Eine weißhaarige Fut

Charles Bukowski würde heute seinen 100sten Geburtstag feiern. Eine streckenweise ordinäre, streckenweise wehmütige Hommage auf den großen Erzähler von Saufexzess-, Striplokal- und Pferderennbahngeschichten. Von Henning Hirsch

Bild von Commonurbock23 in: wiki, gemeinfrei

»Charles Bukowski ist ein Trivialautor. Seine Bücher sind schmuddelig«, sagte die Oberschwester der Andernacher Suchtklinik, als Herbert und ich von unserem Abendspaziergang zurückkamen.
»Sie haben keine Ahnung!«, sagte Herbert, der ein großer Fan von Bukowski war und zehn Bücher des Trivialautors mit in den Entzug genommen hatte. Ich bewunderte Menschen wie ihn. Wenn ich in den Entzug ging, hatte ich außer den Klamotten, die ich am Körper trug, nichts dabei und musste mir die Zahnbürste vom Klinikpersonal leihen.
»Sie haben echt KEINE Ahnung, Schwester«, sagte Herbert nochmal. »Bukowski ist der GRÖßTE US-amerikanische Schriftsteller nach dem zweiten Weltkrieg. Wer was anderes behauptet, hat von Literatur keine Ahnung.«
»Wie viele Distra bekommen Sie zur Nacht?«, erkundigte sich die Oberschwester bei Herbert.
»Noch 4.«
»Komisch, auf meinem Plan stehen bloß 2.«
»Das kann nicht sein. Hundert Prozent sind es 4.«
»Wenn auf dem Plan nur 2 draufstehen, darf ich Ihnen auch nur 2 geben. Tut mir leid.«
»Rufen Sie den Arzt vom Dienst. Sofort!«, schrie Herbert.
»Der ist unterwegs. Kommt frühestens in 5, 6 Stunden zurück. Bis dahin schlafen Sie schon«, sagte die Oberschwester und gab Herbert die 2 Distra.

»Und Sie, Herr Hirsch, was halten Sie von Bukowski?«, wandte sich die Oberschwester nun an mich.
»Ein interessanter Autor«, sagte ich, »aber ich kenne ehrlich gesagt nicht allzu viel von ihm. Das was ich bisher gelesen habe, ließ sich recht einfach lesen. Ist halt großenteils trivial und an manchen Stellen wirklich schmuddelig.«
»Wie viele Pillen bekommen Sie heute Abend?«
»4.«
»Stimmt: 4. Steht so auch im Plan drin«, sagte die Oberschwester und drückte mir 4 Distra in die Hand.

»Du bist ein Arsch«, sagte Herbert, als wir wieder draußen auf dem Flur standen. Er war das erste Mal im Entzug und musste die Spielregeln der Klinik noch lernen. Heute Nacht, zitternd, mit zu wenig Pillen im Bauch, würde er sie begreifen.

Von Andernach nach L.A.

Henry Charles – ursprünglich getauft auf die schönen deutschen Vornamen Heinrich und Karl – Bukowski wurde am schwül-heißen 16. August 1920 – übrigens ein Montag –, Uhrzeit von der Hebamme nicht protokolliert, in Andernach geboren. Ein beschauliches Städtchen , malerisch gelegen am Fuß der Vulkaneifel mit sehenswertem Blick über den Rhein – der hier Stromkilometer 612 durchfließt – auf die am jenseitigen Ufer schroff ansteigenden Hügel des Westerwalds. In der Aktienstraße 12 (keine Ahnung, welche Aktien dort jemals gehandelt wurden) in einer Erdgeschosswohnung, in der heute ein Karnevalsshop traditionelle Prinzengarde- & Funkemariechenkostüme und Fastnachtsorden vertreibt, was dem großen Dichter sicher sehr gefallen hätte. Vater Henry Bukowski sen. war als Besatzungssoldat nach WK1 für ein paar Jahre im Rheinland stationiert worden, patrouillierte tagsüber den Fluss entlang und stellte abends den einheimischen Mädchen nach. Wie man es als anständiger Besatzungssoldat halt so tut. Dabei verguckte er sich in die damals reizend anzusehende und mit ihren Reizen nicht geizende Andernacherin Katharina Fett, schwängerte und – auf sanften Druck der zukünftigen Schwiegerfamilie hin – ehelichte diese. Die Romantischer-Mittelrhein-Periode währte nur kurz. 1923 übersiedelte die Familie nach Los Angeles. Heinrich Karl – mittlerweile zu Charles Henry amerikanisiert –, der zeitlebens gerne deftig nach Hausfrauenart aß und sich von seinem Onkel (mütterlicherseits) Heinrich jede Weihnachten ein paar Pullen Müller-Thurgau (lieblich) aus dem Ahrtal nach East Hollywood schicken ließ, wird seine Heimat nun für lange Zeit nicht wiedersehen. Ein einziges Mal anlässlich einer Deutschlandtournee, die er auf Einladung seines Übersetzers und engen Freunds Carl Weissner absolvierte, kehrte er Ende der 70er Jahre für 24 Stunden in seine Geburtsstadt zurück.

