„Europa und die Menschheit“ – zum hundertjährigen Jubiläum der Schrift des Vordenkers der Eurasierbewegung – Nikolaj Trubetzkoy

Der Begriff „Eurasien“ ist zurzeit in aller Munde. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Wladimir Putin den „eurasischen Gedanken“ als eine Art Alternative zur „europäischen Idee“ zu popularisieren versucht und die 2015 gegründete „Eurasische Union“ bzw. „Eurasische Wirtschaftsunion“ als Gegenmodell zur „Europäischen Union“ betrachtet. Dabei muss man hervorheben, dass der „eurasische Gedanke“ nicht in Russland selbst, sondern in der russischen Emigration entstanden ist und auf den berühmten russischen Sprachwissenschaftler Nikolaj Trubetzkoy und auf seine vor 100 Jahren erschienene Schrift „Europa und die Menschheit“ zurückgeht. Auf diese Schrift und auf die von ihr ausgelösten Wirkungen möchte ich nun genauer eingehen.


Die Auflehnung gegen den europäischen Sendungsgedanken

Den roten Faden der 1920 entstandenen Schrift Nikolaj Trubetzkoys bildet die Kritik am europäischen Sendungsgedanken, den die Europäer laut Trubetzkoy vom alten Rom übernommen hätten. Der Gegensatz zwischen „Europa“ und dem Rest der Menschheit stellt für Trubetzkoy den Grundkonflikt der Epoche dar, wobei Trubetzkoy „Europa“ mit Westeuropa gleichsetzt. Die Europäer hielten sich für die Krönung der Schöpfung und diese beispiellose Egozentrik werde von ihnen nicht einmal reflektiert, so Trubetzkoy. Europäisch werde mit universal gleichgesetzt. Die außerordentliche Selbstüberzeugtheit der Europäer verunsichere alle anderen Völker der Welt, die ihre eigenen Werte zu missachten begännen, da diese sich von der europäischen unterschieden. Daher bleibe bei den Nichteuropäern ständig das Gefühl der eigenen Rückständigkeit bestehen: „Rückständigkeit ist das unentrinnbare Gesetz der Völker, die sich auf den Weg der Europäisierung begeben“, setzt Trubetzkoy seine Gedankengänge fort.

Deshalb plädiert Trubetzkoy für eine weltweite Auflehnung der Nichteuropäer gegen die Dominanz des alten Kontinents. Dabei habe sich diese Revolte nicht nur nach außen, sondern auch, und vor allem, nach innen zu richten. Die Nichteuropäer müssten nämlich das vom Westen übernommene Vorurteil von der Minderwertigkeit der eigenen Kultur überwinden und die Egozentrik, die hinter dem angeblichen Universalismus der Europäer stecke, entlarven.

Im Gegensatz zu Oswald Spengler und zu anderen abendländischen Pessimisten war Trubetzkoy keineswegs der Ansicht, dass Europa seine hegemoniale Stellung bereits weitgehend verloren habe. Trubetzkoy fürchtete, der Siegeszug Europas in der Welt werde unaufhaltsam weitergehen, da immer mehr Völker der Faszination der europäischen Kultur erlägen.

Russland wird von Trubetzkoy nicht als eine europäische Großmacht, sondern als Bestandteil der von den Europäern geistig und materiell unterjochten übrigen Welt angesehen. Die einzige Chance Russlands, sich dieser Abhängigkeit zu entziehen, sah Trubetzkoy in einer seiner späteren Abhandlungen in der engen Anlehnung an Befreiungsbewegungen der Kolonialvölker. Die Zukunft Russlands liege nicht in seiner Wiederherstellung als europäische Großmacht, sondern darin, dass es zum Führer der weltweiten Auflehnung gegen Europa werden könne.

