Der Schattenboxer

Ein Lou Reed-Porträt von Ulf Kubanke


Foto: „New York“ Cover-Artwork by Sire-Records/Warner

 

Die Musikwelt anno 1967: Es herrscht der Summer of Love. Die Hippiekultur steht im Zenith. Grace Slick verkündet freie Liebe und erfindet als Jefferson Airplane zusammen mit Cream, Pink Floyd und Co den Psychedelic Rock. Cat Stevens gibt mit niedlich-naiven Liedern den sanften Plüschfolkie. Die Beatles räumen mit dem farbenfrohen Pop ihres „Sgt. Pepper“ ab. Überall nur Flowerpower! Überall? Ein paar griesgrämige New Yorker aus Andy Warhols Dunstkreis namens The Velvet Underground machen nicht mit. Dem Straßenfest des „California Dreaming“ unter Palmen setzt ihre Musik den Bronx-Drogenstrich entgegen und dokumentiert in schonungslosen Zeilen Junkietum, Sadomasosex, Nihilismus und Gewalt. Ein Song wie „Heroin“ hat durch seine fatalistische Schilderung der Sucht noch heute etwas verstörendes. In einer Gesellschaft, die sich damals noch nicht einmal vom vergleichsweise harmlosen Rock’n-Roll Marke Elvis Presley erholt hatte, waren VU mithin der kulturelle Super-GAU. Ihr Vordenker und Hauptsongwriter, Lou Reed, erleidet in jenem Zeitgeist mit „The Velvet Underground & Nico“ und „White Light, White Heat“ zwar kommerziellen Schiffbruch, erschafft gleichwohl zwei der wichtigsten Rockalben aller Zeiten, ohne die es weder Indiemusik, noch Metal, Gothic, Punk oder Noiserock in ihrer heutigen Form geben würde.

 

Dieses ebenso kurzlebige wie legendäre Kapitel der Velvets samt ihres schwierigen, von Hassliebe geprägten Beziehungsdreiecks Lou Reed, John Cale und Nico böte Stoff, eine komplette Zeitung zu füllen. Darüber gerät mitunter ein wenig in Vergessenheit, wie bedeutend und interessant Reeds Solokarriere verlief. Hier eröffnet sich jedem interessierten ein eigenständiger Mikrokosmos großartiger Kunst. Wie ein roter Faden zieht sich folgender Aspekt durch sein Oeuvre: Die Humanisierung der Verrdammten, Verachteten und Verfemten in einer brutalisierten Welt und korrupten Gesellschaftsordnung. Mit dem eigenen Land, dessen Misständen und doppelmoralischer Heuchelei geht er dabei entsprechend hart ins Gericht. „Gebt mir eure Hungrigen, eure Müden, eure Armen; ich werde auf sie pissen. Das ist es, was die Statue der Bigotterie sagt.“ Von ungefähr kommt dieser Zorn nicht. Bereits als Teenager zerstörte die eigene Famile sein Urvertrauen, indem sie den eigenen Sohn wegen Aufsässigkeit und befürchteter Homosexualität in eine psychiatrische Klinik zwangseinwies und dort qualvollen Elektroschockbehandlungen aussetzte. Mit dem Song „Kill Your Sons“ (auf „Sally Can’t Dance“ 1974) thematisiert Reed die schreckliche Erfahrung. Den von Ärzten seinem Nervensystem zugefügten Schaden spiegelt er mit einer handvoll psychotisch inszenierter Jazzrocksongs wie „Follow The Leader“ (von „Rock’n’Roll Heart“ 1976) oder „Kicks“ („Coney Island Baby“ 1975). Besonders letzteres ist eine künstleriwsche Meisterleistung. Textlich entführt er den Hörer zu einer Cocktailparty, auf der sich zwei Besessene unterhalten; einer ein Serienmörder, der andere ein im Verlauf ausrastender Möchtegernkiller. „Wenn das Blut den Hals hinabrinnt, ist das nicht besser als Sex?“.

 

Getrost darf man Lou Reed nicht nur dewegen als – neben Bob Dylan – ersten großen Geschichtenerzähler des Rock bezeichnen, der statt Phrasen echte Beobachtungen und erdachte Szenarien auf literarischem Shortstorieniveau serviert. Wer die Kaputtheit von Hubert Selbys „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ samt Raymond Chandlers Hardboiled-Krimis zum Rocksong eindampft, erhält zwangsläufig ein Lou Reed-Lied. Geschickt wechselt er die Perspektiven vom eingebundenen Ich-Erzähler bis hin zum gleichgültig-zynischen Beobachter, hinter dem in Wahrheit ein unbedingter Romantiker steht.