Klein-Charles spricht anfangs Englisch mit einem starken deutschen Akzent, wird deshalb – und wegen seiner starken Akne – von den anderen Kindern gehänselt, begreift schnell, dass er anders ist, sondert sich ab. Seinen Vater schildert er in Briefen und einzelnen Textfragmenten als sehr streng, teils cholerisch mit Hang zu häuslichen Prügelorgien. Es gibt sogar eine Kurzgeschichte – Titel ist mir leider entfallen – in der der junge Charles seinen Vater krankenhausreif schlägt, bevor er das Elternhaus für immer verlässt. Wie viel daran Realität ist, und wie viel dazu erfunden wurde? Keine Ahnung. Die Mutter beschreibt er als still, genau wie er unter der Tyrannei des Vaters leidend. Charles verbringt viel Zeit in der kommunalen Bibliothek, kommt dort mit den Werken von Sinclair Lewis, D.H.Lawrence, John Dos Passos, Sherwood Anderson, Ernest Hemingway und den russischen Autoren in Berührung, verschlingt deren Bücher. 1939 schreibt er sich am Los Angeles City College für das neue Fach Journalistik ein, bricht das Studium jedoch nach kurzer Zeit wieder ab, beginnt seine Wanderjahre, die ihn kreuz und quer durch die USA führen. Er jobbt als Briefträger, Verkäufer in einem Antiquitätenshop, hängt im Akkord Schweinehälften im Schlachthof an Eisenhaken, macht die Tür in nem Striplokal in Texas, pflückt Äpfel und Pfirsiche auf südkalifornischen Obstplantagen. Allein die Liste seiner Hilfstätigkeiten würde eine komplette Kolumne füllen.

Nach ner Magenblutung beginnt Bukowski mit dem Gedichteschreiben

1943 wird er gemustert und aufgrund physischer sowie mentaler Unzulänglichkeiten als untauglich für den Militärdienst eingestuft, weshalb ihm ein Einsatz an den Fronten des Zweiten Weltkrieges erspart bleibt. Hat ihm vielleicht das Leben gerettet. Denn von diesen Fronten im Pazifik und in Europa sind viele G.I.s gar nicht oder als Krüppel zurückgekehrt.

Ab 1952 probiert er sich drei Jahre lang als Briefträger. 1954 wird er wegen einer Magenblutung, die beinahe tödlich verläuft, in ein Krankenhaus eingeliefert und beginnt danach mit dem Gedichteschreiben. 1958 erneut zur Post, diesmal im Innendienst. Elf stupide Jahre als Briefsortierer. Diese Erlebnisse verarbeitet er in seinem ersten – 1971 erschienenen – Roman Der Mann mit der Ledertasche. Er schreibt nachts und am Wochenende für diverse Magazine, die Namen tragen wie: Sparrow Press, Harlequin, Open City und The Outsider.

Er gilt als ungeschliffenes Juwel, ist bekannt bei Underground-Insidern, befindet sich jedoch von literarischem Ruhm noch so weit entfernt wie Wladimir Putin vom Friedensnobelpreis.