Hier zeigt sich eine erstaunliche Parallele zur Argumentation der Bolschewiki, die ebenfalls Russland zum Zentrum der Auflehnung gegen die europäische Welthegemonie machen wollten. In beiden Fällen nahm man an, die abhängigen Völker würden Russland als ihresgleichen ansehen, nicht als eine europäische Hegemonialmacht, sondern als eine unterdrückte Nation, die mit Europa nichts gemein habe. Diese Annahme sollte sich als falsch erweisen. Für die Mehrzahl der nichteuropäischen Völker blieb Russland weiterhin eine europäische Imperialmacht. Der Bruch mit Europa war für Russland nicht so leicht zu vollziehen, wie die Bolschewiki und Nikolaj Trubetzkoy dies hofften.

Eurasiertum vs. Bolschewismus

Trubetzkoy fand sehr schnell Gesinnungsgenossen, die ebenso wie er von einem unversöhnlichen Gegensatz zwischen Ost und West ausgingen. Gemeinsam gaben sie 1921 eine Schrift heraus, die den programmatischen Titel „Ischod k Vostoku“ (Der Auszug nach Osten) trug. So wurde die Eurasierbewegung geboren. Kein europäischer Staat lasse sich mit Russland vergleichen, so die Autoren der Schrift, denn es handele sich bei Russland nicht um ein Land im herkömmlichen Sinne, sondern um einen eigenständigen Kontinent Eurasien. Die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts hätten dazu geführt, dass in Eurasien eine Alternative zu der bisher weltbeherrschenden europäischen Kultur entstehe, so die Eurasier:

„Bricht die Göttin der Kultur, die ihr Zelt vor mehreren Jahrhunderten im Westen aufgeschlagen hatte, jetzt nach Osten auf?“, fragt einer der engsten Gefährten Trubetzkoys Pjotr Sawitzki.

Die Radikalität, mit der die Eurasier den Westen, aber auch manche Aspekte der russischen Vergangenheit kritisierten, veranlassten manche Beobachter dazu, Parallelen zwischen der eurasischen und der bolschewistischen Ideologie zu ziehen. Indes bestand zwischen den beiden Programmen ein grundlegender Unterschied. Im Gegensatz zu den Eurasiern glaubten die Bolschewiki keineswegs an den Eigenwert der nichteuropäischen Kulturen. Ähnlich wie die Mehrheit der von den Eurasiern so scharf kritisierten Westeuropäer glaubten auch die Bolschewiki daran, dass die westliche Kultur einen universalen Charakter habe. Kurz vor dem Ausbruch des I. Weltkrieges schrieb Lenin über den asiatischen Befreiungskampf, der sich damals intensivierte:

Heißt das vielleicht, dass der materialistische Westen verfault ist und das Licht nur aus dem mystischen, religiösen Osten leuchte? Nein, gerade umgekehrt. Das heißt, dass der Osten endgültig den Weg des Westens betreten hat, dass neue Hunderte und Aberhunderte Millionen Menschen jetzt am Kampfe für die Ideale teilnehmen, zu denen sich der Westen durchgekämpft hat. Verfault ist die Bourgeoisie des Westens, vor der schon ihr Totengräber steht – das Proletariat.

Bei der Revolte, die den Eurasiern vorschwebte, handelte es sich um eine Auflehnung ganz anderer Art. Der Kulturrevolution, für die die Eurasier plädierten, war das futuristische Pathos der bolschewistischen Revolution fremd. Ihr „Goldenes Zeitalter“ lag nicht in der „lichten Zukunft“, sondern in der Vergangenheit. Aber nicht in der unmittelbaren Vergangenheit, wie dies bei den russischen Monarchisten der Fall war, sondern in der fernen Vorzeit. Das radikal Neue stelle im Grunde die Erneuerung des ganz Alten dar, sagt 1923 Trubetzkoy. Jede radikale Erneuerung knüpfe an die ganz alte und nicht an die unmittelbare Vergangenheit an. Trubetzkoy bezog sich hier auf die Tatsache, dass die Eurasier das von Peter dem Großen erschaffene europäisierte Petersburger Russland im Namen des alten Moskauer Russland, im Namen der Idee vom „dritten Rom“ ablehnten.

