Impfen in Deutschland: Hintergründe eines Schneckenrennens

Erst gab’s viele Fragen, dann kreißte der Gipfel (oder umgekehrt), und nun haben wir endlich einen nationalen Impfplan. Oder: Wie man versucht, ein Schneckenrennen in einen Galopp zu verwandeln. 1270ste Corona-Kolumne von Henning Hirsch

Bild von M W auf Pixabay

Der Impfgipfel kreißte und gebar 3 Gratis-Dosen BionTech und eine Besichtigungstour bei Curevac in Tübingen zzgl. Händeschütteln mit OB Boris Palmer, der seine Stadt bereits vor Monaten zur Corona-befreiten Zone erklärt hatte. Das ist böse und stimmt so natürlich nicht ganz. Der Gipfel gebar nämlich zusätzlich die Aussicht auf einen nationalen Impfplan. Pläne sind immer super. Und die bloße Aussicht auf einen Plan ist auch schon gut. Bloß: was soll in diesem Plan eigentlich konkret drinstehen: Verlässliche Zahlen oder bleibt’s bei schwammigen Absichtserklärungen?

Warum ein Impfplan heute und nicht bereits im Sommer?

Weshalb musste jetzt eigentlich auf die Schnelle ein Impfplan aus der Ampulle gezaubert werden? Oder andersherum gefragt: weshalb gibt es diesen Plan nicht bereits seit Monaten? Ganz neu ist die Sache mit dem Coronavirus ja nun nicht. Mit nem Plan hätten also sowohl die EU als auch Deutschland schon im vergangenen Herbst aufwarten können. Geschenkt. Pläne gibt’s dann, wenn irgendwer sie plötzlich DRINGEND fordert. In diesem Fall die SPD, die dem Gesundheitsminister erstmal einen Fragenkatalog zugeschickt und die Presse freundlicherweise gleich in cc. gesetzt hat, damit wir alle erfahren, was die Sozialdemokraten von der Regierung wissen wollen. Wenn Sie nun wiederum von mir wissen möchten, warum es dafür im Januar 21 einen ellenlangen Fragebogen braucht, wo doch die SPD-Minister seit Beginn an mit am Corona-Kabinettstisch sitzen, so muss ich Ihnen leider schulterzuckend antworten: Ich weiß es nicht. Aber besser spät als nie. Nicht, dass die Sozialdemokraten Corona noch komplett verschlafen.

Weshalb zentral einkaufen grundsätzlich schlau ist

Die Impfgeschwindigkeit in Deutschland sowie in der gesamten EU lässt stark zu wünschen übrig. Da kann man wirklich auch als Mainstream-Medien-Abonnent nichts beschönigen. Nachdem ich vor 1 Monat geschrieben hatte, lasst erstmal den Januar verstreichen, bevor wir mit dem Meckern anfangen und dieser Januar nun eher einem Schnecken-Hindernisparcours-Rennen denn einem beherzten Tübinger Wettlauf glich, kann es nicht verwundern, dass die europäische Beschaffungspolitik weiterhin heftig unter Dauerbeschuss steht. Warum ist überhaupt europäisch und nicht national eingekauft worden? Ich geh ja auch alleine in den Supermarkt, um mir dort meine Vanillejoghurts zu besorgen und koordiniere mich im Vorfeld nicht erst mit meinen Nachbarn, ob die auch Vanillejoghurts haben wollen. Da sind mir ein paar Cent eventuell winkender Preisvorteil bei größerer Bestellmenge schnurzpiepegal. Hauptsache, ich komme schnell an meine Vanillejoghurts dran.

Jan Fleischhauer im Focus verstieg sich in diesem Zusammenhang sogar zu der Behauptung: „Merkels Impfstoff-Versagen: Die verheerendste Entscheidung der Kanzlerin in 15 Jahren Amtszeit“. Wow, dachte ich vor vier Wochen. Unsinn bleibt Unsinn, denke ich heute.

Fassen wir an dieser Stelle für die Zentraleinkauf-Skeptiker deshalb nochmal die 3 Hauptgründe für die Auslagerung der Beschaffung nach Brüssel zusammen:

(1) Verhinderung eines Wettlaufs der 27 Mitglieder um die Impfstoffe
(2) Bündelung der Expertise an einer Stelle
(3) Erzielung von Mengen- (-> Preis-) Vorteilen.

(1) Insofern man die EU als Solidargemeinschaft begreift, sollte ein schnellerer Zugriff der reichen Länder – in denen die Produzenten beheimatet sind – zu Lasten des ärmeren Südens und Ostens vermieden werden. Die Impfdosen werden von Brüssel aus gemäß vorher festgelegter, transparenter Schlüssel an die einzelnen Mitglieder verteilt. Kann man, wenn man eher national gesinnt ist und die EU sowieso generell Scheiße findet, bemängeln, ändert aber nichts daran, dass die Grundidee von der europäischen Perspektive aus betrachtet durchaus richtig ist.

(2) Es lässt sich wochenlang wunderbar bis erhitzt darüber streiten, ob die Brüsseler Experten mehr oder weniger Ahnung als ihre nationalen Kollegen haben. Am Ende der Diskussion wird jedoch außer Erschöpfung der Kommentatoren nichts Verwertbares herauskommen; weshalb wir uns diese nutzlose Debatte auch gleich ganz sparen können.