Seit den frühen 70er Jahren konzentriert sich Bukowski nur noch aufs Schreiben, mit dem er sich anfangs mehr schlecht als recht über Wasser hält. Die Schilderungen seiner verschimmelten Apartments in East Hollywood, in denen die Farbe von der Decke bröckelt, die Wasserhähne chronisch lecken und die Klospülungen nie funktionieren, sind Legion. Der schriftstellerische Erfolg mitsamt den dazugehörigen Tantiemen stellt sich erst in den 80ern ein. Bukowski zieht nun von Downtown nach San Pedro. Vom Kiez in einen noblen Vorort. Böse Zungen behaupten, dass von diesem Moment an auch seine Schreibe zahmer, müder, beinahe altersmild wird. Auf seiner klapprigen Olympia Traveller de Luxe tippt er ohne Unterlass bis kurz vor seinem Tod, der ihn im März 1994 ereilt. Ein unglaubliches Œuvre, das er hinterlassen hat: 6 Romane, hunderte Kurzgeschichten, tausende Gedichte, mehrere Regalmeter voller Briefe.

Bukowski war einige Male fest liiert – davon zweimal verheiratet – und hat eine Tochter, Marina Louise (*1964), an der er sehr hing, und die in Interviews zärtlich von ihm als liebevollem Vater spricht.

Beim Dichten und wenn ihn der Blues packte – was häufig gemeinsam passierte – hörte er gerne Musik von Mahler, Beethoven, Schumann, Wagner, Bruckner und in späteren Jahren Bach.

Mit diesem soliden Hintergrundwissen ausgestattet wollen wir uns nun einige seiner Texte zu Gemüte führen.

Nichts riecht so fein wie guter, sauberer Schweiß

Beginnen wir mit zwei, qua Zufallsstichprobe ausgewählten, kurzen Passagen aus seinen Romanen:

Sie hatten diese Sache, die sie Schulung nannten, dreißig Minuten in jeder Nacht, und in der Zeit brauchten wir wenigstens keine Post zu sortieren
[…]
»Nichts riecht so fein wie guter sauberer Schweiß, doch nichts riecht schlimmer als alter, abgestandener Schweiß.«
[…]
»Ich möchte, daß Sie verstehen, daß wir unter allen Umständen sparen müssen! Über eines müssen Sie sich im klaren sein: JEDER BRIEF, DEN SIE VERTEILEN – JEDE SEKUNDE, JEDE MINUTE, JEDE STUNDE, JEDEN TAG, JEDE WOCHE – JEDER BRIEF, DEN SIE ZUSÄTZLICH ZU DER VORGESCHRIEBENEN ANZAHL VERTEILEN, TRÄGT DAZU BEI, DIE RUSSEN ZU BESIEGEN! So, das ist alles für heute. Bevor Sie weggehen, bekommen Sie noch Ihre Tabelle mit den Zustellbezirken.
Tabelle mit den Zustellbezirken. Was war denn das?
Einer ging herum und teilte diese Listen aus.
»Chinaski?«, sagte er.
»Ja?«
»Sie haben Bezirk 9.«
»Danke«, sagte ich.
© Der Mann mit der Ledertasche, Kap. 18

Können Sie den Schweiß, der aus 50 Briefsortierer-Achselhöhlen während der mitternächtlichen Unterrichtseinheit durch den Schulungsraum wabert, förmlich riechen? Also, ich kann es. Und dass die Russen alsbald kommen, wusste noch mein Vater bis weit in die 80er Jahre hinein zu berichten.

Der Mann mit der Ledertasche war Bukowskis erster Roman. Nix Langes: 200 Taschenbuchseiten. Ginge auch noch für ne Novelle durch. Die Rohfassung angeblich binnen vier Wochen zu Papier gebracht. Kann man, wenn man vier Wochen lang nicht kocht, duscht und staubsaugt sicher schaffen. Danach sieht man aus wie der Penner, der einen immer am Eingangsportal der S-Bahnstation um nen Euro anhaut, und riecht auch nicht besser. Aber man hält stolz 200 Seiten Manuskript in den Händen. Sein Erstling ist mMn der beste Roman von Bukowski. Weil er hier halt seine sonst manchmal etwas ermüdende Sauf-Fick-Rennbahn-Kohle-im-Striplokal-verprassen-Handlung mit einer ordentlichen Portion Sozialkritik anreichert. Wer Mann mit der Ledertasche gelesen hat, möchte ums Verrecken nicht bei der Post arbeiten. Weder als Briefträger noch als Sortierer im Innendienst.