Allein was Reed, der stets so verwachsen mit dem Big Apple wirkte, als habe man New York City nur seinetwegen um ihm herum erbaut, in den 70ern auftischte, offenbart mehr authentische Hartgesottenheit als die meisten heutigen Gsngstarap-Acts zusammengenommen. Dabei sparte er sich nicht aus und litt selbst viele Jahre unter Alkoholsucht, die er mit Drogenexzessen von Meth bis Heroin kombinierte. Zwei Alben jener Dekade braucht man unbedingt. Zunächst den legendären „Transformer“ von 1972. Gemeinsam mit David Bowie realisiert er dieses nahezu dokumentarische Werk über Warhols Factory-Szene voller Künstler, Transen, Stricher, Models und Schauspieler und zeichnete damit ein ebenso drastisches wie sensibles Bild amerikanischer Subkultur, zusammengeschweisst in ihrem Reigen aus Liebe, Eifersucht, Neid, Ergebenheit, Kreativität, Destruktivität und unbedingtem Individualismus. Bowie, der Reed seit jeher bewunderte und lebenslang ein enger Freund blieb, übernahm Produktion, Hintergrundgesang und packte zwischendurch sogar eine niedliche Blockflöte aus. Die beiden Singles „Walk On The Wild Side“ und „Perfect Day“ avancierten zu Kulthits. Besonders die weltbekannte Basslinie aus ersterem ist eine der meistgesampleten Tonspuren überhaupt. Ein Jahr später folgt „Berlin“, dass weitgehend als traurigstes, deprimierendstes Rockalbum aller Zeiten gilt. Die Zutaten bestehen aus Prostitution, häuslicher Gewalt, Drogensucht und Selbstmord. Damals von Kritik verrissen und kommerziell gefloppt, gilt es heute als absoluter Meilenstein. Zu Recht! Gemeinsam mit Edelproduzent Bob Ezrin (u.A. Alice Coopers „Welcome To My Nightmare“ oder Pink Floyds “The Wall“) entwickelt Reed eine schwarztraubige Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann.

Schon für „Caroline Says II“, eine wunderschöne, wehmütige Ballade, bei der erkennbar Nico Pate stand, lohnt sich das Hören.

 

Daneben sollte man einzelne Tracks nachfolgender LPs nicht verpassen. Große Gefühle zeigt Reed auf „You Wear It So Well“ und dem feministischen „Ladies Pay“. „Ride Sally Ride“ und „Sally Can’t Dance“ erzählen von einer Vergewaltigung, Absturz und der später folgenden Rache des Mädchens an ihren Peinigern. Doppelbödig impft er der Geschichte eine Zusatzebene voller Anspielungen auf die tragische Geschichte Edie Sedgewicks, die als Pop-Ikone der Factory Weltruhm erlangte und kurz darauf an Drogen und Depressionen zugrunde ging. „Street Hassle“ erzählt in büffelknochentrockene elf Minuten ein weiteres Reedsches Großstadtdrama von der Gotham-Seite New Yorks. Mit an Bord: Der leidenschaftliche Reed-Bewunderer Bruce Springsteen, der sein berühmtes „Born To Run“ Zitat abwandelt zu „Tramps like us,baby, we were born to die.“ Als ebenso großartig entpuppt sich das sinistre Titelstück vom 1979er Werk „The Bells“. Wem der Sinn eher nach absoluter Abrissbirne steht, greife zur Lärmorgie „Metal Machine Music“. Damals Lous Schachzug, seinem Label zu entkommen, wurden für das unhörbare Inferno längst Partituren geschrieben, die klassische Orchester interpretieren. Hochkultur, geboren aus berechtigter Verachtung und Subversion!

 

Danach kann man die 80er weitgehend vergessen. Mit „The Blue Mask“ und dem sympathischen Klopper „Average Guy“ gelingt ihm lediglich ein gutes Album. Das ändert sich erst zum Ende der Dekade. „New York“ glänzt als superbes Gemälde und packende Momentaufnahme seiner Stadt sowie der US-Gesellschaft. Neben vielen schicken Rocknummern sollte man vor allem das sensitive „Last Great American Whale“ nicht verpassen. Es ist ein symbolistisches Lied voller Mystik, in dem Reed der nativamerikanischen Kultur Respekt, Zuneigung und Solidarität im Kampf gegen deren Entrechtung zollt. Mit „Songs For Drella“ gestaltet er hernach zusammen mit dem alten VU-Weggefährten John Cale eine grandiose Hommage an den mittlerweile verstorbenen Andy Warhol. Die Arbeit mündet sogar in einer kurzlebigen VU-Reunion samt Tour. Wer anno 1993 deren Konzert in Hamburg sah, wurde Zeuge eines Ereignisses, das zeitlebens seltener vorkam als die Rückkehr des Halleyschen Kometen: Die Streithähne Reed und Cale lächelten einander auf der Bühne an. Daneben entwickelte sich Lous Soloplatte „Magic And Loss“ für die 90er als das, was Bowies „Blackstar“ für das Postmillennium bedeutet: Ein Requiem für die Unvergänglichkeit der Vergänglichkeit allen menschlichen Lebens.

 

Bevor selbiges für Lou Reed 2013 im Alter von 71 Jahren zu Ende ging, fand er tatsächlich jene innere Ruhe, die er seit frühester Jugend missen musste. Durch Tai-Chi, der chinesischen Kampfkunst des Schattenboxens, erlangte er nicht nur ausgeglichenen Gleichmut, sondern wurde darin sogar zu einer anerkannten Größe inklusive erwiesenen Respekts durch Fachmagazine der Martial Arts-Szene. In der seit 1992 tiefen Liebesbeziehung zur nicht minder großen und freigeistigen Künstlerin Laurie Anderson offenbarte sich alles, was er seit den Tagen seiner unsteten Affäre mit Nico in den Sechzigern anscheinend vergeblich suchte. Auch Reeds zeitlebens große Verbindung und innige Zuneigung zu Hunden verband Lou mit Laurie. Die Lücke, die sein Tod in der Rockmusik hinterließ, konnte seitdem nie geschlossen werden. Schlussendlich sollte er auch hier Recht behalten: „Es wohnt ein bisschen Magie in fast allem. Und etwas Verlust, um die Dinge aus zu gleichen.“

 

 

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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