers. Erst nach dieser Katastrophe, die den desolaten Zustand des sowjetischen Systems als solchen geradezu symbolisierte, begann sich das Programm der Perestroika mit neuem Inhalt zu füllen. Aber auch hierbei handelte es sich eher um Entscheidungen ad hoc, deren Tragweite und Folgen von ihrem Urheber kaum übersehen wurden. Dies betraf z.B. den im Grunde revolutionären Entschluss Gorbatschows, direkt an die Öffentlichkeit zu appellieren. Sie sollte einen permanenten Druck auf den reformunwilligen Parteiapparat ausüben, ihn kontrollieren.

Unantastbare Autoritäten und Tabus dürfe es nicht mehr geben, verkündete 1987 Gorbatschow und versetzte dadurch das Land in eine Art Wahrheitsrausch. Dennoch erlag er der naiven Hoffnung, es sei möglich, den von ihm ausgelösten Bildersturm der Parteikontrolle zu unterwerfen. Es stellte sich aber nun heraus, dass die kommunistische Idee in den Augen der Bevölkerungsmehrheit ähnlich diskreditiert war wie die Zarenidee zu Beginn des 20. Jahrhunderts Der am 19. August 1991 unternommene Versuch der kommunistischen Dogmatiker, das Rad der Geschichte mit Gewalt zurückzudrehen, scheiterte kläglich. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sie damals unangefochten beinahe alle Machthebel im Staate kontrollierten und ihre demokratischen Widersacher um Boris Jelzin im Grunde wehrlos waren.   Dessen ungeachtet erwies sich in der Auseinandersetzung zwischen der unpopulären Macht und der machtlosen Popularität die letztere als überlegener Sieger.

3. Die Erosion der „zweiten“ russischen Demokratie

Aber etwa zwei Jahre später verspielten auch die siegreichen russischen Demokraten weitgehend ihr Vertrauenskapital. Die von vielen Russen als Trauma empfundene Auflösung der Sowjetunion, die wirtschaftliche Schocktherapie, die den Lebensstandard der Bevölkerung zunächst beinahe halbierte, und der immer schärfer werdende Konflikt zwischen dem Staatspräsidenten und dem Obersten Sowjet, der im Oktober 1993 zu bewaffneten Auseinandersetzungen in der russischen Hauptstadt führte, trugen erheblich zur Diskreditierung der demokratischen Idee bei. Damals begann man in Ost und West wiederholt Parallelen zwischen der Weimarer Republik und dem postsowjetischen Russland zu ziehen. So wurde die Demokratie im postsowjetischen Russland der 1990er Jahre von vielen, ähnlich wie in der Weimarer Republik, mit dem Zusammenbruch der hegemonialen Stellung des eigenen Staates, mit territorialen Verlusten und mit wirtschaftlichen Erschütterungen assoziiert.  In das nun entstandene weltanschauliche Vakuum stieß im Jahre 2000 das Putinsche System mit der Hervorhebung des Law-and-Order-Prinzips und einer bescheidenen Anhebung des Lebensstandards dank der vorübergehenden hohen Preise für die Energieträger.

4. Die Krise des Putin-Systems

„Farbige Revolutionen“ im postsowjetischen Raum

Das unter Putin entwickelte System der „gelenkten Demokratie“ war zunächst im Lande recht populär. Eines wurde aber dabei von vielen außer Acht gelassen. Nämlich die Tatsache, dass sich in der „gelenkten Demokratie“ die herrschenden Gruppierungen der gesellschaftlichen Kontrolle weitgehend entziehen, was gefährliche Folgen für das Land haben kann. Besonders deutlich wurde dies nach dem Sieg der „farbigen“ Revolutionen im postsowjetischen Raum (Georgien 2003, die Ukraine 2004 und 2013/14). Die Verhärtung des innenpolitischen Kurses in Russland war unmittelbar mit der Angst der Machthaber im Kreml vor vergleichbaren Entwicklungen in Russland verbunden. So war die Radikalisierung der russischen Ukraine-Politik, die sich in der Annexion der Krim im März 2014 und in der massiven Unterstützung der separatistischen Gruppierungen in der Ostukraine widerspiegelte, nur zum Teil durch imperiale Sehnsüchte der russischen Machthaber bedingt. Viel wichtiger waren hier sicherlich innenpolitische Überlegungen der Moskauer Führung. Der Sieg des „Euromajdan“ stellte für die Verfechter der „gelenkten Demokratie“ in Moskau einen wahren Schock dar. Sie waren sich darüber im Klaren, dass der demokratische Aufbruch in einem Land, das mit Russland geschichtlich, kulturell und sprachlich so eng verwandt ist, an der Grenze der Ukraine nicht stehen bleiben würde. Daher auch ihr Versuch, die Ukraine zu spalten und zu destabilisieren.