Ich war 50 und hatte seit vier Jahren keine Frau mehr im Bett gehabt. Es ergab sich einfach nichts mit Frauen. Ich sah sie an, wenn sie mir auf der Straße oder sonstwo begegneten, doch ich sah sie ohne Verlangen an und mit einem Gefühl von Vergeblichkeit. Ich onanierte viel, doch die Vorstellung, ein Verhältnis mit einer Frau zu haben, selbst ohne Sex, war für mich in weite Ferne gerückt.
© Das Liebesleben der Hyäne, Kap. 1

Liebesleben der Hyäne war übrigens der erste Roman, den ich – auf Empfehlung eines Kumpels hin – von Bukowski las. Muss so um 1985 herum gewesen sein. Wie ich das damals als viel Zeit habender Student gerne mit Büchern, die mir gefielen, tat: an einem verregneten Wochenende in einem Rutsch durch. Wow!, sagte ich im Anschluss zu mir selbst, dieser Autor hat’s drauf. Und ich besorgte mir umgehend den zweiten Roman, Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend, dem ich noch ein drittes Buch, Faktotum, folgen ließ. Danach hatte ich erstmal genug von Bukowski. Mich faszinierte seine schnörkellose Sprache, sein Mut, Obszönes und Unappetitliches unbeschönigt zu Papier zu bringen, sein sich in den Dunkelgrau-Bereichen der menschlichen Existenz Bewegen. Aber dieses beständige Sich-in-den-Dunkelgrau-Bereichen-Bewegen ließ mich nach diesen drei Büchern auch an meine Sättigungsgrenze geraten. Ich wusste nun – oder glaubte als Student, der noch nicht richtig trocken hinter den Ohren war, zu wissen – was Bukowski mir und der Welt mitteilen wollte: Das Leben ist eines der härtesten, zu ertragen bloß mit Unmengen Alkohol, Verachtung jeglichen Konsums, der über die rein primäre Bedürfnisbefriedigung hinausgeht, und Frauen bumst man, man verliebt sich aber nicht in sie. Botschaft, die ich zwar zu 50 Prozent damals teilte, deren häufige Wiederholung in den drei o.g. Romanen mich jedoch alsbald langweilte. Ich legte Bukowski beiseite, las andere Autoren, verliebte mich ein paar Mal, versuchte eine Zeit lang, ein erfolgreicher und gut verdienender Geschäftsmann zu werden, heiratete, beschäftigte mich mit Ehefrau und Kindern, sorgte mich um die Liquidität auf unserem Bankkonto und die pünktliche Ratenzahlung fürs kleine Haus, das wir uns gekauft hatten, und verlor bei dieser täglichen Ameisentätigkeit den Grantler aus East Hollywood komplett aus den Augen.

Buk hätte dazu gesagt:

Manchmal muss man einfach ins Waschbecken pinkeln.

