Letzte Ausfahrt Blues

Mit Tom Waits feiert einer der besten wie kauzigsten Songwriter der letzten fünfzig Jahre heute seinen 70sten Geburtstag. Ein Porträt von Ulf Kubanke in unserer Hörmal-Kolumne


Bremen am 26. April 1977: Tom Waits befindet sich auf seiner allerersten Europatournee und macht in deren Rahmen für zwei Gigs einen Abstecher nach Deutschland. Hier ist er dem Publikum noch vollkommen unbekannt. Gleichwohl zieht er die zunächst eher höflich interessierten Besucher der damals angesagten Post-Aula binnen weniger Minuten wie ein Magier in seinen Bann. Im Trend liegen gerade Disco, Hardrock, Progrock und Punk. Doch der Mann am Piano lockt seine Zuhörer in seine anachronistische Fantasiewelt heruntergekommener Gassen und Hinterhöfe zwischen den 30ern und den 50er Jahren. Er ist ein Geschichtenerzähler von der falschen Seite der Stadt, wo es mehr Blüten als Jungfrauen gibt und Käuflichkeit die Nächte regiert. Er fabuliert von Träumern, Verlierern, kleinen Gaunern, Seemännern und gefallenen Mädchen, deren aufgedonnerte Schönheit sich selbst im Licht schummriger alter Laternen als eine unter dickem Makeup verborgene Lüge entpuppt.

Seine Stories haben etwas von Jack Kerouac, Charles Bukowski, einem Mark Twain der Gosse und Hubert Selby. Angelehnt an letzteren kann man Waits musikalische Ausrichtung getrost als „Letzte Ausfahrt Blues“ bezeichnen. Egal ob er diesen in flirrenden Jazz taucht, unter schrägen, teils selbst gebauten Instrumenten versteckt, mit anderen Stilen kombiniert oder in perlende Pianoballaden einbettet: Der Blues ist immer präsent. Das ohrenfälligste Markenzeichen des Kaliforniers ist jedoch seine knarzende Reibeisenstimme, ein Organ, neben dem sogar berühmte Rauhkehlen wie Joe Cocker & Co. so brav klingen wie Chorknaben. Mit diesem Timbre behält er trotz grimmen Humors, Sarkasmus und einem Händchen für Tragik stets den liebevollen, sehr mitfühlenden Blick des Romantikers auf seine gebeutelten Figuren bei. All diese scheiternden Gestalten bedeuten ihm viel. Nie gibt er sie der Lächerlichkeit preis.

Songwriterisch bewegt sich der gebürtige Thomas Allan Waits seit einem knappen halben Jahrhundert durchgehend auf höchstem Weltklasseniveau. Es gibt kein einziges schlechtes oder mediokres Waits-Album. Ähnlich wie Großmeister-Kollegen à la Leonard Cohen scheint er über ein Füllhorn nicht enden wollender Melodien zu verfügen, deren tief berührende Intensität niemanden kalt lässt, der ein schlagendes Herz hat. Nicht umsonst coverten etliche Superstars Stücke von Waits und erzielten damit große Hits. Bruce Springsteens beliebtes „Jersey Girl“ etwa stammt im Original von Waits. Er schrieb es für seine Frau Kathleen. Rod Stewart schnappte sich mit „Downtown Train“ und „Tom Traubert’s Blues“ gleich zwei Nummern des Amerikaners und feierte damit weltweit Charterfolge. Auch der Eagles-Kultsong „Ol‘ 55er“ erblickte bereits 1973 als überhaupt erste Waits-Single das Licht der Welt. Anders gesagt: Zwar ist nicht jeder mit Toms Platten vertraut, doch kennt fast jeder dessen Musik.

Das überbordende Talent für große Songs und hochklassige Arrangements zeigt sich von Beginn an. Bereits seine ersten beiden LPs „Closing Time“ und „The Heart Of Saturday Night“ strotzen vor bärenstarken Stücken. Waits Stimme klingt hier noch nicht ganz so apokalyptisch kaputt. Das mindert die Ausstrahlung von Liedern wie „Grapefruit Moon“, „San Diego Serenade“, „Virginia Avenue“, „New Coat Of Paint“ oder „Martha“ indes kein bisschen. Als besonderer Anspieltipp empfiehlt sich der „Ice Cream Man“, die launige Nummer über einen Eisverkäufer, der nebenbei die Damenwelt der Nachbarschaft in amouröse Abenteuer verwickelt. Brillant, wie Waits den verträumten Beginn seines spieluhrartig angeschlagenen Pianos zum lausbübischen Uptempo des Verführers umwandelt. Damals erwiesen sich beide Alben gleichwohl als ebenso großer Flop wie Waits‘ Gastspiel im Vorprogramm Frank Zappas, wo Welten aufeinander prallten, die wenig gemein hatten. Heute genießen beide Frühwerke bei Fans wie Kritikern verdient hohe Achtung und verkauften sich im Lauf der Jahre weit über hunderttausend Mal.