(3) Hier schälen sich doch langsam Ungereimtheiten heraus: War es wirklich so wichtig, den Preis zu drücken? Klar, als Einkäufer darf man sich keine Mondpreise von den Herstellern aufschwatzen lassen. Aber musste da tatsächlich bis zum letzten Zehntelcent gefeilscht werden? Produkthaftung: natürlich ein Punkt. Jedoch wäre es deutlich schneller gegangen, wenn die EU die ausnahmsweise übernommen hätte. Jetzt liegt der Produkthaftungs-Peter zwar bei den Produzenten; dafür konnten beide Seiten allerdings erst im Spätherbst die Tinte unter die Verträge setzen, während die US-Amerikaner, Briten und Israelis bereits im Sommer auf große Impfstoff-Shoppingtour gegangen waren. Merke: Wer als Letzter kauft, bekommt halt nur die Restbestände aus dem Sortiment.

Ändert natürlich alles nichts daran, dass sich die Hersteller an die zugesagten Liefermengen halten müssen. Man hätte ja in die Verträge reinschreiben können, dass verspätete Lieferungen in der Konsequenz zu drakonischen Konventionalstrafen führen. Wer nicht liefert, zahlt nen Betrag, der ordentlich schmerzt. Oder muss die nächsten 50 Millionen Dosen gratis zur Verfügung stellen. So wird das normalerweise unter Profis geregelt. Das Hin- und Herschieben des Verantwortungs-Peters bringt überhaupt nichts. Es ist nun mal im Januar schlecht gelaufen mit Einkauf, Produktion und Auslieferung, und jetzt müssen beide Seiten schauen, dass es schnell besser wird. Aber das wird ja GsD seit gestern Abend alles der Gipfel regeln. Oder etwa doch nicht?

Warum die Länder mit in der Verantwortung sind

Was in der aufgeregten Diskussion über die Liefermengen jedoch zumeist verschwiegen wird, ist der Umstand, dass im Land des (angeblichen) Organisationsweltmeisters vieles im Argen liegt mit dieser Organisation. Hotlines, die nicht funktionieren oder gar nicht erst existieren, telefonische und digitale Anfragen, die per Briefpost beantwortet werden – falls sie überhaupt beantwortet werden –, Verstorbene, die angeschrieben und zu Impfterminen eingeladen werden – auf die die Lebenden immer noch warten –, Vorsichtsvorratshaltung, anstatt das Zeug schnell unter die Leute zu bringen, Priorisierungen, die nur noch Experten verstehen … die Aufzählung der Organisations- und Planungspannen auf Länder- und kommunaler Ebene ist nicht gerade kurz und ich frage mich, ob die SPD im Anschluss an ihren Bundesfragebogen auch Fragebögen an die 16 Landesgesundheitsminister und im Anschluss an sämtliche Landräte, Bürgermeister und Behördenleiter der Gesundheitsämter verschicken wird. Keine Sorge: ich kann mir die Frage selbst beantworten. Die SPD wird das selbstverständlich nicht tun. Denn in 7 Ländern stellt sie selbst den MP und in 4 weiteren sitzt sie als Juniorpartner mit am Regierungstisch. Streng befragen tut man nie sich selber, sondern immer nur den politischen Gegner (auch wenn man mit dem seit gefühlt 50 Jahren täglich in der Groko beisammen hockt. Fällt in die Rubrik: Auflösungserscheinungen einer alten Ehe).

Weshalb nationale Alleingänge nichts bringen

Ich persönlich halte vom immer zügelloser um sich greifenden Impfnationalismus sowieso herzlich wenig. Unterm Strich muss die gesamte Weltbevölkerung gegen das Virus immunisiert werden. Und nicht nur die reichen US-Amerikaner, Briten, Israelis, Deutschen, Skandinavier u.ä. Was ist mit den Afrikanern, Südamerikanern und Südostasiaten? Bekommen die 2025 die letzten Chargen, bei denen das MHD bereits abgelaufen ist oder eventuell überhaupt nichts? Ebenfalls beim Impfen America & Europe first? Dürfen bloß die Nationen die Leben ihrer Bevölkerungen schützen, die genügend Kohle springen lassen können, um den teuren Stoff in doppelt bis dreifach übertriebener Menge zu horten? Das wäre sowohl egoistisch als auch zu kurz gedacht. Während wir uns hier durchimpfen lassen und dabei ständig jammern, dass es woanders schneller geht, mutiert das Virus in den ungeimpften Weltregionen munter vor sich hin, wird alsbald in veränderter Form wieder in Europa eingeschleppt und der ganze SARS-CoV-Wahnsinn beginnt von vorne. An dieser Stelle lobe ich AstraZeneca: Die verkaufen weltweit zum Selbstkostenpreis. Da können sich Biontech und Moderna ne Scheibe von abschneiden.

Am Ende dieser Kolumne wollen wir 3 Merksätze festhalten:
(1) Impfen ist eine globale Aufgabe. Welche Nation damit als Erste fertig ist, ist in etwa so relevant, wie sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob Leverkusen jemals Deutscher Meister wird. Beides ist völlig unwichtig.
(2) Der Zentraleinkauf auf europäischer Ebene war eine weise Grundsatzentscheidung. Es hapert jedoch mit der operativen Umsetzung.
(3) SPD-Minister ins Corona-Kabinett einzuladen, ist vergebliche Liebesmühe. Entweder schlafen sie dort, während die anderen über Corona reden oder sie spielen Candy Crush. Und am Ende reichen sie einen ellenlangen Fragebogen ein, um all die Fragen beantwortet zu bekommen, bei deren Erörterung sie geschlafen oder Candy Crush gespielt haben.

PS. Leverkusen wird nie Deutscher Meister werden.

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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