Boris Nemzows Prognose

Die nationale Euphorie, die Russland unmittelbar nach der Annexion der Krim im März 2014 erfasste, schien das Regime, dass Ende 2011/Anfang 2012 ins Wanken geraten war (Massenproteste gegen die manipulierten Duma-Wahlen vom Dezember 2011) erneut zu stabilisieren. Die regimekritische Zeitung „Nowaja gaseta“ sprach damals sogar von einem „patriotischen Tsunami“. Ein solcher Zustand konnte indes nicht von Dauer sein. Dies sah der am 27. Februar 2015 ermordete Oppositionsführer Boris Nemzow früh voraus. Im April 2014 sagte er in einem Interview für die „Nowaja gaseta“:

Putin hat (durch die Annexion der Krim) einen taktischen Erfolg erzielt… Sein Rating hat nun eine schwindelnde Höhe erreicht … Strategisch hat er aber alles verloren.

Die Folgen dieses strategischen Fehlers würden gravierend sein, so Nemzow.

Nemzows Prognose sollte sich in einer sehr kurzen Zeit erfüllen. Die Folgen der Krim-Annexion waren für Russland in der Tat gravierend. Als erstes ist hier die weitgehende außenpolitische Isolierung des Landes zu nennen, die sich bei der Abstimmung über die territoriale Integrität der Ukraine in der UNO-Vollversammlung Ende März 2014 besonders deutlich widerspiegelte. Abgesehen von Russland sprachen sich lediglich 10 Staaten für die Angliederung der Krim an die Russische Föderation aus. 100 Staaten waren dagegen, 58 enthielten sich der Stimme. Auch die immer schärfer werdende Ost-West-Konfrontation bereitet der Kreml-Führung große Probleme. Dies nicht zuletzt wegen des Ungleichgewichts der Kräfte. Der Moskauer Historiker Alexej Kiwa nannte in diesem Zusammenhang im November 2017 folgende Zahlen: „Russlands Anteil am globalen BIP beträgt 1,5-2%, derjenige der USA und der EU jeweils 20%“.

Aber nicht nur die außenpolitische Isolierung und die kostspielige Konfrontation mit dem Westen bereitet der Kreml-Führung Kopfzerbrechen, sondern auch die Tatsache, dass die Krim-Thematik, die noch vor einigen Jahren Putin eine beispiellose Popularität sicherte, in den gegenwärtigen innenpolitischen Auseinandersetzungen im Lande so gut wie keine Rolle mehr spielt.

Die eingangs erwähnten landesweiten Massenproteste gegen die willkürliche Verhaftung und Verurteilung Alexej Nawalnys stellen ein deutliches Indiz dafür dar: „Putin hat kein Narrativ mehr“, sagt in diesem Zusammenhang Michael Thumann in der „ZEIT“.

Russlands totalitäres Erbe

Werden diese Proteste Russland grundlegend verändern? Regimekritische russische Autoren sind diesbezüglich unterschiedlicher Meinung. „Wir leben jetzt in einem anderen Land“, schrieb Ende Januar einer der prominentesten Oppositionspolitiker, Leonid Gosman, in der „Nowaja gaseta“, als er über die Folgen der jüngsten Massenproteste reflektierte. Der Leiter des regimekritischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, Lew Gudkow, ist hingegen skeptischer. Am 3. Februar schrieb er auf dem Portal „Liberalnaja missija“ (die Liberale Mission) Folgendes:

Die dünne Schicht der protestierenden Minderheit … (kann nicht) die grundlegende Struktur des Verhältnisses zwischen Staat und Bevölkerung verändern. Solange diese Problematik … nicht entsprechend analysiert wird, wie dies in Bezug auf den Nationalsozialismus (in Deutschland) geschah, wird keine Protestbewegung imstande sein, eine Gesellschaft zu verändern, die nicht in der Lage ist, ihre totalitäre Vergangenheit zu bewältigen.

Bei diesem Vergleich zwischen der deutschen und der russischen Vergangenheitsbewältigung lässt Gudkow indes Folgendes außer Acht. Die Tatsache, dass im westlichen Teil Deutschlands nach dem wohl beispiellosen Zivilisationsbruch von 1933-1945 das stabilste demokratische Gemeinwesen auf deutschem Boden errichtet werden konnte, war untrennbar mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der Staaten der freien Welt verbunden. Nicht weniger wichtig war in diesem Zusammenhang auch die allmähliche Integration der Bundesrepublik in die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strukturen des Westens. Die prowestlich orientierten Gruppierungen im postsowjetischen Russland, die zu Beginn der 1990er Jahre in der politischen Klasse Russlands noch dominierten, strebten ebenfalls eine engere Anbindung Russlands an den Westen an. Dennoch wurde die Vision von einem „gemeinsamen Haus Europa“, die die sowjetischen bzw. russischen Reformer seit der Gorbatschowschen Perestroika inspiriert hatte, nicht in die Praxis umgesetzt. So vollzog sich die Auseinandersetzung mit dem totalitären Erbe im postsowjetischen Russland unter ganz anderen Bedingungen, als dies in der Bundesrepublik der Fall gewesen war. Dies war einer der Gründe dafür, dass die im August 1991 gegründete „zweite“ russische Demokratie etwa 9 Jahre später durch die „gelenkte Demokratie“ Wladimir Putins abgelöst wurde Nun erlebt aber auch das System der „gelenkten Demokratie“ eine immer tiefer werdende Krise. Ihr Ausgang ist offen.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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