Faszination Suizid?
Thomas Macho hat ein Buch geschrieben, in dem er der Gegenwart eine zunehmende Suizid-Faszination bescheinigt. Jörg Friedrich hat es gelesen.
Selbstmord oder Freitod? Schon in diesen beiden verschiedenen Namen für die gleiche Handlung wird deutlich, wie unterschiedlich der Umgang einer Gesellschaft mit dem Akt der Selbsttötung eines Menschen sein kann. Thomas Macho vermeidet in seinem Buch „Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne“ beide Begriffe, er spricht lieber neutral vom Suizid.
Die Frage nach dem Suizid sei ein Leitmotiv der Moderne, diese These will Macho auf rund 450 Seiten belegen. Die ergänzenden 80 Seiten Anmerkungen und Literaturverweise zeigen, dass Macho sich auf umfangreiche Recherchen und intensives Quellenstudium stützt. Allerdings sucht man in den zitierten Werken fast ganz vergebens nach empirischen Studien zu Suiziden, nach soziologischen oder psychologischen Untersuchungen über Ursachen der Selbsttötung. Schaut man einmal in solche Studien, etwa in die viel zitierte Metastudie „Psychiatric diagnoses in 3275 suicides: a meta-analysis“ von 2004, so stößt man auf den Befund, dass in ca. 90% der Suizide in der Gegenwart mentale Krankheiten eine Rolle spielen. Dazu gehören vor allem die Depression und andere psychische Krankheiten, aber auch Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit.
Diese tatsächlichen Ursachen von Suiziden sind jedoch nicht Machos Thema. Macho geht es in seinem Buch gar nicht um die Frage, warum Menschen sich heute umbringen oder warum sie sich vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten umgebracht haben. Wer erwartet, dass Macho Ursachen für den Selbstmord in der modernen Gesellschaft sucht oder gar nach Wegen zur Verhinderung von Suiziden fahndet, wird enttäuscht. In seinem Buch findet man auch keine Beurteilung des Selbstmordes, weder wird dem Selbstmörder, noch seiner Umgebung ein Versäumnis zur Last gelegt oder eine Schuld zugewiesen.
Es geht Macho um etwas anderes, nämlich um den kulturellen Umgang mit der Idee des Suizids, es geht ihm darum, wie die Kultur die Idee, dass ein Mensch seinem Leben selbst ein Ende setzt, sieht, wie sie mit diesem Phänomen umgeht. Ihn interessiert, wie der Suizid in der Kunst, im Film, in der Philosophie diskutiert und dargestellt wird, er verfolgt die metaphorische Verwendung des Begriffs etwa in der Rede vom „Selbstmord der Menschheit“. Er verfolgt die Rolle und die Bewertung des Suizids im Verlauf des 20. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit Kriegen, mit dem Faschismus und der Judenverfolgung.
Wie verändert es eine Kultur, wenn sie sich von der Möglichkeit des Suizids faszinieren lässt, wenn sie ihn als eine „Selbsttechnik“ auffasst? Der einzelne Mensch in der Moderne macht sich selbst zum Gegenstand eines Entwurfs, er ergibt sich nicht seinem Schicksal sondern entscheidet selbst, wie er leben – und wie er schließlich sterben will. Zunehmend kommen wir also zu einem Selbstverständnis, aus dem heraus wir auch unseren je eigenen Tod selbst bestimmen und gestalten wollen. Das hat selbstverständlich Auswirkungen auf den Umgang mit dem „assistierten Suizid“, mit der „Sterbehilfe“, die Macho ebenfalls ausführlich diskutiert. Macho reflektiert die kulturellen Reflexionen des Phänomens des Suizids, sein Ziel ist eine Gesellschaftsdiagnose anhand der Rolle, die der Suizid im Diskurs der modernen Gesellschaft spielt.
Er unterscheidet zwischen Gesellschaften, die den Suizid ablehnen und verachten, und solchen, die vom Suizid fasziniert sind, und er konstatiert für die Moderne eine zunehmende Suizidfaszination. Ob die Zahl der Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, dabei tatsächlich zunimmt, ist für diese Diagnose nicht relevant, entscheidend ist, wie mit dem Motiv, mit der Idee des Selbstmordes umgegangen wird. Wird der Suizid verurteilt, oder wird er als legitim angesehen, als zulässige Option der Gestaltung des eigenen Lebens? Ist es dem Einzelnen überlassen, zu entscheiden, wann sein Leben endet?
Für die Moderne stellt Macho fest, dass es zu einer Neubewertung des Suizids kommt, die sich auf verschiedenen Gebieten beobachten lässt, in der Religion ebenso wie in der Philosophie, in der Kunst ebenso wie in der Politik. Wenn die moderne Gesellschaft das selbstbestimmte Leben propagiert, wenn mein Leben nicht dem Staat, nicht Gott, nicht einem Kollektiv und nicht der Familie, sondern mir selbst gehört, dann muss das letztlich auch für meinen Tod gelten – und dann muss die Gesellschaft und meine Umgebung auch klaglos akzeptieren, dass ich selbst entscheide, wie und wann es zu Ende geht.
Die größte Schwäche des Buchs benennt Macho am Ende selbst, wenn er im Nachwort Wittgenstein zitiert, der sich selbst als einen schlechten Führer bezeichnet hat, weil er seinen Gästen nicht zuerst die Hauptstraßen zeige, sondern sich leicht von interessanten Nebensächlichkeiten ablenken lasse. Was bei Wittgenstein als Koketterie durchgehen mag, ist für Machos Buch leider richtig. Allzuoft verliert er sein Ziel, seine großen Thesen zu belegen, ganz aus dem Blick, um sich in Nebensächlichkeiten zu verlieren, die auch interessant sein mögen, aber zum Anliegen des Buchs nichts beitragen. Da hätte man sich einen strengeren Lektor gewünscht, der dem Autor beim Streichen des Überflüssigen zur Seite gestanden hätte.
Machos Buch ist dennoch ein hilfreicher Beitrag zum Verständnis der modernen Kultur.
Seine These von der Suizidfaszination der modernen Gesellschaft mag überspitzt sein, aber die Frage, wohin es führt, wenn wir die Idee der Selbstbestimmtheit des Einzelnen zu Ende denken und eine Kultur etablieren, die den Suizid als Option akzeptiert, wird von Macho anregend diskutiert. Dabei wird auch klar: Die Moderne ist nicht die erste Gesellschaft in der Menschheitsgeschichte, die vom Suizid fasziniert ist, und deshalb kann die Akzeptanz des Freitods auch wieder durch eine Verurteilung des Selbstmords abgelöst werden.
Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne. Suhrkamp 2017.
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