Eurasier und die „konservative Revolution“

So handelte es sich bei den Eurasiern um Revolutionäre und Traditionalisten zugleich, um „konservative Revolutionäre“; damit ähnelte das eurasische „Kulturmodell“ in verblüffender Weise dem etwa zur gleichen Zeit entstandenen Modell der deutschen „konservativen Revolution“, die in der Geschichte der Weimarer Republik eine derart verhängnisvolle Rolle spielen sollte. Ähnlich wie die Eurasier träumten auch die Verfechter der „konservativen Revolution“ von der Zerstörung der westlichen Hegemonie, von der Zertrümmerung der vom Westen geprägten zivilisatorischen Normen. Bei den Vertretern der „konservativen Revolution“ handelte es sich, ähnlich wie bei den Eurasiern, nicht selten um intellektuell versierte und brillant formulierende Autoren. Anders als die nationalsozialistischen Demagogen höhlten sie nicht nur das politische, sondern auch das geistige Fundament der ersten deutschen Demokratie aus. Zwar hatten die konservativen Revolutionäre mit ihrer radikalen Absage an den Westen, ähnlich wie die Eurasier, bestimmte geistige Vorläufer, als eine eigene politische Strömung haben sie sich jedoch erst infolge der Ereignisse von 1918/19 herauskristallisiert. Ohne den Ersten Weltkrieg, ohne Versailles und ohne Weimar wäre eine solche ideologische Erscheinung wohl kaum denkbar gewesen. Schon der Begriff „konservative Revolution“, der sich aus scheinbar unvereinbaren Elementen zusammensetzte, spiegelte das Paradoxe und Bizarre dieses Phänomens wider. Ähnlich wie die Eurasier wollten auch die konservativen Revolutionäre die bestehende Ordnung nicht im Namen der „lichten Zukunft“, sondern im Namen der Vergangenheit, und zwar einer sehr fernen Vergangenheit überwinden. Die unmittelbare deutsche Vergangenheit – den Wilhelminismus – lehnten die Autoren der konservativen Revolution genauso scharf ab, wie die Eurasier dies mit dem Petersburger Russland getan haben. Dem von den Eurasiern verklärten Bild des Moskauer Russland entsprach die Verklärung der mittelalterlichen Reichsidee durch die konservativen Revolutionäre, in deren Namen sie die von ihnen abgelehnte Weimarer Ordnung bekämpften.

Die Suche nach einer „eurasischen Nation“

Die Kampfansage der Eurasier an den Westen und an die westliche Kultur als solche wurde von vielen Vertretern der russischen Bildungsschicht im Exil, die den traditionellen russischen Streit zwischen Westlern und Slavophilen für längst überwunden hielten,  scharf kritisiert. Sie unterstrichen den komplementären Charakter der Beziehungen zwischen Ost und West und warnten vor isolationistischen und partikularistischen Tendenzen, die sowohl in Russland, als auch im Westen verbreitet waren. Besonders scharf setzte sich mit den Eurasiern der in Paris lebende Philosoph Nikolaj Berdjajew auseinander. Berdjajew kritisierte (1925) die Absage der Eurasier an universale Kulturwerte. Dadurch unterschätzten sie, im Gegensatz zu ihren slavophilen Vorgängern oder zu Fjodor Dostojewski, den universalen Charakter der Orthodoxie.

Berdjajew neigt hier zur Verklärung des slavophilen Standpunktes. Die slavophile Kritik am Katholizismus war nicht weniger scharf als die Absage der Eurasier an die sogenannten „Lateiner“. Die religiöse Mauer, die die Eurasier zwischen Russland und dem Westen errichten wollten, war also ähnlich hoch wie diejenige, die die Slavophilen aufgebaut hatten. Anders als die Slavophilen wollten allerdings die Eurasier die Mauer zwischen der Orthodoxie und den anderen Religionen an einer anderen Stelle durchlässiger machen, und zwar in Richtung Osten – gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften, die das eurasische Territorium bewohnten. Für die Autoren der programmatischen Schrift der Eurasier vom Jahre 1926 „Ewrasijstwo“ (Eurasiertum) waren z.B. Buddhismus oder Islam der Orthodoxie näher als Katholizismus.

