Über die Feindbilder der Nationalsozialisten

Eine Replik auf den Artikel von Susan Neiman in der ZEIT vom 5. März 2020


Die amerikanische Philosophin Susan Neiman veröffentlichte in der „ZEIT“ vom 5. März 2020 einen Artikel, in dem sie sich lobend über die deutsche „Vergangenheitsbewältigung“ äußert und diese als Vorbild für diejenigen Länder hervorhebt, die nicht imstande waren, die dunklen Seiten ihrer jeweiligen Vergangenheit so erfolgreich aufzuarbeiten. Neben manchen aufschlussreichen Passagen enthält der Artikel von Frau Neiman allerdings auch einige strittige Thesen. Mit einer davon möchte ich mich hier beschäftigen.

Antisemitismus oder Antikommunismus?

Susan Neiman vertritt in ihrem Artikel die Meinung, dass der Nationalsozialismus zwei gleichwertige Feindbilder besaß: den Kommunismus und das Judentum. Sie schreibt: „Als Herzstück des Nazi-Gedankenguts war der Antikommunismus mindestens so zentral wie der Antisemitismus“.

Bei dieser Analogie lässt die Autorin es außer Acht, dass die Judenfeindschaft in der Hitlerschen Weltanschauung eine Sonderrolle spielte und sich mit keinem anderen nationalsozialistischen Feindbild gleichsetzen ließ. So war Hitler immer wieder imstande, seine Ressentiments einzudämmen, wenn es ihm aus taktischen Gründen opportun zu sein schien. Dies betraf z.B. seine Einstellung zu den westlichen Siegermächten zur Zeit der westlichen Appeasementpolitik (1934-38), zu  Polen während der polnisch-deutschen Annäherung nach der Unterzeichnung des Nichtangriffsabkommens vom Januar 1934 (1934-1938) oder zu Moskau nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939, wovon später noch die Rede sein wird. Derartige Phasen von Entspannung fanden in der Hitlerschen Judenpolitik eigentlich nicht statt.

Der Münchner Historiker Martin Broszat vertrat die Meinung: Hitler sei im Grunde Opportunist und Nihilist gewesen. Der Judenhass sei vielleicht seine einzige feste Überzeugung gewesen.

Die Monomanie Hitlers wird durch diese Aussage eindeutig unterschätzt. Hitler hat den Antisemitismus zu einem allesumgreifenden Welterklärungsmodell erhoben, der alle anderen weltanschaulichen Systeme relativierte. Deshalb fiel es ihm leicht, alle anderen Ideen und Ideologien opportunistisch zu missbrauchen.

Hitlers antikommunistische Karte

Da Frau Neiman in ihrem Artikel dem nationalsozialistischen Antikommunismus viel Aufmerksamkeit widmet, möchte ich nun etwas genauer auf die Frage eingehen, welche Rolle die sogenannte „bolschewistische Gefahr“ in der Hitlerschen Politik spielte.

Als geschickter Machtpolitiker war sich Hitler wohl darüber im Klaren, dass die in Deutschland weitgehend isolierte KPD so gut wie keine Chance hatte, einen Umsturz nach dem bolschewistischen Muster von 1917 durchzuführen. Allerdings stellte die Angst des konservativen Establishments der Weimarer Republik vor einem solchen Umsturz einen äußerst wichtigen Faktor im machtpolitischen Kalkül Hitlers dar. Deshalb malte er immer wieder die Gefahr einer kommunistischen Machtübernahme an die Wand, wie er dies z. B. im Januar 1932 vor dem Industrieklub in Düsseldorf tat, als er sagte:

„Wenn wir nicht wären, gäbe es schon heute in Deutschland kein Bürgertum mehr. Die Frage: Bolschewismus oder nicht Bolschewismus wäre schon längst entschieden“.

An dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass manche Beobachter der damaligen Ereignisse die tatsächliche Bedeutung der antikommunistischen Tiraden Hitlers durchaus realistisch einzuordnen vermochten. So schrieb z. B. Theodor Heuss in seinem 1932 erschienenen Buch „Hitlers Weg“ Folgendes: Das Anwachsen der KPD sei der NSDAP willkommen, und zwar deshalb weil die Nationalsozialisten die Angst breiter Bevölkerungsschichten brauchten. Sie schilderten sich selbst als die einzigen Verteidiger der bürgerlichen Kultur gegenüber dem Marxismus.