Die Stripperin, die sich die Mösenhaare weiß färbte

Ich begegnete ihm tatsächlich erst zwanzig Jahre später wieder, als Herbert, von dem Sie – falls Sie die Kolumne bis hierhin aufmerksam gelesen haben – bereits erfuhren, dass er ein Riesen-Fan des sMn größten US-amerikanischen Schriftstellers nach dem Zweiten Weltkrieg war, mit zehn Bukowski-Büchern im Gepäck in der Andernacher Suchtklinik aufschlug. Begleitet von seiner Mutter, was ich damals als etwas unmännlich empfand, denn ein richtiger Kerl wie ich ging mutterselenallein in die Klinik. Wobei ich der Ehrlichkeit halber zugeben muss, dass ich so oft in der Klinik war, dass ich beim besten Willen nicht mehr sagen kann, ob ich tatsächlich jedes Mal solo dort aufkreuzte. Die statistische Wahrscheinlichkeit legt nahe, dass ich bei insgesamt rund dreißig Aufenthalten 3x von irgendjemand dorthin begleitet worden war. Aber das ist an dieser Stelle unwichtig und nur nebenbei erzählt. Zurück zu Bukowski. Herbert, nachdem er sich tränenreich von seiner Mutter getrennt und in einem Dreierzimmer eingecheckt und erstmal seinen Rausch ausgeschlafen hatte, entpuppte sich am darauffolgenden Tag beim Mittagessen als netter und sehr belesener Mensch, mit dem man sich auch mal über was anderes als den Krankenhausfraß, die Tablettenration, die von Abteilung zu Abteilung variierte, was einige Patienten als himmelschreiende Ungerechtigkeit ansahen, und den Knackarsch der jungen Therapeutin unterhalten konnte. Er gab mir einen Band mit Kurzgeschichten und sagte: »Lies die. Die sind zum einen besser als die Romane und zum anderen im Alkoholentzug leichter verdaulich«.

Und ich las so Sachen wie: Knochenarbeit mit einem 45er Colt, Der Tag, als wir über James Thurber sprachen, Irrenhaus in East Hollywood, Der große Kiffer-Schwindel und Eine weißhaarige Fut.

Sie lacht und geht rüber, um das Gift zu mixen. Ich drehe mich um, damit sie’s leichter hat. Sie stellt das Glas vor mich hin.
»Ich mag dich«, sagt sie. »Mit dir fick ich jederzeit nochmal. Für’n alten Mann bringst du ganz gute Tricks auf die Matratze.«
»Danke. Deine weiße Perücke bringt immer das Beste aus mir raus. Ich bin abartig veranlagt. Ich steh auf junge Weiber, die so tun, als wären sie alt. Und auf alte, die so tun, als wären sie jung. Ich steh auf Strumpfhalter, Strapsen, hochhackige Latschen, hauchdünne rosarote Slips, auf das ganze geile Drumherum.«
»Ich hab ne Nummer drauf, wo ich mir die Mösenhaare weiß färbe.«
»Hervorragend.«
»Trink dein Gift.«
»Oh ja, danke.«
»Nichts zu danken.«

Ich trinke den Mickey und lege sie alle rein.
© Eine weißhaarige Fut, in: Schlechte Verlierer

Ist das obszön, ist das trivial, ist das (zu) leicht verdauliche Literatur? Keine Ahnung. Sagen Sie es mir. mMn ist es eine hervorragend dargestellte, leicht ins Groteske gesteigerte, Szene, die in nem abgeranzten Stripschuppen in der Nähe des L.A.-Güterbahnhofs spielt, in dem die Kerle entweder an der Bar über Pferdewetten diskutieren, den Stripperinnen beim Strippen zuschauen und hin und wieder mit ner Stripperin in deren verschimmeltes Zimmer verschwinden. Mehr an Botschaft steckt nicht dahinter? Nein, mehr an Botschaft steckt nicht dahinter. Muss ja nicht hinter jeder Güterbahnhof-Stripschuppen-Barszene immer gleich ne Riesenbotschaft verborgen sein. Mir persönlich reicht mitunter ne Stripperin, die sich die Möse weiß färbt, um mich gut unterhalten zu fühlen.

Großmeister des spontanen Zeilenumbruchs

Die Kurzgeschichten, die mir Herbert in die Hand gedrückt hatte, gefielen mir außerordentlich gut. Binnen eines Tages war ich damit durch und verlangte Nachschub. Nun gab er mir einen Band mit Bukowski-Gedichten: Nicht mit sechzig, Honey – Gedichte vom südlichen Ende der Couch.