So träumten die Eurasier nicht nur von einer kulturellen, sondern auch von einer religiösen Synthese der Völker Eurasiens, von der Entstehung einer im Grunde noch nie dagewesenen eurasischen Nation – eines neuen politischen Subjekts, das zur Grundlage des erneuerten russischen Reiches werden sollte. Die russische Nation und der orthodoxe Glaube sollten zwar in diesem Reich, so einige eurasische Autoren, eine führende, aber keineswegs eine derart beherrschende Rolle spielen, wie dies im vorrevolutionären Russland der Fall gewesen war.

Der Träger der Einheit Russlands sei vor 1917 das russische Volk gewesen, schreibt 1927 Trubetzkoy. Aufgrund des wachsenden Nationalbewusstseins der nichtrussischen Völker sei die Monopolstellung der Russen nunmehr unhaltbar geworden. In diesem Zusammenhang kritisiert Trubetzkoy die russischen Chauvinisten. Durch deren Mangel an Bereitschaft, auf Kompromisse mit den anderen Völkern Russlands einzugehen, setzten sie den Bestand des Reiches aufs Spiel. Ihr anachronistisches Festhalten an bereits verlorenen Positionen könne dazu führen, dass das russische Reich auf seinen großrussischen Kern reduziert werde. Die Zeit der Alleinherrschaft der Russen in Russland sei endgültig vorbei, so Trubetzkoy. Die Bolschewiki hätten diesen Sachverhalt durchaus anerkannt. Sie hätten auch einen neuen Träger der russischen Einheit gefunden: anstelle des russischen Volkes – das Proletariat. Dies sei aber nur eine scheinbare Lösung. Das Klassenprinzip schüre nur den Klassenhass und untergrabe die Einheit Russlands. Abgesehen davon seien nationale Emotionen bei Arbeitern in der Regel wesentlich stärker ausgeprägt als Klassensolidarität. Russland müsse deshalb, wenn es ein einheitlicher Staat bleiben wolle, einen neuen Träger der Einheit finden, und dies könne nur die eurasische Bewegung werden, die das Gemeinsame zwischen allen Völkern Russlands/Eurasiens hervorhebe. Den Eurasiern schwebte demnach eine Ablösung der Bolschewiki durch die eurasische Bewegung vor.

Der Durchbruch des Utopischen

Eine völlig utopische Vision, möchte man meinen. In der Tat. Man darf aber auf der anderen Seite nicht vergessen, dass die Zeit der Entstehung und der Blüte der Eurasierbewegung – die 1920er und 1930er Jahre – die Zeit des beispiellosen Durchbruchs des Utopischen darstellte, des Aufkommens von Bewegungen, die Ziele zu verwirklichen suchten, die manche radikale Denker des 19. Jahrhunderts bereits formuliert hatten, die aber im Allgemeinen als völlig unrealisierbar galten. Im 20. Jahrhundert sollte sich aber zeigen, dass diese Utopien keineswegs so weltentrückt waren, wie man dies ursprünglich angenommen hatte. Im 19. Jahrhundert habe man sich oft darüber beklagt, dass die Utopien zwar schön seien, sich aber leider nicht verwirklichen ließen, schrieb Nikolaj Berdjajew 1924 in seinem Buch „Das neue Mittelalter“. Im 20. Jahrhundert sei die Menschheit mit einer ganz anderen Erfahrung konfrontiert worden. Utopien seien leichter realisierbar, als man dies zunächst angenommen habe. Die Frage, die sich nun stelle, sei, wie man die Verwirklichung von Utopien verhindern könne, so Berdjajew.

