Laszivität mit Schalldämpfer

In der Hörmal-Kolumne würdigt Ulf Kubanke eine der berührendsten Stimmen unserer Zeit. Mit rauchigem Timbre mischt die Belgierin Melanie De Biasio ihren sinnlichen Cocktail aus Soul, Blues und Triphop. Daneben ist die außergewöhnliche, recht dramatische Story ihres Werdegangs höchst lesenswert.


Ihre Musik perfektioniert den Rausch leisester Töne. Ihre Konzerte zelebrieren ein Königreich der Stille. Ihr aktuelles Album „Lillies“ strotzt vor samtener Erotik. Die Komponistin, Sängerin und Multiinstrumentalistin Melanie De Biasio ist sogar unter den außergewöhnlichsten Pflanzen im musikalischen Garten ein bessonderes Gewächs. Gleich einer Zauberin zieht sie den Hörer in den Bann ihrer magischen Aura.

Wer diese Ausnahmestimme erstmals vernimmt, denkt sicherlich nicht an eine eher zierliche, weiße Belgierien aus der nördlichen Hälfte Europas. De Biasios Organ erinnert viel eher an große afroamerikanische Ikonen wie Billie Holiday oder Nina Simone. Ihre Songs stecken voller Soul, Blues und Nachtjazz des amerikanischen Südens. Eine gehörige Kelle Trip Hop Marke Portishead komplettiert den süchtig machenden Sud.

Ausnahmslos alles in ihrem künstlerischen Kosmos wird auf dieses so intensive, rauchige Timbre zugeschnitten. Die Instrumentierung wirkt minimal und versprüht eine geradezu intime Atmosphäre. Der Clou in De Basios Arrangements besteht darin, dass gleichwohl recht oft eine Menge passiert. Allerdings mit Schalldämpfer! Lieder wie „With Love“ oder „I Feel You“ etwa könnten dem Naturell nach auch als deftige Stadionnummern inszeniert werden, ohne dass sich der Nerv des jeweiligen Songs entscheidend änderte. Doch De Biasios hypnotische Wirkung beruht gerade auf dieser fast aufreizend zur Schau gestellten Zurückgenommenheit. Nicht umsonst heißt es treffend: In der Ruhe liegt die Kraft.

Der Weg zu dieser absoluten Anmut war für die Wallonin jedoch lang und steinig. Zu Beginn ihrer Laufbahn war sie auf der Bühne nahezu das komplette Gegenteil ihrer heutigen Inkarnation. Derber, schriller und sehr lauter Jazzpunk war angesagt. De Biasio schickte ihre Stimme wie einen Sturm über die Bühnen der Welt. In Moskau passierte dann die Katastrophe. Mitten auf einer Tour diagnostizierte man bei ihr die Krankheit des sogenannten Lungenhochdrucks. De Biasios pflichtbewusster, so zuverlässiger wie verantwortungsbewusster Charakter ließ ein „Im-Stich-Lassen“ des Publikums nicht zu. Sie performte genau diesen einen Gig zu viel und verlor ihre Stimme.

Das Drama schien besiegelt. Über viele Monate herrschte keinerlei Gewissheit, ob sie überhaupt je wieder werde singen können. Wenig später wird klar, dass sie ihre Stimmbänder nie mehr im typisch lauten Gesang gängiger Showbizregeln präsentieren und belasten kann. Was bleibt einer Sängerin in so einem Fall? Nun, De Biasio blieb eine ganze Menge. Wo labilere Menschen womöglich ihr (Un)Heil in der Ablenkung durch Alkohol oder Drogen gesucht und sich in ausgewachsenen Depressionen verloren hätten, holt die Multiinstrumentalistin (u.A. Querflöte, Piano, Gitarre) im wahrsten Sinne des Wortes das Beste aus sich heraus.