Ein konservativer Kritiker Hitlers, Hermann Rauschning, schrieb 1938 Folgendes in diesem Zusammenhang:

„Kein Schicksal ist dem Deutschen Reich 1932/33 ferner gewesen als eine bolschewistische Revolution, ja auch nur eine politische Revolte von links! Gerade die Kreise, die heute die Legende von dem unmittelbar bevorstehenden bolschewistischen Umsturz verbreiten, wissen es am besten …, dass in Deutschland ein Putsch nur mit der legalen Macht als Rückhalt im Hintergrund möglich war“.

Nach seiner Machtübernahme übertrug Hitler manche taktischen Vorgehensweisen, die bereits bei seinem Machtkampf in der Weimarer Republik äußerst wirksam gewesen waren, auch auf die internationale Ebene. Die Angst der Westeuropäer vor der kommunistischen Gefahr erwies ihm ebenso unschätzbare Dienste, wie seinerzeit die Angst der deutschen Konservativen vor dem Bolschewismus. Hitler stilisierte das Dritte Reich zu einer Art Beschützer der europäischen Zivilisation vor der angeblichen Gefahr, die aus dem Osten kam. Diese Rhetorik Hitlers wurde von seinem Kritiker aus dem Lager der konservativen Revolution, Ernst Niekisch, 1936 folgendermaßen kommentiert: „Hitlers Instinkt fand heraus, dass die Sozialangst des europäischen Bürgers der schwache Punkt der politischen Machtordnung Europas war; hier setzte er an, von hier aus kam das ganze Gebäude ins Wanken“.

Die westliche Beschwichtigungspolitik Hitler gegenüber, die es ihm innerhalb von etwa fünf Jahren ermöglichte, beinahe alle politischen, wirtschaftlichen und militärischen Restriktionen des Versailler Vertrages abzuschütteln, war nicht zuletzt auf die von Niekisch beschriebene „Sozialangst des europäischen Bürgers“ zurückzuführen.

Da Hitler etwa bis 1938 den Kommunismus unentwegt dämonisierte und ihn oft mit dem Judentum gleichsetzte, hätte man damals durchaus der Meinung sein können, dass „der Antikommunismus für Hitler mindestens so zentral war wie der Antisemitismus“, wie Susan Neiman dies formuliert. Im  August 1939 fand aber zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit ein Paradigmenwechsel in der nationalsozialistischen Außenpolitik statt, den viele Beobachter bis dahin für undenkbar gehalten hatten – die Abkehr Hitlers von seinem bis dahin kompromisslosen antikommunistischen Kurs, die sich in dem damals unterzeichneten Nichtangriffspakt mit der UdSSR widerspiegelte. Die unversöhnlichen ideologischen Feinde hatten ihre bis dahin als unüberbrückbar geltenden Gegensätze, zumindest vorübergehend, überwunden und schienen sogar eine Art Verbündete zu werden. Die antibolschewistische Propaganda im Dritten Reich und die antifaschistische in der Sowjetunion wurden nach der Unterzeichnung des Paktes weitgehend eingestellt. „Heute haben wir aufgehört Feinde zu sein“, erklärte der sowjetische Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheit Wjatscheslaw Molotow, am 31. August 1939 in seiner Rede vor dem Obersten Sowjet. Und am 31. Oktober 1939 fügte er hinzu: Die Westmächte führten nun einen ideologischen Krieg gegen Deutschland. Dadurch kehrten sie ins Stadium der mittelalterlichen Religionskriege zurück. Eine Ideologie könne aber nicht mit Gewalt vernichtet werden, weshalb ein Krieg gegen den „Hitlerismus“ jeder Rechtfertigung entbehre.

„Wir können mit dieser Rede (Molotows) zufrieden sein“, kommentierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch am 2. November 1939 Molotows Ausführungen.