Und in der Tat, den Bolschewiki war es beinahe gelungen, ihre Utopie von der Abschaffung des Privateigentums und der Verstaatlichung aller Produktionsmittel, auch der Arbeitskräfte, zu verwirklichen. Den Nationalsozialisten war es beinahe gelungen, ihre Utopie von der Errichtung einer rassisch geprägten „Neuen europäischen Ordnung“ zu realisieren. Warum waren dann die Eurasier derart erfolglos mit ihrem utopischen Vorhaben? Warum beschränkte sich die Anziehungskraft der eurasischen Idee lediglich auf kleine intellektuelle Zirkel? Die Erklärung, dass Intellektuelle zu weltfremd seien, um die Technologie der Macht ähnlich virtuos zu beherrschen, wie dies totalitäre Politiker tun, reicht nicht aus. Lenin und Trotzki waren auch Intellektuelle und Joseph Goebbels war promovierter Germanist. Den Eurasiern war eine Breitenwirkung demnach nicht nur wegen ihrer Intellektualität, sondern auch wegen des Charakters ihrer Ideologie versagt. So appellierten die Bolschewiki mit ihren Klassenkampfparolen und die Nationalsozialisten mit ihrer rassistischen Propaganda an tiefsitzende Ressentiments breiter Bevölkerungsschichten, an den sozialen Neid und an den Antisemitismus. Dem eurasischen Appell an die Völker Eurasiens bzw. an unterschiedliche nationale Exilgruppierungen aus dem russischen Reich zur Errichtung einer antiwestlichen Solidargemeinschaft auf eurasischem Territorium fehlte eine vergleichbare demagogische Resonanz. Nationa­listische Emotionen waren sowohl bei den russischen als auch bei den nichtrussischen Emigranten aus dem ehemaligen zarischen Russland derart stark ausgeprägt, dass diese für die Vision von einem multiethnischen und multikonfessionellen eurasischen Reich unzugänglich blieben. Die Komplexität des eurasischen Kulturmodells bildete also eine der Ursachen dafür, dass es sich nicht allzu leicht für demagogische Zwecke instrumentalisieren ließ.

Der Niedergang der Schaffenskraft

Es existierte aber noch ein anderer wichtiger Unterschied zwischen den Eurasiern auf der einen und den Bolschewiki bzw. den Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Er bestand darin, dass die Eurasier trotz ihres revolutionären Ansatzes, trotz ihres Verbalradikalismus noch mit einem Fuß im vortotalitären 19. Jahrhundert standen und sich bestimmten, für diese Epoche prägenden Normen verpflichtet fühlten. Dies war besonders in den dreißiger Jahren sichtbar, als die stalinistische Schreckensherrschaft den in den zwanziger Jahren verbreiteten Illusionen über die sogenannte „Normalisierung“ des Bolschewismus ein Ende setzte. Ein Teil der Eurasier erlag der Faszination der stalinistischen Revolution von oben und ließ sich für die Zwecke des Regimes, nicht zuletzt als seine Agenten, einspannen. Die Gründer der Bewegung, so vor allem Nikolaj Trubetzkoy und Pjotr Sawitzki, wandten sich indes von der bolschewistischen Diktatur, die sie seinerzeit als nicht radikal genug eingeschätzt hatten, erschreckt ab. Im Jahre 1937 – im Schicksalsjahr der stalinistischen Sowjetunion, als der sogenannte „Große Terror“ seinen Höhepunkt erreichte – veröffentlichte Trubetzkoy im 12. Heft der Zeitschrift „Ewrasijskaja chronika“ (Die eurasische Chronik) einen Artikel unter dem Titel „Der Niedergang der Schaffenskraft“. Obwohl der Artikel kein einziges Wort über den Terror enthielt, stellte er eine vernichtende Kritik am Stalinismus dar. Die repressive Politik des Regimes habe zur Erlahmung der Kreativität im Lande geführt, so der Autor: „Die zum Schweigen verurteilten Menschen verlernen allmählich auch zu sprechen“. Auf diese durch die Partei verursachte kulturelle Stagnation führt Trubetzkoy die Unfähigkeit des Stalinismus, seinen eigenen kulturellen Stil zu entwickeln, zurück. In der Sowjetunion finde jetzt lediglich eine unbeholfene Nachahmung völlig antiquierter Kulturmodelle statt, die im vorrevolutionären Russland vor 60-70 Jahren – d.h. in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts – gegolten hatten.