Wer die Essenz von Waits‘ Oeuvre aufsaugen möchte, kommt an drei Trilogien nicht vorbei: Auf „Small Change“, „Foreign Affairs“ plus „Blue Valentine“ perfektionierte er von 1976-78 zunächst jene Kunstfigur des Schluckspechts, Lebenskünstlers und Stadtstreichers, die nicht wenige Fans und Medien lange Zeit irrtümlich als realen Tom missdeuteten. Ebenso verkannten viele, welch ein hervorragender Sänger er ist. Das gelegentlich scheinbare Lallen oder Krächzen bettet er mit perfektem Sinn für Timing wie Tonlage ins Gesamtkonzept ein. Die fröhliche Scatnummer „Pasties And A G-String“ veranschaulicht dies eindrucksvoll. Als charmanten Referenzsong dieser Phase sollte man das berühmte „Tom Traubert’s Blues“ – von Fans meist schlicht „Waltzing Mathilda“ genannt – nicht verpassen.

Ein paar Jahre später folgt mit „Swordfishtrombones“, „Rain Dogs“ und „Frank’s Wild Years“ das nächste gewichtige Trio. Alles klingt schräger, roher und ein wenig, als hätte Waits mit Kurt Weill und Bert Brecht gejammt. Stattdessen tauchte 1985 Keith Richards auf, packt die Gitarre aus und angelt sich Tom für die folgende Rolling Stones-LP „Dirty Work“, wo jener auf der Hitsingle „Harlem Shuffle“ das Klavier übernimmt. Ultimatives Markenzeichen dieses Abschnitts ist der „Downtown Train“. Ein verliebter Habenichts aus dem miesesten Viertel wartet nach Sonnenuntergang vergeblich auf das verwöhnte Mädchen aus reichem Hause, für das er lediglich ein Spielzeug und flüchtiges Abenteuer war. Mit dem grandiosen Schwarzweißvideo hierzu gelingt ihm eines der künstlerischsten Werke der frühen Clipkultur, und er landet damit sogar in der MTV-Rotation.

Zwischen 1993 und 2002 erscheinen mit „The Black Rider“, „Alice“ sowie „Blood Money“ drei weitere Schwergewichte. Allesamt musikalische Umsetzungen von Theaterstücken Robert Wilsons, die am Hamburger Thalia-Theater aufgeführt werden. Der „Black Rider“ interpretiert mit Gaststar William S. Burroughs die Handlung des „Freischütz“, „Alice“ landet anstelle des Wunderlandes auf der Reeperbahn. Die dritte Scheibe behandelt Büchners „Woyzeck“. Waits deutsche Phase bringt seine humoristische, schelmische Seite intmitten aller Dramen mitunter recht deutlich zum Ausdruck. Wenn etwa der Teufel im „Black Rider“ sein zu verführendes Opfer fürsorglich im Wald vor rostigen Nägeln und Scherben warnt, weil selbst Luzifer machtlos gegen Umweltverschmutzung ist, kann man sich ein Grinsen kaum verkneifen. Ebenso augenzwinkernd gerät seine Hommage an die Deutschen samt Fantasiesprache im groovenden „Kommienezuspadt“: „Leichenfleisch, Rügenpär, kommienezuspadt, sei punktlich!“

Auch live bietet das Unikum zwischen den Liedern Seemannsgarn zuhauf und bezieht die Zuschauer oft ein. Waits: „Hey, welchen Song wollt ihr gleich hören?“ Natürlich rufen alle gleichzeitig ihren jeweils persönlichen Favoriten heraus. Waits trocken: „Ok, wenn ihr euch nicht einigen könnt, mache ich einfach mit der Setlist weiter.“ Doch nicht nur auf der Bühne zeigt sich sein schauspielerisches Talent. In Filmen glänzte er bereits an der Seite von Jack Nicholson, Jack Lemmon oder Anthony Hopkins. Großartig spielt er in Jim Jarmuscha „Down By Law“ oder als Renfield in Coppolas „Dracula“ auf. Sogar Robert Redford zeigt sich angetan und besetzt ihn 2018 für seinen letzten Film „Ein Gauner und Gentleman“ in tragender Nebenrolle. Das absolut schönste Filmerlebnis mit Tom bietet jedoch der Kurzfilm „Coffee & Cigarettes“ (ebenfalls Jarmusch), in dem er den ebenso knuffig aufspielenden Iggy Pop innnerhalb einer knappen Viertelstunde komplett verstört.

Schlussendlich kommt man nicht umhin, den Mann aus Pomona als einen der besten Balladen-Komponisten aller Zeiten zu preisen. Auf jeder Scheibe finden sich ein bis drei sanft wogende Hochkaräter, die das ganz große Gefühl samt Träne im Knopfloch beim Hörer herauskitzeln. Diese These ist dem Beweis durchaus zugänglich. Man führe sich nur einmal folgende vier Lieder hintereinander zu Gemüte. In „Invitation To The Blues“ („Small Change 1976) schenkt ein Tramp der emotional ausgebeuteten Drugstore-Kassiererin sein Ticket, damit sie von ihrem fiesen Sugardaddy loskommt.

„Ruby’s Arms“ (vom superben „Heartattack & Vine“ 1980) verkörpert das ultimative Requiem für sterbende Zweierbeziehungen.

„On The Other Side Of The World“ („Night On Earth“-Soundtrack 1992) verführt als melancholischer Walzer samt eines einbeinigen Priesters in einem Dörfchen, in dem alle Menschen nur darin übereinstimmen, Clowns zu hassen.

Spätestens wenn man danach das berückende Pianothema von „Broken Bicycles“ („One From The Heart“-Soundtrack 1982) vernimmt und Tom seine Liebe zur Exflamme mit jenen zerbrochenen Rädern vergleicht, die draußen im Regen vor sich hinrosten, bleibt man zutiefst gerührt zurück.

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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