Und hier könnten wir nun einen uferlosen literaturtheoretischen Diskurs über das Wesen von Gedichten starten. Ist das, was uns Bukowski als Gedicht kredenzt, überhaupt ein Gedicht im strengen Deutschlehrer-Sinn? Also reimt sich, verfügt über Versmaß und Rhythmus und all solche, aus Sicht von Deutschlehrern essenzielle, Bestandteile, die Lyrik von der Prosa unterscheiden? Vergessen Sie all das, was Sie im Deutschunterricht über Poesie gelernt haben, wenn Sie Bukowski lesen. Bei ihm ähneln die Gedichte eher Kurzgeschichten und Textsplittern, bei denen die einzelnen Sätze mittels unergründlichen Zeilenumbrüchen voneinander getrennt werden. Habe darüber in den vergangenen Jahren endlose und zu keinem Ergebnis führende Diskussionen in diversen Autorenforen geführt. Wer sich streng am Wilhelm-Busch-Versmaß orientiert und alles andere für schlechte Lyrik einschätzt, wird mit Bukowski nicht glücklich werden. Für alle anderen, die es nicht so Wilhelm-Busch-dogmatisch sehen wie ihr Deutschlehrer, hier drei – wiederum zufällig ausgewählte – Gedichte vom Großmeister des Spontanzeilenumbruchs:

DOCH EIN GUTER HAUFEN
Ich höre immer noch von den
alten Hunden: Männer, die
seit Jahrzehnten schreiben
alles Dichter, sie sitzen
weiter an ihren Maschinen
und schreiben
besser denn je
trotz Ehefrauen und Kriegen
und Jobs und allem
was so passiert.
Viele konnte ich als Menschen
oder Künstler nicht leiden
doch ich übersah ihr
Stehvermögen und
ihre Fähigkeit
sich zu verbessern.

Diese alten Hunde
die in verräucherten
Buden hausen und zur
Flasche greifen …

Sie dreschen auf das
Farbband – sie sind da
um zu kämpfen.
© aus: Roter Mercedes, Gedichte 1984-86

EIN GENIE
Heute hab ich im Zug einen
genialen Jungen
kennengelernt.
Er war ungefähr 6 Jahre alt,
saß direkt neben mir,
und als der Zug an der Küste
entlangfuhr
sah man das Meer
und wir schauten beide aus dem
Fenster
und sahen das Meer an
und dann drehte er sich
zu mir um
und sagte,
„Das is nich schön.“

Da ging mir das zum
ersten Mal
auf.
© u.a. in: Charles Bukowski, 439 Gedichte

Bei all seiner vordergründigen Misanthropie, Bärbeißigkeit und offenkundigem Hang zu Alkohol und schnellem Sex hat Bukowski auch wunderschöne Liebesgedichte hinterlassen, von denen ich nun eins im englischen Original vorstellen werde:

FOR JANE
225 days under grass
and you know more than I.
They have long taken your blood,
you are a dry stick in a basket.
Is this how it works?
In this room
the hours of love
still make shadows.

When you left
you took almost
everything.
I kneel in the nights
before tigers
that will not let me be.

What you were
will not happen again.
The tigers have found me
and I do not care.
© in: The days run away like wild horses over the hills

Nach 225 Tagen unter Dauerstrom verlässt sie ihn Hals über Kopf. Und er, alleine zu Hause in der ausgeräumten Wohnung sagt: „In diesem Raum werfen die Stunden unserer Liebe immer noch lange Schatten“: Wow! Prägnanter kann man Schmerz und Leere nicht ausdrücken. „Die Tiger haben mich gefunden, und mir ist es egal.“ Genau so fühlt sich Liebeskummer an, der einer mittelschweren Depression gleicht.

Und damit soll es in dieser Kolumne genug sein mit Passagen aus Romanen & Kurzgeschichten und Bukowski-Gedichten. Was ist mit seinen Briefen, sagen Sie? Er hat doch auch ne Unmenge an Briefen hinterlassen. Ja, hat er, antworte ich. Aber Briefe sind aus meinem Verständnis heraus was Bilaterales und gemäß meiner Erziehung etwas, dessen Inhalt vertraulich ist und außer Sender und Empfänger niemand anderen was angeht. Weshalb ich fremder Leute Briefe weder lese, noch aus ihnen hier zitieren will.

