Weil es nicht ohne Hobbits geht? Der gebildete Vermittler in der deutschen Literatur

Martin Beckers Marschmusik kann als symptomatisch dafür stehen, warum in Deutschland die Kluft zwischen „E“- und „U“-Literatur so unüberbrückbar erscheint. Der Roman ist trotzdem relativ gut.


Bald endet die Kohleförderung in Deutschland. Und damit das Leben unter Tage. Dann ist im Ruhrpott Schicht im Schacht. Und es bleiben nur noch Erinnerungen: an den wortkargen Vater und die Abende mit Bier, Schnaps und Marschmusik aus dem Küchenradio

Martin Beckers Marschmusik kann als symptomatisch dafür stehen, warum in Deutschland die Kluft zwischen „E“(ernster)- und „U“(nterhaltungs)-Literatur so unüberbrückbar erscheint. Der Verlag bewirbt „eine Geschichte vom Erwachsenwerden, ein Buch über die magische Welt des Kohlebergbaus und über die verführerische Kraft der Finsternis unter Tage“ – einen Ruhrpottroman also, einen Roman aus einem Arbeitermilieu, bzw. einem verschwindenden, und notwendig verschwindenden, Arbeitermilieu. Ein zeitgemäßes Thema, eine spannende Welt. Auch ein Thema, das viele Menschen geradezu handfest anziehen könnte.

Und dann folgen wir auf den ersten Seiten dem Protagonisten zurück (natürlich zurück!) in den Pott. Wir erfahren, dass er sich in Brooklyn durchgeschlagen hat, von seinen Reisen durch die weite Welt, erfahren, dass er weiß, „worüber in Intellektuellenkreisen zu reden ist“, usw. usf. Kurz: Es spricht ein Schriftstellertyp, mal wieder, ein Autoren-Alterego, und dessen Blick wird uns durch den Pott geleiten.

Der gebildete Vermittler in der deutschen Literatur

Ich möchte, ehe ich spezifisch auf das Buch eingehen, eine allgemeine Frage in den Raum stellen:

Warum?!

Wenn es nur mal dieser oder jener Roman wäre, bei dem es besonders gut passte. Aber all zu oft, wenn die deutsche „E“-Literatur „bodenständige“ Themen angeht, macht sie das, gerade wie Tolkien mit seinen Hobbits in Der Herr der Ringe, indem sie solche Vermittlerfiguren erschafft. Nicht vom Dorfleben einfach erzählen etwa auch Juli Zeh und Jan Bötcher, sondern vom gebildeten, leicht schnöseligen, Großstädter, der sich im Dorf niederlässt. Und hängen damit einen Gutteil der Leser, die vielleicht keine Lust haben, schon wieder den Selbstzweifeln und Selbstfindungsversuchen elitärer Irgendwas-mit-Medien-Studenten zu folgen, von Anfang an ab. Gewiss, die Schriftstellerei ist derart gelagert, dass sie wahrscheinlich immer in der Mehrheit von solchen Menschen verfasst werden wird: Studierte, irgendwas mit Medien. Leute wie uns zieht es zur Arbeit an der Sprache. Mittlerweile sogar häufig: Studierte der Schriftstellerei. Und hinzu kommt, dass gerade berühmte Schriftsteller irgendwann die Welt eben nur noch als Schriftsteller erfahren. Und dann schreiben sie eben übers Schreiben, Preise, Empfänge. Aber es ist doch nicht prinzipiell verboten, sich in ein Milieu oder gar einen bestimmten Ort einzuarbeiten und dann direkt aus dem Milieu heraus zu erzählen. Man stelle sich vor, John Updike hätte seine Rabbit-Romane aus der Perspektive dessen alten Kumpels erzählt, der in Berkeley Literatur studiert hat. Oder Cormack McCarthy würde für seine rauen Western (von oft überraschender Sensibilität) immer erstmal einen Schriftsteller in den Westen schicken! Welchem literarischen Niveau würde man sich da zwangsläufig annähern? Genau: Karl May.

Nochmal: „Intellektuellenromane“ sind nicht per se schlecht. Die Kritik gilt deren Massung, und besonders der entsprechenden Vermittlerfigur als Allheilmittel für Vermittlungsschwierigkeiten.

Der „so und nicht anders war es“ – Fetisch

Mir scheint, das ist nicht mal Elitendünkel. Hier schwingt eine Form der generellen Angst vor falscher Repräsentation mit, die heute in vielfältiger Weise die geisteswissenschaftlichen Fächer prägt. Ich kann doch nicht einfach aus der Perspektive der Arbeiter über den Pott erzählen, als wüsste ich, wie das ist, so ein Leben als (Ex-)Kumpel. Das wäre doch anmaßend!