Sie trainiert von nun an ihre Stimme anders und entwickelt eine Gesangstechnik, die absolute Gänsehautwirkung garantiert, ohne auf das volle Dezibel-Brett zu setzen. Ihre Entdeckung der Ruhe im Klangbild hilft ihr dabei, das eigene songwriterische und textliche Talent peu a peu so richtig zu entwickeln. Hand aufs Herz: Gibt es etwas Großartigeres als Schwächen und Behinderung in echte Stärken zu wandeln? Sicherlich nicht, erst recht nicht, wenn das musikalische Ergebnis so berückend ausfällt. Die Parallele De Biasios liegt auf derselben Ebene von Django Reinhardts grandiosem Gitarrespiel, der beim Zupfen das Fehlen einiger Finger kompensieren musste.

Nicht minder beeindruckend ist die künstlerische Bandbreite Melanie De Biasios, mit der sie die Freunde traditioneller Soul-, Jazz- und Blues-Balladen ebenso einsammelt wie trendy Clubgänger. Ihr Album „No Deal“ etwa existiert in zwei Versionen. Das Original klingt nach Taverne und Barroom. Die elektrische Variante „No Deal – Remixed“ setzt hingegen ganz und gar auf einen Sound, der auch in den Tanztempeln funktioniert. Die kumulative Methode zahlt sich für De Biasio spürbar aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Musikern ist sie keine Gefangene ihres Genres. Besonders in französischsprachigen Ländern ist es für sie mittlerweile normal, auf Jazzfestivals ebenso gern gesehen zu sein, wie auch vom breiten Poppublikum oder Triphop-Jüngern gefeiert zu werden.

Ein besonderes Projekt ist die EP „Blackened Cities“. Der über 20 minütige gleichnamige Song illustriert den Kahlschlag und die Tristesse ehemals florierender Industriestädte. Ihr Stück mausert sich zum überraschenden Charterfolg in Belgien. Und zwar hochverdient! Denn De Biasios authentischer Vortrag bewegt sich fernab von kalkulierter Rührseligkeit oder aufgesetzter Tränendrüse. Ihr Heimatort Charleroi, eine ehemalige Bergbaustadt – sowie ihre familiäre Herkunft – weiß ein Lied davon zu singen.

So gelungen De Biasios bisherige Platten auch waren: Die absolute Faszination entfaltet sich erst auf ihrem neuen Album „Lillies“ komplett. Es ging ihr hier ganz besonders darum, das absolute Gefühl, die totale Emotion musikalisch und lyrisch erklingen zu lassen. Deshalb zog sie sich zum Komponieren und Aufnehmen samt Band komplett zurück. Letzteres erscheint zunächst nicht besonders spektakulär. Machen es doch etliche Künstler in dieser Art. Doch die Wallonin geht noch einen Schritt weiter. Ein kleines, fensterloses und unkomfortables Studio bietet De Biasio den nötigen Resonanzraum, der es ihr erst ermöglicht, in den eigenen Tiefen der Seele nach musikalischem Gold zu graben. Das hat anscheinend gut geklappt. Die erschaffenen Lieder liefern dem Publikum einen lupenreinen Film Noir für die Ohren.

Ihre Nachtschattenlieder  – etwa das brillante Eröffnungsduo „Your Freedom Is The End Of Me“ oder “Gold Junkies“ – mäandern zwischen knisternder Sinnlichkeit, verführender Romantik, sexy Erotik und einer Prise Weltschmerz. In melodischer Hinsicht pointiert sie die Songs deutlicher. Teil des Reifeprozesses ist mutmaßlich auch die erst vor wenigen Jahren erfolgte Entdeckung von Mark Hollis (Talk Talk) bislang einzigem Soloalbum aus dem Jahr 1998. De Biasio: „Ich bin völlig fasziniert davon, wie er seine Geschichten und Kompositionen entwickelt. Als ich seine Musik entdeckte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, einer bestimmten Soundästhetik, ja einer Familie anzugehören. Das Erlebnis, quasi im Nachhinein auf so eine starke Wesensverwandtschaft zu treffen, ist für mich immer noch überwältigend.“

Ulf Kubanke

Ehemaliger Anwalt; nun Publizist, Gesprächspartner und Biograph; u.a. für Deutschlands größtes Online-Musikmagazin laut.de.

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