Trubetzkoy war davon überzeugt, der Kommunismus sei zum Untergang verurteilt, weil er sein schöpferisches Potential gänzlich verbraucht habe. In Wirklichkeit sollte aber das System, dessen baldigen Zusammenbruch Trubetzkoy voraussagte, noch etwa ein halbes Jahr­hundert lang das Weltgeschehen entscheidend prägen. Die politische Vitalität des Kommunismus wurde von Trubetzkoy also eindeutig unterschätzt, nicht aber die kulturelle. Mit einem ungewöhnlichen Scharfsinn erkannte er, dass eine Ideologie, die nicht mehr imstande sei, die kulturelle Elite zu inspirieren, die nur den offiziösen künstlerischen Kanon dulde und jede Abweichung von ihm drakonisch bestrafe, auf die Dauer keine Überlebenschance habe. Frühzeitig erkannte der Vordenker der Eurasierbewegung die epigonenhafte Sterilität des stalinistischen Kulturverständnisses, dem auch die Nachfolger Stalins bis zur Gorbatschowschen Perestroika im Wesentlichen treu blieben. Wenn man nach den Ursachen für den Zusammenbruch des sowjetischen Regimes sucht, darf man die Diagnose Trubetzkoys keineswegs außer Acht lassen. Nicht nur die wirtschaftliche Ineffizienz, nicht nur die technologische Rückständigkeit, sondern auch der „Niedergang der Schaffenskraft“, der in der Sowjetunion infolge der stalinistischen Gleichschaltung zu beobachten war, bedingte letztendlich den Untergang des Sowjetreiches.

Die Eurasier träumten davon, die verbrauchte kommunistische Partei zu beerben. Die Lage in der Sowjetunion sei zwar besorgniserregend, aber nicht aussichtslos, schrieb Trubetzkoy 1937 in dem oben erwähnten Artikel: „Den Ausweg stellt die Ablösung des Marxismus durch eine andere herrschende Idee dar“. Zwischen den Zeilen gab Trubetzkoy zu verstehen, dass es sich bei dieser anderen Idee um das Eurasiertum handele.

Kurz nach dem „Anschluss“ Österreichs an das „Dritte Reich“ im März 1938 geriet Trubetzkoy, der seit 1922 an der Universität Wien Sprachwissenschaften und slawische Philologie lehrte, ins Visier der Gestapo, und zwar deshalb, weil er die nationalsozialistische Rassenlehre in Frage stellte. Nach einem Gestapo-Verhör starb Trubetzkoy im Juni 1938 im Alter von 48 Jahren. Der Tod Trubetzkoys symbolisierte das Ende des „klassischen“ Eurasiertums. Es verließ, wie es damals schien, endgültig die politische Bühne. Trotz ihres unermesslichen Ehrgeizes vermochten also die Eurasier keine wirksame Alternative zur kommunistischen Ideologie zu entwickeln. Die Lehre der Eurasier schien ein skurriles und endgültig abgeschlossenes Kapitel der Ideengeschichte des russischen Exils zu sein. Indes herrschen in der Welt der Ideen eigentümliche Gesetze, die immer wieder Überraschungen bereit halten. Die Ende der 1930er Jahre scheinbar endgültig in der Versenkung verschwundenen eurasischen Ideen sollten fünfzig Jahre später eine völlig unerwartete Renaissance erleben. Bereits in der Endphase der Gorbatschowschen Perestroika, als die Erosion der kommunistischen Ideologie immer offensichtlicher wurde, begaben sich viele Verfechter der imperialen russischen Idee auf die Suche nach einer neuen einigenden Klammer für alle Völker und Religionsgemeinschaften des Sowjetreiches und entdeckten dabei den eurasischen Gedanken. Aber die Analyse der nicht selten bizarren Ideologie des Neo-Eurasiertums geht weit über den Rahmen dieser Kolumne hinaus.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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