All das zeigte, dass es sich bei dem Hitlerschen Antikommunismus keineswegs um eine durch nichts beherrschbare Obsession handelte. Er war durchaus imstande, seine antibolschewistischen Ressentiments einzudämmen, wenn dies machtpolitisch erforderlich war.

Die Auflehnung gegen die Ethik des Alten und des Neuen Testaments

Nichts dergleichen lässt sich aber in Bezug auf die Hitlersche Judenpolitik beobachten. Die nationalsozialistische Judenverfolgung hat sich unentwegt radikalisiert. Gerade in der Zeit der deutsch-sowjetischen Entspannung nach 1939 erreichte die Dämonisierung der Juden ihren neuen Höhepunkt. Versinnbildlicht wurde dieser Vorgang z.B. durch den 1940 gedrehten Film von Veit Harlan „Jud Süß“.

Frank-Lothar Kroll, der das Geschichtsbild Hitlers untersuchte, schreibt von seinem „Endzeit“-Denken, von seiner Vorstellung, den Endkampf zwischen der arischen und der jüdischen Rasse bis zum bitteren Ende durchführen zu müssen:

„So oder so war damit ein definitiver Abschluss der bisherigen Geschichte erreicht, der sich freilich nicht als vage Möglichkeit in nebulöser Zukunftsferne präsentierte. Abschluss und Ende standen vielmehr unmittelbar bevor und waren auf jeden Fall noch zu Hitlers Lebzeiten einzulösen“.

Welche Ziele sollte diese wohl nie dagewesene Revolution erreichen? Nicht zuletzt die Abschüttelung der mit dem Alten und dem Neuen Testament verbundenen ethischen Begriffe. Der Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn vertritt in diesem Zusammenhang die Meinung, dass die Verfolgung der Juden für Hitler nicht zuletzt folgenden Zweck gehabt habe:

„mit den Juden auch die Ethik des Judentums, insbesondere die Idee eines universalen Rechts auf Leben, aus der Welt zu schaffen, … (ein) Moralverständnis, das dem Daseinskampf insbesondere der starken Völker Fesseln anlegt, ihnen Gewissensbisse bereitet und damit deren Lebensenergien zum Versiegen bringt“.

Hitler selbst hat immer wieder betont, dass der Sieg der von ihm angestrebten „neuen Ordnung“, also einer gegen die bestehende Moral gerichteten Revolution, ohne die Beseitigung der Juden nicht möglich sei. Er warf den Juden immer wieder vor, sie hätten die „(natürliche Ordnung, in der) die Nationen sich so ineinander fügen, dass die Befähigteren führen“, zerstört. Was Hitler den Juden besonders übel nahm, war die Tatsache, dass sie an „das angeschlagene Gewissen unserer Mitwelt“ appellierten. Hitlers Ziel war also die Wiedereinführung einer „natürlichen Ordnung“, in der das „angeschlagene Gewissen“ keine Rolle mehr spielen sollte.

Für Hannah Arendt war dies eine Welt, die bewies, dass es ein „radikal Böses wirklich gibt“.

Hitlers „weltanschaulicher Vernichtungskrieg“ gegen die UdSSR und die zusätzliche Radikalisierung der nationalsozialistischen Judenpolitik

Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 knüpfte Hitler erneut an seine im Jahre 1939 unterbrochene Dämonisierung des Bolschewismus an. Der Kampf gegen die Sowjetunion, der  von ihm bewusst als eine Art „weltanschaulicher Vernichtungskrieg“ konzipiert wurde, wurde  durch eine Reihe von Befehlen und Erlassen  vorbereitet, wobei zu den berüchtigtsten von ihnen die „Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare“ vom 6. Juni 1941 zählten. In den ersten Wochen des deutsch-sowjetischen Krieges fielen Tausende von sowjetischen Politoffizieren dem Kommissarbefehl zum Opfer. Sie wurden von den übrigen Kriegsgefangenen abgesondert und erschossen. Tragisch war allerdings nicht nur das Schicksal der gefangenen Politfunktionäre, sondern auch der einfachen Rotarmisten. Etwa 60% der im Verlaufe des Jahres 1941 gefangenen sowjetischen Soldaten (also ca. 2 Millionen Menschen) waren am 1. Februar 1942 nicht mehr am Leben. Sie waren verhungert oder vom Fleckfieber dahingerafft. Der Potsdamer Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller schreibt dazu:

„Die Mehrheit von über 3 Millionen Kriegsgefangenen erhielt keine Chance zum Überleben. Den starken Anstieg an Sterblichkeit … allein auf kriegsbedingte Ursachen zurückzuführen, wäre verfehlt… Als ursächlich ist vielmehr das Bestreben der Wirtschaftsführung zu sehen, für die Kriegsgefangenen ebenso wie für die sowjetische Stadtbevölkerung möglichst wenig Nahrungsmittel einzusetzen“.

Hitler hob immer wieder hervor, dass der Krieg gegen die Sowjetunion sich von den Kriegen, die der NS-Staat im Westen geführt habe, qualitativ unterscheiden müsse: „Wir führen nicht Krieg, um den Feind zu konservieren“, betonte er am 30. März 1941  in seiner Ansprache an zahlreiche Vertreter der deutschen Militärführung:  „Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft“.

Diese Worte Hitlers stellten eine Art Anleitung zum Handeln dar und wurden von vielen Generälen der Wehrmacht nach Kriegsbeginn in die Wirklichkeit umgesetzt. So rief der Befehlshaber der Panzergruppe 4, Generaloberst Erich Hoepner, in seinem Tagesbefehl anlässlich des Angriffs auf die UdSSR seine Soldaten zum Kampf der „Germanen gegen das bolschewistische Slawentum“ auf, „um unser deutsches Volk und unsere Nachkommen zu erhalten“ (Hoepner gehörte übrigens später zu den führenden Vertretern des militärischen Widerstandes gegen Hitler und wurde am 8.8. 1944 hingerichtet). Der Oberbefehlshaber der 17. Armee Hermann Hoth fügte hinzu, dass „Mitleid und Weichheit gegenüber der Bevölkerung … völlig fehl am Platz“ seien.

Recht schnell machte sich allerdings in einigen Kreisen der deutschen Militärführung ein Umdenkungsprozess bemerkbar. In seinem im Jahre 2005 erschienenen Beitrag über das Bolschewismusbild der Reichswehr und der Wehrmacht schreibt der Freiburger Osteuropahistoriker Jochen Janssen:

„1941 war kaum ein Unterschied gemacht worden zwischen den „Bolschewistenhorden“ und den einfachen Bewohnern des Landes… Nach dem Scheitern der „Blitzkrieg-Strategie“ war sich das Oberkommando der Wehrmacht darüber im Klaren, dass die zahlreichen Übergriffe deutscher Soldaten gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung sowie häufige Grausamkeiten bei der Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener den Widerstandwillen der Bevölkerung in den besetzten Gebieten  stärken mussten und auf diese Weise eine erfolgreiche deutsche Kriegsführung erheblich beeinträchtigten“.

Aus  pragmatischen Gründen begannen nun manche Vertreter des militärischen, aber auch des politischen Establishments im NS-Staat für eine etwas mildere Behandlung der Bevölkerung in den besetzten sowjetischen Gebieten zu plädieren und setzten sich unentwegt mit den Verfechtern der intransigenten rassischen Orientierung auseinander.