Aber: Die Wahrheit des Fiktiven ist nicht die des Faktischen „so und nicht anders war es“. Und ist es auch durchaus richtig, dass Fiktion ihr Verhältnis zum Faktischen reflektiert, gibt es doch viele andere Wege, den Eindruck unmittelbarer Schilderung zu brechen, als den des „Beobachter von außen erzählt“. Sich widersprechende Perspektiven zum Beispiel. Brüche in der Zeitstruktur der Erzählung. Montage. Übertreibung. Untertreibung. Zahlreiche Möglichkeiten, die sich nicht nur oft besser lesen als die typisch deutsche intellektuelle Selbstbespiegelung, sondern das Ziel auch überzeugender erreichen. Denn der Roman des Typus „Studierter kehrt zurück in nicht studentisches Milieu“ unterläuft die Erwartung, ein Text erzähle die ungeschminkte Wahrheit, gar nicht, sondern verschiebt die Wahrheitsbehauptung nur ins persönlich-biographische.

Der Roman selbst ist lesenswert

Marschmusik ist im Subgenre der Studierte-beschäftigen-sich-mit-Nichtstudierten-Milieus-Romane dann allerdings tatsächlich einer der besseren. Die Figuren sind überzeugend gezeichnet. Die leicht demente Mutter, der mittlerweile verstorbene, in sich gekehrte, Vater, dessen abgestürzter Kumpel Hartmann. Alle haben ihre Ecken und Kanten, ohne dass auf sie herabgesehen würde (warum aber werden Geschwister eingeführt, und dann nicht entwickelt?). Die Stimmung von Melancholie und Abwehr gegen die Heimat, die der Erzähler ein paarmal zu oft versichert, nicht zu hassen, ist vielleicht manchmal etwas dick aufgetragen, ansonsten aber durch den ganzen Text hindurch gut nachfühlbar. Besser als die Ich-laufe-durch-die-Welt-und-führe-reale-und-fiktive-Dialoge-mit-der-Vergangenheit-Passagen sind allerdings die Rückblicke auf das frühere Leben des Vaters, das geschickte Werben der Mutter um den Vater, all die Passagen, die tatsächlich in der dritten Person erzählt sind. Immer wieder muss man dabei leider Schreibschulenprosa ertragen, die sprachliche Effekte nur noch dadurch zu erzielen weiß, dass sie möglichst detailliert, vor allem in gereihten Hauptsätzen, beschreibt:

Nicht dran denken, nicht jetzt. Noch drei Takte. Der Dirigent wirft einen Blick in meine Richtung. Zieht die Augenbrauen hoch. Lächelt. Jemand im Publikum niest. Das Orchester verstummt. Alles hört auf mich. Mein Solo. Der erste Ton ist schwierig. Meine Lippen zittern. Ich treffe den Ton nicht. Es klingt seltsam. Aber niemandem fällt es auf.

Eine zwingende, vom Material ausgehende sprachlich-formale Gestaltung hat der Leser nicht zu erwarten. Das sind wohl Ecken und Kanten, die sich der Betrieb, spätestens seit dem Tod Kurzecks, endgültig abgeschliffen hat (Ausnahme: Ursula Röckel).

Marschmusik ist, trotz einiger Schwächen, durchaus lesenswert. Wenn man Lust hat auf eine weitere dieser Rückkehr-Geschichten. Ich würde mir von deutschsprachigen Literaten wieder mehr Mut wünschen, sich ohne Vermittlergestalten in Geschichten hinein zu begeben, und auf der anderen Seite jene Techniken wieder zu entdecken, die tatsächlich den Fetischen der Authentizität und Identität etwas entgegensetzen können. Aber das wird wohl (in der Breite) ein Wunschtraum bleiben.

Sören Heim

Sören Heim ist Journalist, Übersetzer und Schriftsteller. Er ist Träger des kosovarischen Preises für moderne Dichtung „Pena e Anton Pashkut“ (Stift des Anton Pashku) und des Sonderpreises „Favorit von Daniel Glattauer“ der art.experience 2014. In HeimSpiel schreibt Sören Heim mit Heimvorteil zu den Schnittpunkten von Kunst, Kultur und Gesellschaftspolitik. Er beleuchtet die unerwartete Bedeutung ästhetischer Fragestellungen für zeitgenössische Debatten, die mit Kunst auf den ersten Blick kaum Berührungspunkte haben. Und wo immer, sei es in der Politik, sei es in der Ökonomie, sei es gar im Sport, er auf geballten Unsinn und Unverstand trifft, wagt der Kolumnist auch das ein oder andere Auswärtsspiel. Bisher erschien die Kolumne HeimSpiel im Online-Debattenmagazin The European. Daneben veröffentlicht Heim in mehreren Literaturzeitschriften vornehmlich Lyrik und dichte Kurzprosa, und bloggt auf der eigenen Homepage aus seinem Zettelkasten. Monographien: Kleinstadtminiaturen: Ein Roman in 24 Bildern. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154181.Cover nur Front Gewogene Worte: Nachdichtungen aus dem Chinesischen. edition maya: 2016 – ISBN: 978-3930758463.cover kathaStrophen. Experimente in Rhythmus und Melodie. Chiliverlag: 2017 -ISBN: 978-3943292541.FrontCover 2_bleu Algenhumor: Gedichte für das dritte Jahrtausend. Girgis Verlag: 2016 – ISBN: 978-3939154228.algen Audio-Exklusiv: La vie! La jeunesse! – Hörmordkartell 2017

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