Der Misanthrop aus East Hollywood  war zeitlebens ein Liebender

Ich möchte die Stories und Gedichte auch nicht langatmig interpretieren oder gar totanalysieren, sondern einzig auf mich und Sie wirken lassen. Wer noch über einen letzten Rest Empathie verfügt, spürt, dass sich hinter dem ganzen Dreck, dem Suff, dem häufig miesen Lyrischen Ich ein hochsensibler Mann verbirgt, der zeitlebens auf der verzweifelten Suche nach Nähe war. Ein kalifornischer Steppenwolf. Ein LIEBENDER! Es ging ihm niemals darum, sich in billigen Absteigen von fetten Nutten das Gehirn aus dem Schädel vögeln zu lassen; er will uns mit diesen grellen Bildern bloß das Dasein mit all seiner Härte aufzeigen. Niemand beschreibt den tristen Alltag der Menschen und ihre widersprüchlichen Gefühlslagen so exakt wie der misanthrope Schriftsteller aus East Hollywood. Wenn ihn die Traurigkeit ergriff – und die hätte ihn heute bei all den Trumps, Johnsons, Le Pens, Salvinis und Gaulands ganz sicher oft gepackt –, zog er sich in sein kleines Arbeitszimmer zurück und dichtete die Nächte durch. Von ihm stammt das Bonmot:

Das Leben ist eine Illusion, hervorgerufen durch Alkoholmangel.

Wobei dieses Zitat mittlerweile inflationär von Leuten verwendet wird, die den monatlichen Absacker mit den Kollegen aus der Buchhaltungsabteilung bei der Happy Hour in der Eckkneipe bereits als eine wilde Alkoholsause à la Barfly einstufen, bevor sie sich am Morgen danach erst zu Hause die Seele aus dem Leib kotzen, und danach ab 9h wieder brav vor ihren Bildschirm setzen, wo sie mit schmerzendem Schädel Zahlenreihen im Akkord eintippen und miteinander abgleichen. Bis zur nächsten Happy-Hour-Alkoholsause mit den Kollegen im kommenden Monat. Aber dafür kann Bukowski ja nichts.

Besser gefällt mir dieser Spruch hier:

Ich mag Hunde lieber als Menschen. Und Katzen lieber als Hunde. Und mich, besoffen in meiner Unterwäsche aus dem Fenster schauend, am liebsten von allen.

Mein Ehrgeiz wird ständig durch meine Faulheit behindert

Bukowskis Werk ist rein mengenmäßig betrachtet enorm. Alle Seiten ausgedruckt und übereinander gelegt erhielte man vermutlich einen Stapel in der Größenordnung des Kölner Fernsehturms. Sie kennen den Kölner Fernsehturm nicht? Ist völlig okay. Lohnt auf jeden Fall nicht, nur für diesen architektonisch belanglosen Fernsehturm nach Köln zu fahren. Hoch ist er übrigens 266 Meter.

Solch ein Output ist schon erstaunlich für einen Mann, der einst sagte:

My ambition is handicapped by my laziness.

Ich behaupte, dass ICH, was tägliches Schreiben anbelangt, SEHR viel fauler bin als Bukowski. Schon das Tippen dieser mittlerweile 3000 Wörter langen Kolumne bereitet mir so langsam schlechte Laune. Mehr als zwei Stunden sitze ich nicht gerne an einem Text. Aber wie viele Stunden, Nächte – und das über Jahrzehnte hinweg – muss Bukowski vor seiner Schreibmaschine verbracht haben? Zum einen der kreative Schaffensakt, zum anderen die Korrekturen am Morgen darauf. Und das immer mit 2 bis 3 Promille in der Blutbahn? Ich kann das nicht so richtig glauben. Wenn man säuft, dann säuft man. Wenn man säuft und dabei noch was schreibt, dann schreibt man erfahrungsgemäß nicht allzu viel. Ne Seite max. Und diese Seite ist am Morgen darauf oft so fehlerbehaftet bis hin zu unverständlich, dass man sie in 95 Prozent der Fälle in die Mülltonne schmeißt, statt sie mühsam zu korrigieren. Soll heißen: kreativ sein unter Alkoholeinfluss ist möglich, der Output dürfte jedoch bei täglicher Zufuhr eher nach unten gehen und nicht ansteigen. Was mich vermuten lässt, dass Bukowski zwar trinken konnte wie Spencer Tracey und Harald Juhnke, wenn die zusammen Party feierten, allerdings zwischendurch auch längere trockene Perioden kannte, in denen er seine Stories produzierte. Gibt auch böse Zungen, die behaupten, dass er die Trunkenheit bei Lesungen nur spielte, in der Whiskeyflasche vor ihm gar kein Whiskey, sondern Kamillentee drin war. Ob das stimmt? Keine Ahnung. Ich war zu jung, um Bukowski-Lesungen zu besuchen, und den Trick mit dem Kamillentee hätte ich vor vierzig Jahren eh noch nicht gekannt. Die letzten Jahre seines Lebens war Bukowski abstinent. Ein Umstand, der in seiner Rezeption erstaunlicherweise wenig Beachtung findet.