Vergleichbare Auseinandersetzungen in Bezug auf die Einstellung zur jüdischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten fanden demgegenüber kaum bzw. nur sporadisch statt. Die nationalsozialistische Judenpolitik radikalisierte sich nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges noch zusätzlich. Unmittelbar nach Kriegsbeginn am 22. Juni 1941 begannen die massenhaften Erschießungen der Juden durch die Einsatzgruppen des Sicherheitsdienstes und der Sicherheitspolizei. Der massenhaften Ermordung der jüdischen Männer in den besetzten Gebieten folgte etwa acht Wochen nach Kriegsbeginn die Ausdehnung dieser Vernichtungsaktionen auf die gesamte jüdische Bevölkerung, also auch auf Frauen und Kinder. Als Vertreter verschiedener Behörden des NS-Staates bei ihrer Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 die „Endlösung (der Judenfrage)“ beschlossen, war dieser Vorgang in den besetzten sowjetischen Gebieten, aber auch im besetzten Polen bereits in vollem Gange. Der Münchner Militärhistoriker Johannes Hürter schreibt, dass es in der Wehrmacht durchaus Offiziere gab, die diese Morde mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten und dagegen gelegentlich protestierten. Diese Proteste seien aber weitgehend wirkungslos geblieben. Was die Mehrheit der Militärführer anbetrifft, so hätten sie „auf den Beginn des systematischen Völkermords in ihrem (jeweiligen) Befehlsbereich (bestenfalls defensiv, hilflos und resignativ reagiert)“. Nicht wenige von ihnen haben sich darüber hinaus in ihrer Diktion an das nationalsozialistische Vokabular angepasst. Dies betrifft z.B. den Oberbefehlshaber der 6. Armee, Generalfeldmarschall Walter von Reichenau, der in seinem berüchtigten Befehl vom 10. Oktober 1941 sagte: „Der Soldat ist im Ostraum… ein Träger einer unerbittlichen völkischen Idee… Deshalb muss der Soldat für die Notwendigkeit der harten aber gerechten Sühne am jüdische Untermenschentum volles Verständnis haben“.

Hürter weist darauf hin, dass Hitler den „Reichenau-Befehl“ als „ausgezeichnet“ bezeichnete und ihn als „Musterbefehl an die höchste Truppenführung des Ostheeres schicken ließ“.

Hürters Fazit: „Ohne die tatkräftige Mithilfe der Wehrmacht …hätte das große Judenmorden in der besetzten Sowjetunion nicht so schnell und wirkungsvoll durchgeführt werden können“.

Abschließend noch einige Worte zur Einstellung der deutschen Diplomaten im Dritten Reich zu all diesen Entwicklungen. Besonders ausführlich befassten sich mit dieser Frage die Autoren des 2010 erschienenen umfangreichen Werks „Das Amt und die Vergangenheit“. Die Verfasser zitieren ausführlich kritische Stellungnahmen der Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Wehrmacht, vor allem beim Ostheer. Hier wird die brutale Behandlung der sowjetischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten scharf angeprangert. Dadurch werde jeder Versuch, diese Bevölkerung für die politischen Ziele des Dritten Reiches zu gewinnen, zunichte gemacht, so die zitierten Diplomaten. Nichts dergleichen lässt sich aber in Bezug auf die Ermordung der Juden in den besetzten sowjetischen Gebieten sagen, obwohl viele Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes darüber gut informiert waren. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der Bericht des Diplomaten Otto von Hentig, der im Sommer 1942 „die Ermordung Hunderttausender Juden im Einsatzgebiet“ kritisierte. Die Autoren des Buches heben aber ausdrücklich hervor, dass es sich bei dem Hentig-Bericht um eine Ausnahme handelte.

Der besondere Charakter der jüdischen Tragödie in den besetzten Gebieten der UdSSR wie auch im gesamten von den Nationalsozialisten beherrschten Teil Europas zeigt, ähnlich übrigens wie die bereits geschilderte deutsch-sowjetische Entspannung in den Jahren 1939-1941, dass in der Hierarchie der Feindbilder der Nationalsozialisten der Antisemitismus keineswegs mit dem Antikommunismus auf die gleiche Stufe gestellt werden kann, wie Susan Neiman dies in ihrem „ZEIT“-Artikel tut. Die Judenfeindschaft stellte, wie bereits gesagt, wohl das Hauptmotiv im Handeln Hitlers während seiner gesamten politischen Laufbahn dar und war das zentrale Element seiner Weltanschauung. Dies spiegelte sich auch in seinem „Testament“ wider, das er am 29. April 1945 – kurz vor seinem Selbstmord – verfasste: „Der eigentlich Schuldige an diesem mörderischen Ringen ist: das Judentum“, so Hitler. Danach verpflichtete er die Führung der Nation „zur peinlichen Einhaltung der Rassegesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen … das internationale Judentum“.

Lesen Sie zu diesem Thema auch den Artikel von Jörg Phil Friedrich in seiner Reflexe-Kolumne im Hohe-Luft-Magazin.

Leonid Luks

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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