Demonstration ist Ruhestörung
Auch in unruhigen Zeiten werden Demonstranten als Ruhestörer empfunden. Und die Anderen demonstrieren sowieso immer für das Falsche.
Selbst in unruhigen Zeiten ist jede Demonstration eine Ruhestörung. Deshalb ist es selbstverständlich, dass diejenigen, die gestört werden, die Demonstration für entbehrlich halten. Man hofft gerade, dass die Regierung uns ruhig und entschlossen durch die Krise bringt und ist selbst bereit, Ruhe zu bewahren, da gehen Leute auf die Straße, denen die Ruhe unheimlich ist und die lautstark gegen das verordnete Stillhalten protestieren.
Gegen jede Demonstration regt sich Widerstand, eine Demonstration, die keine Ablehnung hervorrufen würde, wäre vermutlich wirklich absurd. Durch die bloße Tatsache, dass eine Demonstration stattfindet, wird eine Kluft in der Gesellschaft sichtbar, sie teilt die Menschen in diejenigen, die es für notwendig halten laut auf die Straße zu gehen, den gewohnten Ablauf zu stören, Forderungen herauszurufen, und die, die meinen, die Dinge ließen sich auch ohne Demo regeln.
Die Leute, die zur Demo gehen, eint für gewöhnlich nicht mehr als die Überzeugung, dass zu einer Frage demonstriert werden muss. Die Dinge laufen falsch, die Verfahren, welche für die Problemlösung eigentlich vorgesehen sind, so die Überzeugung der Demonstranten, funktionieren nicht mehr oder es gibt wenigstens die Gefahr, dass sie nicht zu akzeptablen Ergebnissen führen. Wieviel Übereinstimmung es mit anderen Demonstranten gibt, zeigt sich erst auf der Straße, wenn Transparente entrollt und Reden gehalten werden.
Demonstrationen sind keine Kundgebungen, was hier demonstriert wird, ist keine Einhelligkeit und kein gemeinsamer Wille. Demonstranten müssen in nichts anderem übereinstimmen als im Willen zur Demonstration, im Unbehagen über die Situation, wie sie ist. Diejenigen, die die Demonstration für überflüssig halten, meinen oft, dass jeder Demonstrant sich mit allem identifizieren müsse, was auf der Demo gesagt und gefordert wird. Das ist aber keineswegs der Fall. Demonstrationen können auch zur öffentlichen Aushandlung beitragen, weil dort die verschiedenen Formen der Unzufriedenheit erst einmal zur Sprache kommen. Wenn ich auf der Demonstration bemerke, dass ich nicht allem zustimme, was da geäußert wird, habe ich ja verschiedene Möglichkeiten der Reaktion: Ich kann weggehen, ich kann aber auch versuchen, die Stimmung des Protestes in meinem Sinne zu beeinflussen. Wer weggeht, überlässt den Protest anderen, vielleicht den falschen. Wer bleibt, hat eine Chance, den Verlauf zu beeinflussen – er kann dabei natürlich auch scheitern. Mitzudemonstrieren ist immer ein Wagnis, was wirklich dabei herauskommt, ist nicht vorhersehbar, wer am Schluss die Deutungsmacht hat, weiß man während der Demo noch nicht.
Die Gegner jeder Demonstration haben zwei Optionen, den Protest zu diskreditieren und zu stören. Die erste ist die Forderung nach klaren Forderungen, nach rationalen Gründen und konstruktiven Vorschlägen. Das verkennt, nachsichtig ausgedrückt, aber den Sinn einer Demonstration. Diese verweigert sich gerade der herrschenden Rationalität derer, die die Demonstration für überflüssig halten. Was die Demonstranten wissen, ist, dass sie unzufrieden sind, dass die Dinge falsch laufen. Das Recht, dies zu äußern, haben sie auch ohne Angabe von rationalen Begründungen. Was die Demo zeigen soll ist: „Wir sind nicht einverstanden, wir sind dagegen“ – wofür man dann ist, ist vielleicht Gegenstand weiterer Aushandlungen, wenn der Protest erst einmal zur Kenntnis genommen ist.
Die zweite Option, eine Demo zu diskreditieren, ist die Forderung nach Distanzierung. Es ist fast sicher, dass in jeder Demonstration Leute dabei sind, die radikal gegen die ganze bestehende Gesellschaft sind. Es ist auch klar, dass die radikalen Forderungen am lautesten geäußert werden und dass über sie am meisten berichtet wird. Man kann immer fordern, dass sich die gemäßigten Demonstranten von den Radikalen zuerst distanzieren müssen, damit verlagert man die Debatte weg von den Forderungen der Demonstranten – plötzlich sollen die Protestierenden nicht mehr sagen, was sie wollen, man interessiert sich nicht mehr für ihr Unbehagen, sie sollen statt dessen zu anderen Demonstranten Stellung beziehen. Diese Strategie zielt letztlich darauf, den moderaten Protest unsichtbar zu machen – die Protestierenden sollen sich in möglichst kleinen Gruppen zusammentun, damit sie ja nicht Gefahr laufen, sich von jemandem distanzieren zu müssen.
Die Logik der Berichterstattung verstärkt diesen Druck. Wenn auf einer Demo gegen Lockdown-Maßnahmen ein Mann in „Häftlingskleidung“ steht, der ein Schild „Maske macht frei“ hochhält, kann kaum ein Fotograf widerstehen. Man hätte das Gefühl, etwas zu verheimlichen, wenn man diesen Demonstranten nicht fotografierte, wenn man dieses Bild nicht in die Zeitung brächte. Wenn ein Prozent von 1000 Demonstrierenden solche Motive bieten, entstehen 10 Fotos – und diese Fotos gehen viral. Von diesen Leuten soll sich der moderate Demonstrant dann „distanzieren“.
Wer zur Demo geht, hat zumeist noch Hoffnung, dass sich die Dinge noch beeinflussen lassen. Wer das nicht glaubt oder will, wirft Steine, zündet Autos an oder wird zum Terroristen. Demonstranten sind zunächst Reformer, keine Revolutionäre. Diskreditierung des Protestes macht aber Reformer zu Revolutionären. Die einen geben auf, die anderen radikalisieren sich. Beides trägt nicht zum Frieden in der Gesellschaft bei. Eine Alternative wäre, die innere Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit einer Protestbewegung als selbstverständlich zu akzeptieren und in den Meinungsstreit mit denen einzutreten, die nichts umstürzen wollen, sondern ernst genommen werden wollen. In jeder schwierigen gesellschaftlichen Situation, sei sie durch soziale Konflikte, durch den Klimawandel oder durch eine Virus-Pandemie bestimmt, kommt es darauf an, den inneren Frieden zu sichern, egal, ob man die Ziele der anderen für vernünftig und ihre Ängste und Sorgen für angebracht hält, oder nicht.
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