Ein Roman des Jahres – Gemma Habibi von Robert Prosser
Ein aktuelles politisches Thema – das geht in der Literatur fast immer schief. Doch „Gemma Habibi“ brilliert als Sportroman ebenso wie als Geschichte von Flucht und Vertreibung. Und selbst die Liebesgeschichte wirkt nicht aufgesetzt. Die Literaturkolumne von Sören Heim
Robert Prosser hat 2012 meine ersten Gedichte in einer größeren Literaturzeitschrift publiziert. Der Mann versteht was von Literatur, dachte ich mir – den musst du lesen, als ich nun über einen Roman des Autors stolperte. Da kann man sich natürlich auch ordentlich in die Nesseln setzen. Und ob große Erwartungen dem Bewertungsmaßstab einer Rezension zuträglich sind oder abträglich – ich schwanke da noch immer.
Zum Glück lässt Prossers Gemma Habibi den Leser nicht lange schwanken. Bzw. stark schwanken mit dem Boxer Lorenz im Ring, in einem Eröffnungskapitel, in dem wirklich jedes Wort sitzt. Das Tempo, der Rhythmus, der Satzbau, alles passt zur Vorstellung eines Boxers mitten im Kampf. Die Wortwahl passt ebenso, die Art der Beschreibung, die Atmosphäre, alles legt einen Autor nahe, der entweder selbst boxt, gut recherchiert hat oder es zumindest versteht, dem Leser das vorzugaukeln (denn wie es letztendlich gelingt, eine Geschichte überzeugend zu erzählen, kann uns Lesern egal sein, wen es aber dennoch interessiert: Prosser boxt).
Doch so ein Intellektuellenroman?
Ich war fast ein wenig enttäuscht, dass der Erzähler im zweiten Kapitel dann als Student enthüllt wird, und erstmal zu einer Bildungsreise nach Syrien (vor dem Krieg) antritt. Es gibt doch schon so viele von diesen Intellektuellen-Geschichten, die ein Milieu mal wieder nur von außen erschließen, ich habe grade eine längere Meckerkolumne darüber geschrieben. Doch entscheidend ist, was hinten rauskommt. Und über das syrische Kapitel lässt sich wiederholen, was über das Boxerkapitel gesagt wurde: Wortwahl, Rhythmus, Satzbau: Alles passt auf die neue Situation.
Keine Sorge, ich werde den Roman jetzt nicht Kapitel für Kapitel bewerten. Darum geht es:
Lorenz studiert im Nebenfach Soziologie, zu Studienzwecken schließt er sich einem Boxclub an. Bereits 2011 hat er Syrien bereist. Ein Bekannter von dort findet ihn 2015 in Wien wieder. Z., syrischer Kurde, will Profiboxer werden. Und Lorenz wurde vom Boxen mittlerweile so eingefangen, dass er (berechtigt) von Landesmeisterschaften und Olympiateilnahmen träumen kann. Soziologie macht er derweil zum Hauptfach. All das ist eingebettet in die Entwicklungen des syrischen Krieges und die Ankunft zahlreicher Fliehender in Wien 2015ff.
In allen Teilbereichen gelungen
Und was wirklich beeindruckt: Der Roman funktioniert als Sportroman. Der Roman funktioniert als Geschichte von Flucht und Vertreibung. Der Roman funktioniert als Studentenroman über einen jungen Mann, der sein Leben radikal ändert. Und sogar die Liebesgeschichte im Roman funktioniert, ohne dass es kitschig wird oder man den Eindruck bekommt, dass sei nun eben noch ins Buch gerutscht, weil von Seiten der Marketingabteilung halt eine Liebesgeschichte verlangt wurde. Kurz: Was sich im Kleinen andeutete, setzte sich im Großen fort. Die Spannungsbögen greifen ineinander, die Figuren sind runde Figuren mit entsprechenden Schwächen, nicht, wie man es gerade im Bereich Literatur über Flucht und Vertreibung zu oft erlebt, Thesenpapiere, denen man einen Namen gegeben hat. Über eine einzige Passage bin ich gestolpert, die eher gezwungen wirkt, als habe Prosser alle Seiten zum Flucht-Diskurs mal schnell in einen Absatz packen wollen:
Wir erzählten von unserem Aufeinandertreffen, schnell kam das Gespräch auf die Vertriebenen des Syrienkrieges, die in immer größerer Zahl nach Mitteleuropa gelangten. Das wird uns noch das Genick brechen, so Tom, es sind so viele, das packt unser Sozialsystem nicht. Man muss helfen, keine Diskussion, brachte Shanti jenes Argument vor, das ebenso wie die Angst vor dem Zusammenbruch staatlicher Organisation oft zu hören war. Kriegsflüchtlingen muss geholfen werden, meinten die einen, und die anderen befürchteten, von der Masse an großteils jungen Männern erdrückt zu werden. Überhaupt, warum haben sie ihre Frauen zurückgelassen?, fragte Melek, wer kämpft eigentlich in Syrien, wenn alle Typen abhauen? Blödsinn, rief Ricki dazwischen, das Ganze ist eine Verschwörung der USA, um die EU ins Chaos zu stürzen.
Ansonsten entwickelt sich dieses Buch durchgehend ganz aus der Geschichte bzw. den Geschichten heraus, berührt relevante gesellschaftliche Fragen erzählend, kommt gänzlich ohne aufdringlichen Essayismus aus. Die Struktur ist dabei durchaus komplex, es wird zwischen mehreren Zeitebenen gesprungen, wobei sich jeder Sprung als Erinnerung oder Erzählung aus der vorherigen Ebene ergibt, so dass viele Leser die Komplexität ganz überlesen dürften. Und dann ist Gemma Habibi auch noch kurz. Das dichte Handlungsgeflecht entfaltet sich, ohne dass dabei irgendein Strang leiden müsste, auf gerade knapp 200 Seiten. Ja, manchmal hat man Glück mit einer aus doch eher willkürlichen Gründen getroffenen Leseentscheidung. Gemma Habibi von Robert Prosser dürfte eines der Bücher des Jahres sein. Und es ist einer der ganz wenigen betont ein aktuelles Thema aufgreifenden Romane, der das nicht mit Bravour vor die Wand fährt.
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