Alter-Sack-Geschichten für Alte-Sack-Leser?

Bukowski mag man entweder und erkennt in seinen Geschichten den fortwährenden Stachel im Arsch der amerikanischen Gesellschaft, oder man hält ihn für einen Trivialautor. Etwas dazwischen ist aus meiner Beobachtung heraus nicht möglich. Wobei es vielleicht auch irgendwas dazwischen gibt. Keine Ahnung.

Kann durchaus sein, dass Bukowski Alter-Sack-Autor-Geschichten für Alte-Sack-Leser geschrieben hat. Kann ich als Alter-Sack-Leser nicht beurteilen. Vielleicht gibt’s aber auch junge Säcke und Frauen und Transen, die seine Stories lieben. Ihm wär‘s wahrscheinlich egal gewesen, wie sich seine Zielgruppe altersmäßig und geschlechterseitig zusammensetzt. In seiner frühen Phase hätte er sich vor allem dafür interessiert, von seinem Agenten nen schnellen Hunderter für eine Geschichte zu bekommen und später wollte er vor allem seine Ruhe haben.

Ich lese 2 oder 3, max. 5 Stories von ihm, klappe das Buch zu, lese einen Monat später wieder ein paar Geschichten. Bei den Gedichten schaffe ich mehr am Stück, aber auch bei denen ist mein Tagesquantum irgendwann erreicht. Von den Romanen – Ausnahme sein Erstling (Der) Mann mit der Ledertasche lasse ich die Finger weg. Die sind nicht so meins. Zu viel Text für unterm Strich zu wenig Handlung. Aber das ist natürlich alles individuelle Geschmackssache.

Und damit möchte ich nach knapp 4000(!!) Wörtern zum Ende dieser Kolumne kommen. Bukowski ist für mich der wahrhaftigste und unprätentiöseste Erzähler banaler und häufig ordinärer Alltagsgeschichten, den ich kenne. An ihn heran reicht noch Carver, aber danach kommt lange nichts.

Happy birthday, Mr. Bukowski!

Habe die Story mit der Stripperin, die sich die Möse weiß färbt, heute wieder mit Vergnügen gelesen. Und aufs Vergnügen kommt es ja beim Lesen auch an, oder?

PS. Die organisierte deutsche Fan-Dependance, die sich den schönen Namen Charles-Bukowski-Gesellschaft gegeben hat, plante ursprünglich für das Jubiläumsjahr eine Menge Lesungen kreuz und quer über die Republik verstreut und Gastauftritte von noch lebenden Wegbegleitern des großen Dirty old man der US-Literatur. Diese fielen nun Corona-bedingt allesamt ins Wasser, sollen aber 2021 nachgeholt werden unter dem Motto: Bukowski wird 100+1 — Wir feiern!

Henning Hirsch

Betriebswirt und Politologe, Comicleser, Filmjunkie, Bukowski- und FC- (es gibt nur einen FC: nämlich den aus Köln) Fan, trockener Alkoholiker. In die Abstinenz startete er mit einem Roman: Saufdruck. Seitdem tippt er abends Kurzgeschichten und Gedichte. Da die Schreiberei alleine nicht satt macht, verdient er tagsüber seine Kaltmiete und die Kühlschrankfüllung mit Marketing & Orga. Henning Hirsch lebt im Bonner Süden und ist Vater von drei Kindern ... Wer mehr von ihm lesen möchte: www.saufdruck.de

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